AUFTOUREN: 2010 – Das Jahr in Tönen

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Frightened Rabbit „The Winter Of Mixed Drinks“ [2010; Fat Cat] |
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Es scheint, als würden Gitarrenbands aus Schottland immer nach dem gleichen Masterplan verfahren: Erst werden ein bis drei Alben veröffentlicht, die im Stillen von einer kleinen Menschenmenge abgefeiert werden, um dann spätestens mit Album Nummer vier die Welt mit einem Handstreich zu erobern – zumindest haben Biffy Clyro es so gemacht. Frightened Rabbit hingegen hätten eigentlich bereits mit ihrem dritten Werk, „The Winter of Mixed Drinks“, alle Macht an sich reißen müssen. Warum das letztlich nicht so richtig geklappt hat, bleibt jedoch ein Rätsel. An den Songs kann es jedenfalls nicht gelegen haben, als Beispiele seien da nur das hymnische „Swim Until You Can’t See Land“, das eigentlich auf jede selbstgebrannte „Best of 2010“-CD gehört, das auffällig lebensbejahende „Living in Colour“ oder der drängende Opener „Things“ genannt, die im Prinzip aber auch durch jeden anderen Song der Platte ersetzt werden könnten. Vielleicht war also einfach die Welt noch nicht ganz bereit für Frightened Rabbit – mit dem nächsten Album dürfte es dann aber endlich so weit sein. (Matthias Holz) |
39 |
Gisbert zu Knyphausen „Hurra! Hurra! So Nicht.“ [2010; PIAS | Rough Trade] |
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Die Texte, immer und immer wieder die Texte. Wer sich fragt, was Gisbert zu Knyphausen von der grauen Einheitsmasse aus Songwritern abhebt, endet früher oder später stets bei seinen Worten. Es sind die einfachen, die alltäglichen Momente, die er in wunderbare Poesie verwandelt: „Der Regen kommt und der Regen geht/ man geht ein Stück zu zweit und den Rest allein/ und was dann bleibt ist die Erinnerung an eine Zeit/ die so viel schöner war als jetzt/ hey, bitte nimm sie uns nicht krumm/ nimm die Erinnerung mit Dir, wenn du gehst/ sonst bleibt sie stumm“ („Dreh Dich nicht um“). Dazu die unaufgeregte, jederzeit stimmige Begleitmusik, die den Zuhörer so umgarnt, wie man es sonst nur von den Werken Elliott Smiths kennt. Und genau wie Smith ist auch Knyphausen ein Meister darin, seine Stücke mit einer ansonsten unvergleichlichen Dringlichkeit vorzutragen, ohne dabei jedoch gezwungen oder aufgesetzt zu wirken. Hoffentlich aber bleiben das die einzigen Parallelen zwischen den beiden. (Matthias Holz) |
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Owen Pallett „Heartland“ [2010; Domino] |
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Ja ist der. Der ist, ja. Der ist emanzipiert. Der ist frei von seiner Band. Der liebt seine Band noch, der ist mit den Rabauken unterwegs. Der geht heute aber allein. Der weiß, was er tut. Der weiß noch nicht wohin, vielleicht „Heartland“. Der sammelt das wohlklingendste Orchester hinter sich. Der braucht’s aber keine 46 Minuten. Der steht nicht immer vorne. Aber man kann den schon hören, auch wenn der sich versteckt. Und der holt gern weit aus. Der geht tief runter und weit rauf. Das ist aber neu, ein bisschen. Der wird doch nicht? Der zieht sein Shirt aus. Der macht Sachen! Da lächelt der und wechselt auf Dur, und wir sind hier noch Moll. Der lässt dich nicht zurück, der nimmt dein Herz. Der hat die Taschen voller Süßigkeiten. Wo bekommt man nur so große Taschen? (Sven Riehle) |
37 |
The Walkmen „Lisbon“ [2010; Cooperative | Universal] |
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Das betrunkene Stolpern aus der Eckkneipe. Mal wieder torkelnd durch die verregneten Seitengassen, die Verflossene in Gedanken. Es sind extreme Gefühlsschwankungen in jener Nacht, die einen zerreißen. „Victory right beside me, yeah!“, kurzzeitig glaubt man tatsächlich den Kampf gewonnen zu haben. Dann wieder diese unbarmherzige Leere. Die Flasche wird trotzig in Richtung des anschleichenden Dunkels geschwenkt – jaja, die Schatten der Vergangenheit. The Walkmen legen mit „Lisbon“ ihr reifstes und anspruchsvollstes Werk vor, das Spiel mit spärlichen Wutausbrüchen und Stille wurde perfektioniert. Und dann haben sie mit Hamilton Leithauser ja noch sowas wie die indierockige Variante zu Sven Regener: „You don’t want me/ You can tell me/ I’m the bigger man here/ Oh it’s true/ You’re all pretty now/ Than the last time.” Musik für Geschiedene. (Pascal Weiß) |
36 |
Big Boi „Sir Lucious Left Foot: The Son Of Chico Dusty“ [2010; Def Jam | Universal] |
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Dem Hip Hop geht es – wie auch an dieser Liste zu erkennen – maximal mittelprächtig. Ein Grund mag in der Nutzung des Rezeptes „Hip-Hop + Pop + leichter Elektroeinschlag = Charthit“ liegen, das einfach zu oft verwendet wurde. Auch Big Boi bleibt nicht stur bei seinen Southern-Wurzeln, alleine die opulente Gästeliste (u.a. Jamie Foxx, Janelle Monáe, Too $hort) verhindert dies. Doch er hält die Zügel stets in der Hand und sorgt für einen roten Faden. Gleichzeitig wird nicht zuletzt beim Überflieger „Shutterbug“ klar, dass „Sir Lucious Left Foot“ auch ein Album für den Dancefloor ist. Big Boi spielt mit offenen Karten, wenn er dadurch signalisiert, dass er kein tiefgründiges Album abliefern, sondern allen aufstrebenden Neulingen in jeder Hinsicht zeigen wollte, wer der Chef im Ring ist. (Felix Lammert-Siepmann) |
35 |
Wild Nothing „Gemini“ [2010; Captured Tracks] |
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Wild Nothing sind eine der positivsten Erscheinungen im Spektrum der sich langsam brechenden Welle von Beach-Pop und Wave-Indie. Ein wunderbar eingängiges Erstwerk, das weder positiver Grundstimmung, noch junger Melancholie entsagen muss, um ein zielstrebiges Gesamtbild zu erzeugen. Das unscharfe Diafoto, der Sepialook, alles was momentan arty ist und wird, von Klarheit überholt. Verhallt, ungreifbar, dann wieder hell und wach. Dazu noch Hits wie „Chinatown“ oder „Daydream“. Dass Wild Nothing auch nach 2010 noch Bestand und Relevanz haben dürften, legt „Gemini“ nicht nur nahe, sondern bekräftigt Ansprüche, mehr zu sein, als der Tag am Meer oder eine Nacht im Club mit der 82er Holga. (Sven Riehle) |
34 |
These New Puritans „Hidden“ [2010; Domino] |
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Boom, boom, pow! Das hätte man denen gar nicht zugetraut. War auf dem Debüt noch Indierock mit leichtem Elektronik-Einschlag vorherrschend, eröffnen hier Blechbläser eine Zukunftsmusik, die sich gewaschen hat. Kraftvoll, pathetisch, unheilverkündend schlängelt sich nach der Overtüre „We Want War“ herein und bricht mit sämtlichen gängigen Post-Punk-Klischees. Beats jeglicher Farbgebung und Härtegrade mischen sich mit überlagernden Chören und wirken wie ein ganzes Oratorium. „Hidden“ hört aber danach nicht auf und so türmen sich mannshohe Klangwellen zu wirkungsvollen „Beinahe“-Songs und Mini-Opern. Und spätestens wenn dieses kurios-kosmische Album dann mit dem schlicht „5“ betitelten, aber musikalisch höchst anspruchsvollen Schlussstück ausklingt, möchte man eine ganze Sinfonie der Sterne anstimmen, mit solch vielfältigem, mutig ausgewählten Beiwerk ist das dann auch nicht weiter schwierig. (Carl Ackfeld) |
33 |
Future Islands „In Evening Air“ [2010; Thrill Jockey] |
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Mit einer kräftigen, grollenden Stimme wie der von Samuel T. Herring bleiben einem eigentlich nur zwei musikalische Karrierepfade: Hardcore-Gröhler oder erdiger Crooner, doch als Drittweg verbindet der Sänger von Future Islands die Physikalität der ersteren mit der souligen Tiefe der letzteren Berufung. Mal ist er der sanft raunende menschliche Fels inmitten eines Spannungsfeld aus ineinander verflochtenen Melodien, Noise- und Rhythmustexturen, mal lässt er seine inneren Unruhen in emotional überwältigender Katharsis raushängen. „In Evening Air“ ist roher, moderner Synth-Pop, dessen Herz und Seele unüberhörbar sind. (Uli Eulenbruch) |
32 |
Kanye West „My Beautiful Dark Twisted Fantasy“ [2010; Def Jam | Universal] |
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Spätestens seitdem die Höchstwertung bei den Kollegen von Pitchfork nur allzu erwartbare Entrüstungsstürme heraufbeschwor, ist zu diesem Mann wohl alles gesagt. Auf „My Beautiful Dark Twisted Fantasy“ ist ihm mal wieder kein Sample zu ausgelutscht, kein Hook zu billig um mit Milliardenetat und Starbesetzung durch alle Reihen der Popszene den größenwahnsinnigsten, unterhaltsamsten und schlichtweg großartigsten Mainstream-Blockbuster des Jahres abzuliefern. Hip Hop als Pop als State of the Art, Auto-Tune und Überlänge zum Trotz. (Bastian Heider) |
31 |
Liars „Sisterworld“ [2010; Mute] |
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Das Konzept der Liars ist erneut voll aufgegangen. Dieses Mal nicht Berlin, sondern Los Angeles: Die kaputten Parallelwelten in den vermufften Ghettos haben auch schon den Nährboden für Tom Waits und dessen 70er-Jahre-Überhit „Tom Traubert’s Blues“ geliefert. „Underground I’ve heard the footsteps of a girl/ Those sounds were close to paradise“ – was in “No Barrier Fun” auf seltsame Weise friedlich und bedrohlich zugleich klingt, endet spätestens im selbst für Liars-Verhältnisse freakigen „Scarecrows On A Killer Slant“ in blutigem Tarantino-Geballer, angeführt vom wie immer angsteinflößenden Sänger Angus Andrew: „We should nail their thoughts to the wall/ Stand them in the street with a gun/ And then kill them all!“ (Pascal Weiß) |
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Menomena „Mines“ [2010; City Slang] |
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Wer hätte das gedacht? Mit ihrem dritten regulären Album befreien sich Menomena endgültig von allen Genregrenzen. Zugegeben, der Vorgänger „Friend And Foe“ wusste über weite Strecken zu gefallen, war teilweise aber zu beliebig. „Mines“ zelebriert über 55 Minuten einen einzigartigen Sound. Behutsam beginnend türmen sich die Wände immer weiter übereinander: Schwermut, Ansporn und zurück. Ohne übertrieben bombastisch oder theatralisch zu klingen, wechseln Menomena immer wieder zwischen den Gegensätzen. Dabei hilft auch die gefestigte Bandstruktur. Jeder der drei ist unverzichtbar, jeder Einzelne prägt durch seine Präsenz die klangliche Dichte, jeder Einzelne ist für den großen Schritt nach vorne verantwortlich. Perfektes Teamwork also. (Felix Lammert-Siepmann) |
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Sun Araw „On Patrol“ [2010; Not Not Fun] |
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Was ursprünglich als Hommage an Sun Ra begann, dürfte spätestens seit diesem Jahr selbst zum Vorbild taugen. Sun Araw ist mit „On Patrol“ nicht nur aus dem Schatten des großen Jazzmusikers herausgetreten und hat seiner Discografie ein weiteres vollkommen eigenständiges Werk hinzugefügt, sondern auch endlich die verdiente Aufmerksamkeit bekommen. „On Patrol“ ist ein 75-minütiges Monster voller repetitiver Orgel- und Gitarrenmelodien, voller Störgeräusche, voller Trommeln und übersteuerter Bässe. Wer die Geduld aufbringt sich dies nach und nach zu erschließen, wird belohnt mit einer einzigartig zugedröhnten, psychedelischen und exotisch anmutenden Mischung aus Drone- und Dub-Elementen. Sun Araw liefert euch in diesem Jahr, neben Dylan Ettinger, James Ferraro und den Emeralds, das zuverlässigste Ticket in bisher unbekannte Bewusstseinssphären. (Constantin Rücker) |
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Xiu Xiu „Dear God, I Hate Myself“ [2010; Kill Rock Stars] |
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Es wäre vielleicht gar nicht so abwegig, hätte Jamie Stewart sein Album „Schall & Wahn“ genannt, schließlich hallt in den 12 Titeln jede Menge Verzweiflung, Angst und Wahnsinn nach. Intelligenter, kanalisierter Lärm, verpackt in teils zuckersüßen Pop, so klebrig, dass einem übel werden mag (was man dem zugehörigen Video des Titelstücks durchaus zugute halten kann). Elektronisches Wirrwarr löst sich auf in wummernde Industrialbeats, die Stewarts brüchige Stimme immer wieder neu herausfordern, nur um dann in ihre Einzelteile zu zerfallen. Es passiert viel auf „Dear God, I Hate Myself“, so dass einem ständig wieder neue abgehackte Melodiefetzen um die Ohren fliegen, allerdings wirkt hier so gut wie nichts überladen, höchstens mal ein wenig anstrengend, aber das sind Xiu-Xiu-Alben im positiven Sinne ja eigentlich fast immer. (Carl Ackfeld) |
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Les Savy Fav „Root For Ruin“ [2010; Cooperative Music] |
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Tim Harrington, die alte Rampensau, ist zurück! Nachdem vor drei Jahren mit „Let’s Stay Friends“ ungewöhnlich poppige Töne angeschlagen wurden, finden Les Savy Fav nun zurück zu altbekannter Grobkörnigkeit. Fans der frühen Phase der Band wird es freuen. Zugegeben, wie Kollege Sven durchaus treffend angemerkt hat, schnuppert das wilde Getöse im Eröffnungsstück „Appetites“ schon ein wenig Billy-Talent-Luft (was gar nicht so schlimm ist, wenn man sich erstmal bewusst wird, dass deren Debüt alles andere als schlecht war), insgesamt aber steht den Herren insbesondere in Verbindung mit ihren immer noch waghalsigen Konzerten die prollige Rocker-Attitüde ausgezeichnet. Wenn dann auch noch großartige Stampfer wie „Let’s Get Out Of Here“ oder „Dirty Knails“ dabei herauskommen, hat die liebe Seele aber mal so was von Ruh. (Pascal Weiß) |
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Ariel Pink’s Haunted Graffiti „Before Today“ [2010; 4ad/Beggars Group] |
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Er galt als einer der größten Beeinflusser des aktuellen Lo-Fi-Pop-Sounds, der erste Chillwave-Surfer, der König der verschwurbelten Schlafzimmerproduktionen – nur seine Krönung blieb Ariel Pink bislang verwehrt. Mit „Before Today“ bewies er nun nicht nur erneut, dass er verschrobene Hits nur so aus dem Ärmel schütteln kann, sondern erstmalig auch, dass diese professionell im Studio und – nachdem er bislang immer kunstvoll seinen Mund als Schlagzeugimitat eingesetzt hatte – mit Band aufgenommen nicht an Reiz verlieren. Im Gegenteil könnte das selbstreferentiell-euphorische „Round And Round“ sein bisheriges Glanzstück sein – beileibe keine Kleinigkeit beim Ausmaß der Pink’schen Diskographie. (Uli Eulenbruch) |
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Marnie Stern „Marnie Stern“ [2010; Kill Rock Stars] |
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Marnie Stern in irgendwelche Mathrock- oder Neoprog-Zusammenhänge einzuordnen greift zu kurz. Was sie nämlich vom Großteil der dortigen, zumeist männlichen Kollegen unterscheidet, ist, dass das von ihr und Schlagzeuger Zach Hill erzeugte, virtuos synapsensprengende Geballer auf einer höheren Ebene wieder zu greifbarem, knallbunten Pop zusammenfindet. Auf ihrem schlicht „Marnie Stern“ betitelten neuesten Album verdeutlicht sich dieses Kunststück, garniert mit euphorischen Powerchords und sympathischen Albernheiten, so stark wie noch nie. „Female Guitar Players Are The New Black“, Mathcore is the New Pop! (Bastian Heider) |
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Bear In Heaven „Beast Rest Forth Mouth“ [2010; Hometapes] |
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Auf ihrem eigentlich schon 2009 erschienenen, aber erst in diesem Sommer über den großen Teich geschwappten zweiten Album „Beast Rest Forth Mouth“ klingen Bear In Heaven wie alle anderen Brooklyner Bands mit Tier im Namen und doch ganz eigen. Ihre Mischung aus verdrogtem Krautrock, wabernden Synthesizern, shoegazenden Soundwällen und harmonischem Indiepop-Gesang à la Grizzly Bear birgt einen Drahtseilakt, den uns die Dudelfunkstationen dieser Welt nur Tag für Tag vorgaukeln: Das Beste der 70er, 80er, 90er und von heute vereint in lupenreinen kleinen Hits. Schöner wurden Pop-Appeal und experimenteller Ansatz in diesem Jahr nur höchst selten miteinander versöhnt. (Bastian Heider) |
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The Tallest Man on Earth „The Wild Hunt“ [2010; Dead Oceans] |
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Man mag sich fragen, wie der Herr denn aufgewachsen ist. Viel zu früh viel zu viel Alkohol? Jung ist er noch immer und die Stimme gleichzeitig schon so zerschunden und fragil. JWD? Wir müssen es annehmen. Diese Panoramen hat man gesehen, um sie so authentisch zu besingen. Völlig verarmt? Klar, hat bloß seine Akustikgitarre, nicht mal für eine Band reicht es. Und so ausgemerkelt, schaut ihn euch doch mal an! Aber endlich wieder ein Songwriter, der so richtig zur Mythenbildung taugt. Und bestimmt ist alles Quatsch. Wenn das Talent dann mit unangepasstem Blick verloren auf der Bühne steht, würde man sich fast Sorgen machen. Wenn, ja wenn man nicht längst verloren wäre in feurigen Balladen wie „Love Is All“ oder „King of Spain“. (Sven Riehle) |
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Broken Social Scene „Forgiveness Rock Record“ [2010; City Slang] |
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Totgesagte und so. Broken Social Scene waren solche, das hatten sie selbst zu verantworten. „Der Hype ist vorbei, Broken Social Scene bleiben über den Zeitgeist erhaben“ schrieb Kollege Bastian im Frühling über „Forgiveness Rock Rekord“, das Comeback-Album, das eigentlich gar keins ist. Nicht weil, BSS nicht weg gewesen wären, sondern weil es schlicht niemals Kalkül war. Die Zeit war einfach wieder reif für neue Taten, die neue Großtaten geworden sind. Diese hochauflösende Leichtigkeit ist hörbar, spürbar, befreit Arme und Beine, verhilft zum Entspannen, zwingt zum Lächeln. Der Veranda-Blues: eigen, der Bläser-Pop: eigen, der Jazzrock: eigen, dann das beiläufige Pfeifen des freien Amis, alles klischeefrei und handgemacht. Sie können eigentlich alles, nur eben besser. (Sven Riehle) |
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Baths „Cerulean“ [2010; Anticon] |
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„OH YA! thanksgiving. turkeyworld! Celebration! i had wok in Amsterdam :)” Für Will Wiesenfeld war es ein grandioses Jahr, zumindest, wenn man seinen ständigen Postings via Facebook oder Twitter ein wenig folgt. Man hat das Gefühl, die ganze Welt gehöre ihm, wenn er so freizügig postet: “also, older gay guys in Paris — let’s get dinner tomorrow evening: postfoetus@gmail.com #facebookforgaydating”. Mit dieser überschäumenden Neugier punktet auch sein Debüt, das sich freundlich zwischen Beatmaking und Chillwave einnistet und Schicht für Schicht nur Großartiges stapelt. Seine Songs sind kleine, flatterhafte Miniaturen, die für sich genommen ein bisschen unscheinbar wirken. Die wahre Raffinesse und sympathische Selbstzufriedenheit blüht erst beim wiederholten Hören auf, begleitet dann jedoch willkommen über das ganze Jahr. (Markus Wiludda) |
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Hans Unstern „Kratz Dich Raus“ [2010; Staatsakt] |
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Viele Rezensionen haben sich dieses Jahr auf die Kauzigkeit und Versponnenheit dieses lang erwarteten Debüts bezogen, dabei wurde vielerorts vergessen, das man auf „Kratz Dich Raus“ unter all den Textfragmenten und Soundstrukturen fabelhafte Melodien entdecken kann. Natürlich fordert das wilde, scheinbar wahllose Aneinanderreihen von Worten durchaus Aufmerksamkeit, dennoch sorgen die Leichtigkeit und das Improvisationsgefühl für den roten Faden dieses seltsamen kleinen Albums. Acht Songs lang erzählt Unstern im Zeitlupenstakkato urbane Märchen, wagt sich „Tief Unter Der Elbe“ an ein waschechtes Liebeslied und scheut sich auch nicht mit verqueren Metaphern und Neologismen zu jonglieren. Ein Avantgarde-Songwriter-Album zwischen wohldosiertem Krach und Kunst, ohne künstlich zu wirken. (Carl Ackfeld) |
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Flying Lotus „Cosmogramma“ [2010; Warp] |
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Kaum jemand steht so repräsentativ für die rhythmischen Gleichgewichtsstörungen der letzten zwei Jahre wie Steve Ellison. Mit seinem 2008 erschienenen Album „Los Angeles“ entwickelte sich der aus L.A. stammende Produzent vom Geheimtipp zum genreübergreifenden Konsens-Act. Mittlerweile agiert der Neffe von Alice Coltrane freier und losgelöster denn je. In einer Art spiritueller Zuwendung zu seinen Wurzeln kreierte Ellison mit seinem dritten Album „Cosmogramma“ ein ganz eigenes Universum, in dem sich die synthetischen Klänge unbeschwert an die analoge Instrumentierung schmiegen. Zwischenzeitlich war Flying Lotus mit seiner „Pattern=Grid“-EP wieder auf gewohnten Pfaden unterwegs, das Gleichgewicht aus (relativer) Funktionalität und Experimentierfreude bleibt letztendlich auch seine Stärke. (Philip Fassing) |
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Joanna Newsom „Have One On Me“ [2010; Drag City] |
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Am Anfang stand die bloße Überwältigung: Drei Platten, 18 Songs, zwei Stunden Spielzeit. Nach den Eindrücken von „Ys“ sollte „Have One On Me“ ein mehr als nur schwer zu bewältigender Brocken sein. Es kommt ganz anders, denn Joanna Newsom zieht sich nach dem pompösen Ausflug in die Welt der Harfen weit in sich selbst zurück. Sie wird erwachsen, legt die ätherische Mystik ab und offenbart ihre Träume und Ängste. Die Reise ins Gefühlige wirkt, so persönlich sie auch ist, nie überzeichnet. Eine permanente Unvollkommenheit lässt viel Spielraum für Interpretationen, die nur auf den ersten Blick spröden Details vergrößern ihn noch. „Have One On Me“ nimmt dafür dankbar jeden Umweg in Kauf, täuscht Zerbrechlichkeit und Orientierungslosigkeit vor und ist letztendlich doch vor allem das Werk einer gefestigten Frau. (Felix Lammert-Siepmann) |
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Caribou „Swim“ [2010; City Slang] |
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Dan Snaith hat sich entfernt vom entspannten Wabern seines sommerlichen letzten Albums „Andorra“, bei dem man sich noch träumend im Gras wähnte, ohne dass einem jemals kalt hätte werden können. Auf „Swim“ geht es unter die Erde, auch der Wärme entgegen. Songs, gemacht aus trockenen, düsteren 80er-Anleihen, vor allem in den Beats, doch die Lichter, die diesen Schacht flankieren, ziehen wie ein Hoffnungsschimmer mit zunehmender Geschwindigkeit vorbei und lassen erahnen, was da unten auf uns wartet: Ein Club. Caribou wird 2010 mit neuer Tanzbarkeit sicher den einen oder anderen Parkgänger von 2007 vergraulen, doch insgesamt bezeugt das zum Ende immer stärker werdende „Swim“ weniger Snaiths Anpassung an aktuelle 80er-Strömungen denn seine musikalische Weitsicht: Pop und Elektro, das ist kein heißer Flirt, das ist mittlerweile und auch im nächsten Jahr eine innige Liebesbeziehung. (Sven Riehle) |
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Janelle Monáe „The ArchAndroid“ [2010; Atlantic] |
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Was sich in dem heute schon legendären Auftritt bei Letterman bereits andeutete, wurde spätestens mit ihrem Album-Debüt Wirklichkeit. Janelle Monàe ist der derzeit wohl am hellsten leuchtende Stern weit über den R’n’B-Himmel hinaus, „The ArchAndroid“ ein hochambitioniertes Großwerk von einem Debütalbum, das das übergeordnete Sci-Fi-Thema, Motown-Bläser und Synthesizer, genresprengende Interludes und Überhits wie „Tightrope“ und „Cold War“ mit Leichtigkeit unter seiner prunkvollen Krone vereint. Und auch wenn das für manche vielleicht etwas zu viel auf einmal gewesen sein mag, steht es dabei gleichermaßen für die Vergangenheit, Gegenwart und verheißungsvolle Zukunft dieses in jüngster Zeit viel zu oft bis zum Rand der vollkommenen Redundanz ausgebeuteten Genres. (Bastian Heider) |
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The National „High Violet“ [2010; 4ad/Beggars Group] |
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Wenn es einen Preis für die eingängigste Album-Eröffnungszeile des Jahres geben würde, dann ginge dieser eindeutig an Matt Berninger und Anhang: „It’s terrible love and I’m walking with spiders“ sind die ersten Worte, die auf Platte Nummer fünf im gewohnten Bariton gesungen werden. Nun war Eingängigkeit in der Vergangenheit zwar nicht unbedingt das herausragende Merkmal von The National, doch ist auch nicht abzustreiten, dass das Quintett spätestens seit dem Vorgänger-Album „Boxer“ hin und wieder recht deutlich mit dem Pop-Mainstream flirtet. Aus diesen leichten Annäherungsversuchen könnte sich nun jedoch allmählich eine ernsthafte Beziehung entwickeln – was aber überhaupt nicht dramatisch wäre. Denn The National beweisen auf „High Violet“, dass große Melodien immer funktionieren, egal ob fünf, 5.000 oder fünf Millionen Menschen zuhören. Man betrachte z.B. nur mal die überlebensgroßen Singles „Terrible Love“, „Anyone’s Ghost“ und „Bloodbuzz Ohio“. Oder man macht das bedrückende „Conversation 16“ an, das sich zwar direkt in die Gehörgänge frisst, aber auch nach unzähligen Durchgängen immer wieder ein mulmiges Gefühl in der Magengegend hinterlässt. Aufwühlen und gefallen, überraschen und anschmiegen – das waren The National vor einigen Jahren und das sind The National 2011. Nur geht das mittlerweile alles schneller. (Matthias Holz) |
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LCD Soundsystem „This Is Happening“ [2010; Parlophone] |
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Vollkommen überdreht, der gute James Murphy. Packt sein drittes Album „This Is Happening“ voll mit Songs, die in acht von neun Fällen mindestens an der Sechs-Minuten-Grenze kratzen und nennt den allerlängsten (9:12 Minuten!) dann auch noch „You Wanted A Hit“, dessen Refrain die süffisante Zeile „Well, this is how we do hits“ enthält. Der Song, der die Bezeichnung Hit am ehesten verdient hat, ist allerdings „All I Want“: Von der textlich bedingten melancholischen Grundstimmung bis hin zum Arrangement inklusive Bowie-Referenz stimmt da einfach alles. Wer es hingegen etwas leichter mag, greift zur „doofen“ Single „Drunk Girls“, die frappierende Ähnlichkeiten mit einem nicht minder dämlichen Blur-Song aus den 90ern hat. Nachdem nun also auch der dritte Mix aus Rock und Disco so gut funktioniert, bleibt nur zu hoffen, dass Murphy sich das mit dem „letzten Album“ noch mal anders überlegt. (Matthias Holz) |
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Actress „Splazsh“ [2010; Honest Jons] |
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Wer weiß wohin Darren Cunninghams Weg geführt hatte, wenn er nicht mit 17 Jahren zum Sportinvaliden geworden wäre und seine Fussballschuhe an den Nagel gehangen hätte. Wahrscheinlich wäre das Jahr 2010 aber um eine gewaltige musikalische Attraktion ärmer gewesen, denn mit „Splazsh“ lieferte Cunningham den bisherigen Höhepunkt seines sozusagen zweiten Bildungsweges ab. Es ist nicht nur ein erstaunlich abwechslungsreiches und gleichzeitig extrem dichtes Elektronikalbum geworden, sondern entzieht sich bravourös einer eindeutigen Kategorisierung und jongliert geradezu lässig mit den elektronischen Stilen der vergangenen Jahrzehnte. Actress reichert britischen Dubstep mit 90er Detroit-Techno an und beamt ihn mit einem kleinen Umweg übers Hier und Jetzt direkt in einen Londoner Club des Jahres 2015. Bereits mit seinem zweiten Longplayer hat Darren Cunningham eine eigene, starke Handschrift entwickelt. Wer weiß, ob ihm das als Fussballprofi ebenfalls gelungen wäre. (Constantin Rücker) |
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Efterklang „Magic Chairs“ [2010; 4ad/Beggars Group] |
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Immer wieder erzählt man vom Haldern Pop 2010, wo Efterklang am frühen Abend einen durchaus überraschend wertvollen Startplatz und später, zu Recht, von allen Seiten Danksagungen erhielten. Sie sind eine jener Bands, die am Anfang eines jeden Jahres niemand auf der Rechnung hat oder haben wird. Die aus der scheinbaren Not eine Tugend machen und das Überraschungsmoment für große Gefühle nutzen. Art-Pop mit bisweilen unorthodoxer Rhythmik, kleinteilig, Melancholie ohne Tristesse. Eine der sympathischsten Bands, die wir dieses Jahr vor uns hatten. Zu ehrlich fürs Schauspiel, zu weltfremd für die Wirklichkeit. Und zu schön, um übersehen zu werden. (Sven Riehle) |
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Titus Andronicus „The Monitor“ [2010; XL] |
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Eingangs ein Lincoln-Zitat, Springsteen- und Dylan-Andeutungen, Replacements-Abgefucktheit, eine Schlacht aus dem Bürgerkrieg als metaphorischer Leitfaden… „The Monitor“ mutet schon wie ein überaus US-amerikanisches Album an. Und doch sind die Leiden, die der geplagt-heisere Patrick Stickles inmitten all dieser Opulenz und Referenz nie aus den Augen lässt, nur allzu universell verständliche, ob sie aus persönlichen Konflikten entstehen oder der Schattenseite des amerikanischen Traums entwachsen. Anstatt im stillen Kämmerlein zu introspektieren, überhöht er sie mit seiner Band über alle Zeit- und Strukturmaße, setzt geradlinige Gassenhauer wie „Titus Andronicus Forever“ neben torkelnde Epen die über neun Minuten von zorniger Punkhymne zu grandioser Folkimplosion und wieder zurück streben. God bless America, zumindest hierfür. (Uli Eulenbruch) |
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Gonjasufi „A Sufi And A Killer“ [2010; Warp] |
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Der Mythos Gonjasufi in Stichpunkten: Vom Christentum zum Islam übergetreten, lebt in der Wüste am Rande von Las Vegas, trägt urig-arschlange Dreads und hat eine Stimme wie jemand, dem gerade beide Stimmbänder herausgerissen wurden. Wie auch sein Produzent Flying Lotus auf Warp gesigned nimmt uns dieser Irre mit auf eine kleine Weltreise. Sein Debütalbum trägt uns von seiner Heimat, der kalifornischen Wüste, über Bristols Trip Hop und indischen Psychedelic bis in den tiefsten Orient. Dabei ergänzt sich die Lo-Fi-Produktion perfekt mit der an manchen Stellen leicht an Eels Sänger E. erinnernde, markant-gefühlvolle Stimme. Diese lässt von 90er Flow-Rap bis Soul und Rock nichts aus. (Max Brudi) |
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Mount Kimbie „Crooks & Lovers“ [2010; Hotflush] |
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Mount Kimbie gehörte dieses Jahr vielleicht zu den vielversprechendsten Auswüchsen des mittlerweile weit verästelten Post-Dubstep-Geflechts. Das lag nicht zuletzt an den großartigen EPs, mit denen sie schon im Vorfeld positiv auf sich aufmerksam machten. Untenrum massiv und voluminös, obenrum verklackert und fragil – eine Formel die live zwar nicht ganz aufging, in den eigenen vier Wänden aber umso mehr überzeugte. Die Mischung aus extrem verfremdeten, atmosphärischen Gitarrenklängen, wolkigen Synthesizer-Flächen und zerbrechlichen Rhythmen geht definitiv auf. Von dem britischen Duo darf man in nächster Zeit mit Sicherheit noch eine Menge interessanter Musik erwarten. (Philip Fassing) |
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Sam Amidon „I See The Sign“ [2010; Bedroom Community] |
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„Aus alt mach neu“ mag das Zauberwort für Sam Amidons drittes Album „I See The Sign“ gewesen sein, schließlich haben fast alle Stücke schon mindestens ein Vierteljahrhundert auf dem Buckel. Folk-Gospels reinsten Wassers mischen sich mit hymnenhaftem Singer/Songwritertum, nicht ohne farbenprächtige und abwechslungsreiche Begleitumstände. Wärme und Fluss, mit Brillanz und Prägnanz vorgetragen, musikalisch immer einen Schritt in der Zukunft und dennoch voll von wohlig weicher Raffinesse. Glockenspiel, Flöten, Streicher und Schlagwerk geben ihr Bestes, um aus den schlichten Folksongs kleine Kostbarkeiten zu zaubern, vom durch die Bedroom Community und Beth Orton übernommenen musikalischen Rahmen ganz zu schweigen. (Carl Ackfeld) |
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Beach House „Teen Dream“ [2010; Cooperative Music] |
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Beach House gaben dieses Jahr mit „Teen Dream“ nicht nur sich selbst einen bedeutenderen Namen im Musikkosmos, sondern gleich einem ganzen Genre einen Fixpunkt, eine Messlatte, ein Referenzwerk. So sehr Dream-Pop gleich nach seiner Entstehung viel zu wenig kontrovers und oft immer gleich verstanden wurde, ist es hier nichts mit den Vergleichen. Auch wegen Victoria Legrands Stimme, zu der man abgöttische Liebe entwickeln mag: Absurd, erschreckend schön, befremdlich, Sex und Unisex, dabei doch nicht polarisierend. Und vollends aufgehend in Songs mit ewig jungen Melodien, in feinperlenden Sehnsüchten wie bei „Norway“ oder „Silver Soul“, bei denen uns noch in Jahren heiß und kalt werden wird. (Sven Riehle) |
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How To Dress Well „Love Remains“ [2011; Tri Angle] |
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Wenn ein Philosophiestudent zu Köln, heute in den USA lebend, über einen Zeitraum von sechs Jahren im Alleingang Stücke aufnimmt und dann auf einem Album vereint, muss das nicht unbedingt funktionieren. „Love Remains“ versprüht allerdings eine dermaßen einnehmende und weltentrückte Stimmung, dass es seine Hörer vom ersten Ton an gefangen nimmt und nicht wieder loslässt. Alles Überflüssige wurde aus den knapp 40 verrauschten Minuten verbannt und so kann die Stimme Tom Krells in Verbindung mit den äußerst minimalistischen Beats diese ureigene Magie entwickeln, die man heute vielleicht als Witch House bezeichnen mag, von Krell selbst allerdings eindeutig im R’n’B der 80er und 90er Jahre verortet wird. „Love Remains“ stellt somit eines der mutigsten und zugleich ehrlichsten Musikexperimente des Jahres dar – und hat dabei wie kein zweites den Nerv der Zeit getroffen. (Constantin Rücker) |
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Pantha Du Prince „Black Noise“ [2010; Rough Trade] |
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„Black Noise“ klirrt in Eiseskälte. Die Beats sind glasklar gefiltert, die Ästhetik ist permanent unterkühlt. Es herrscht Frost. Selten klang ein Technoalbum abweisender und zugleich so intelligent und überlegt. Das ist der Verdienst Hendrik Webers, der unter seinem Pseudonym Pantha Du Prince nach dem ebenfalls hervorragenden Werk „This Bliss“ seinen Ansatz verfeinert hat und noch subtilere Effekte in seine Tracks einbaut als zuvor. Es raschelt, knarzt und stapft gnadenlos voran. Glocken erklingen in weiter Ferne, Rohre dehnen sich, Hall und Glitter schweben nieder – die Detaildichte ist frappierend und erst im Kopfhörereinsatz richtig erfassbar. Nicht nur der Abschlusstrack „Es Schneit“ bimmelt so elegant, dass es für dieses Werk eigentlich nur eine Bezeichnung geben kann: Das hier ist minimaler „Techno Royal“. (Markus Wiludda) |
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Arcade Fire „The Suburbs“ [2010; City Slang] |
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Konsens, welch grässliches Wort! Aber wenn es in 2010 auf eine Band zutrifft, dann ist es wohl – mal wieder – Arcade Fire. Vermutlich wurden nicht nur bei uns in der Redaktion hitzige Diskussionen darüber geführt, an welcher Stelle der Rangliste „The Suburbs“ letztendlich einzuordnen ist. Dass es dann am Ende nicht ganz fürs Treppchen reichte, ist jedoch ausschließlich der hohen Qualität der Mitbewerber geschuldet: Denn Win Butler und Co. zeigen auch auf ihrem Drittwerk nicht die kleinste Schwäche, sondern reichern ihre Diskographie mit 16 weiteren potentiellen Best-Of-Anwärtern an. Der vielleicht beste unter ihnen hört auf den Namen „Suburban Wars“ und sollte in den Lexika dieser Welt ab sofort unter dem Begriff „Nostalgie“ zu finden sein: „The night’s so long / yeah the night’s so long / I’ve been living in the shadows of your song / been living in the shadows of your song“. Im Dunkeln ist’s eh am schönsten. (Matthias Holz) |
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Deerhunter „Halcyon Digest“ [2010; 4ad] |
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Da hatte man sich mit „Nothing Ever Happened“ gerade an Deerhunter als mitreißend groovende Rockband gewöhnt, nun folgte eine Hinwendung des Quartetts zu poppigeren Strukturen in intimem, bei aller Verwaschenheit stellenweise fast schon folkigem Sound. Wäre da nicht zugleich der ätherische Gesang von Bradford Cox, der sich auch mal mitsamt dem Rest der Band in „Sailing“ verwundet vom Hörer entfernt – nur um im Anschluss mit „Memory Boy“ eingängigst in den Vordergrund zu jangeln. Es sind Übergänge und Sequenzen wie diese, die „Halcyon Digest“ zu so einem schlüssigen Werk machen, dessen Highlights – neben den Beiträgen von Co-Gitarrist/-Sänger Lockett Pundt – durch Tragödien inspiriert sind, die Cox‘ Gesang nur allzu körperlich spürbar macht. (Constantin Rücker) |
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Four Tet „There Is Love In You“ [2010; Domino] |
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In den Beinen liegt die Kraft. Four Tet hat seine Bio-Beats in die Stroboskopkammer geschickt und heraus kam ein Album, das dennoch nichts von der Kieran Hebden eigenen Gelassenheit einbüßt. In „There Is Love In You“ steckt tatsächlich Liebe, überall. Eine Liebe zum Detail, eine Liebe zu den Tönen, die Empathie erzeugen. Eine intensive Liebe zu Alltagsgeräuschen, die überall erscheinen, die aber keiner beachtet, die den Hörer hier ganz undogmatisch eines Besseren belehren. Und eine Liebe zu solchen Klängen, von denen man meint, dass es sie vorher nicht gab, die aber doch ganz und gar irdisch klingen. Der natürlichste Sound unter allen Genrekünstlern wird gerade dadurch zu einem Alien im Electro. Aber er kommt in Frieden. (Sven Riehle) |
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Twin Shadow „Forget“ [2010; 4ad] |
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Keine große Überraschung: Als George Lewis, Jr. nach seinen aktuellen Lieblingskünstlern gefragt wird, gibt dieser ohne zu überlegen Ariel Pink an. Wen hätte er auch sonst nennen sollen als einen oder sogar DEN großen Vorreiter einer Pop-Faszination der etwas anderen Art? Auch Twin Shadow zählt ähnlich wie How To Dress Well seit 2010 zur Fraktion der idiosynkratischen Schlafzimmerproduzenten – mit einem netten Nebeneffekt, denn wenn der Wahl-Brooklyner mit „Forget“ unter das ausgelutschte New-Wave-Revival nicht den endgültigen Schlussstrich gezogen hat, wird es vermutlich gar keinem mehr gelingen: Wer derart unwiderstehlich mit den 80er-Emotionen jongliert und jeden Irgendwie-dann-doch-Nostalgiker des ironischerweise immer verschmähten Jahrzehnts mit glänzenden Augen in den Kisten nach dem alten Commodore, den Betamax-Videorekordern oder Revox-Tonbandmaschinen wühlen lässt, nebenbei die Sehnsucht eines Morrissey in sich trägt, aber gleichzeitig mit popowackelndem Prince-Funk frohlockt, der dürfte all diesen geschniegelten Neu-80er-Milchbubi-Kapellen … ach, Schitteböhm, lasst uns doch einfach gedankenverloren weiter tänzeln. „Does your heart still beat?“ Und wie. (Pascal Weiß) |
Hier nochmal die kompletten AUFTOUREN-Top 50 in der Übersichtsform:
01. Twin Shadow – Forget
02. Four Tet – There Is Love In You
03. Deerhunter – Halcyon Digest
04. Arcade Fire – The Suburbs
05. Pantha Du Prince – Black Noise
06. How To Dress Well – Love Remains
07. Beach House – Teen Dream
08. Sam Amidon – I See The Sign
09. Mount Kimbie – Crooks & Lovers
10. Gonjasufi – A Sufi & A Killer
11. Titus Andronicus – The Monitor
12. Efterklang – Magic Chairs
13. Actress – Splazsh
14. LCD Soundsystem – This Is Happening
15. The National – High Violet
16. Janelle Monáe – The ArchAndroid
17. Caribou – Swim
18. Joanna Newsom – Have One On Me
19. Flying Lotus – Cosmogramma
20. Hans Unstern – Kratz Dich Raus
21 Baths – Cerulean
22 Broken Social Scene – Forgiveness Rock Record
23 The Tallest Man – The Wild Hunt
24 Bear In Heaven – Beast Rest Forth Mouth
25 Marnie Stern – s/t
26 Ariel Pink’s Haunted Graffiti – Before Today
27 Les Savy Fav – Root For Ruin
28 Xiu Xiu – Dear God, I Hate Myself
29 Sun Araw – On Patrol
30 Menomena – Mines
31 Liars – Sisterworld
32 Kanye West – My Beautiful Dark Twisted Fantasy
33 Future Islands – In Evening Air
34 These New Puritans – Hidden35 Wild Nothing – Gemini
36 Big Boi – Sir Lucious Left Foot
37 The Walkmen – Lisbon
38 Owen Pallett – Heartland
39 Gisbert zu Knyphausen – Hurra! Hurra! So Nicht
40 Frightened Rabbit – The Winter Of Mixed Drinks
41 Kvelertak – s/t
42 Emeralds – Does It Look Like I’m Here
43 Los Campesinos! – Romance Is boring
44 The Hundred In The Hands – s/t
45 Oneothrix Point Never – Returnal
46 Spoon – Transference
47 Lindstrom & Christabelle – Real Life Is No Cool
48 Grinderman – Grinderman 2
49 Superchunk – Majesty Shredding
50 Jamie Lidell – Compass
Bislang eine schöne Liste, wenn auch gilt: 40 != 1.
Alles andere als Arcade Fire ganz oben wäre eine riesige Überraschung. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es anders kommen wird :)
@Kevin: Hättest Du gesagt, die 37 wäre die 1, hätte ich sogar zugestimmt;)
@Win: Es wird anders kommen. Ganz sicher.
Die neue Arcade Fire habe ich zwar auch viel gehört aber im Endeffekt ist davon nichts hängen geblieben bei mir.
Find ich übrigens eine ziemlich passende Kurzbeschreibung der Walkmen Platte (37)!
@Chrissi: Lieben Dank. Diese Platte liegt mir einfach sehr am Herzen, insofern freut das jetzt doppelt;)
Letzteres können wir alle, denk ich, nur bestätigen. :-)
Hehe, der Sven wieder, er will einfach nicht aufhören. Neue Runde, Kleiner?:)
oh je kein arcade fire bisher. ich ahne schlimmes…
Meine Rede. Zumal die größten Konkurrenten um Platz 1 nun aus dem Rennen sind (LCD, Newsom, National).
Definitiv noch dabei sein müssten:
Arcade Fire, Sufjan Stevens, Deerhunter. Gute Chancen vielleicht auch für Twin Shadow oder Neon Indian?
Mhm. Ich glaube, ein Favorit ist nocht nicht genannt worden….
@Lennart: das hab ich auch erst seit gestern aufm Tisch und finde toll und zeitlos. Nichts für die Top50, aber doch für die Top 100.
@Kevin und oh je: Zehn Plätze sind noch zu vergeben, mit Überraschung wird zu rechnen sein. Viele der Genannten kommen noch, einige jedoch auch nicht mehr ;)
Neon Indian ist ja von 2009, wäre ansonsten auch weiter oben denk ich. ;)
Ich finds echt erschreckend wieviel Alben ich gehört, aber schrecklich vernachlässigt habe. Gerade läuft Caribou, ich denke der hätte auch in meine Top20 gehört. :/
Schade, Vampire Weekend wohl nicht “indie” genug. ;) Aber auf jeden Fall erwarte ich noch Beach House, Deerhunter und evtl. sogar Pantha Du Prince.
@Johannes. Hehe, ne, mit “indie” hat das nichts zu tun. Bands wie National oder Arcade Fire sind doch in den Augen vieler eher weniger “indie” – von Leuten wie Kanye mal ganz zu schweigen;) Das Album hatte in der Redaktion einfach zu wenig Fürsprecher. Wenn es denn überhaupt eine(n) gab.
Genau einen gab’s *rähem*
hab ich yeasayer übersehen? wo habt ihr die denn versteckt? und sufjan?
Wurden zumindest beide diskutiert, hatten aber zu wenig Stimmen für einen Platz unter den ersten 50
Twin Shadow..hmja, die wäre widerum bei mir nicht unter die Top 50 gekommen. ^^ Ansonsten geschmackssichere Top 10, vor allem Platz 2 freut mich.
Rinko, jetzt enttäuscht Du mich aber. Gerade auf so einen 80er-Haudegen wie Dich hätte ich doch ganz bestimmt gezählt;)
@Rinko: Definitiv bei keinem von uns so wirklich mit Abstand auf der #1, aber bei ziemlich allen im Team unter der Top20. Die Summe macht es dann. War aber dieses Jahr ohne richtiges Überalbum ziemlich schwer; die komplette Top10 ist aber durchaus hörenswert.
Einzellisten kommen übermorgen oder so, morgen auf jeden Fall die wunderbare “Geheime Beute”.
Wir haben bei zwölf teilnehmenden Redkateuren kein einziges Album, das zweimal auf der 1 zu finden ist, das kommt auch eher selten vor. Als wir dann aber die 5 möglichen Kandidaten herangezogen und zwischen denen abgestimmt haben, war das Resultat ziemlich eindeutig.
@ pasi: Der 80er Diss musste ja wieder kommen :D
liste gefällt mir sehr. vielen dank für die mühe! aber es fehlen leider definitiv diese beiden alben, die für mich ohne frage unter die top 50 gehören und so manch anderes album in dieser liste ganz objektiv gesehen in den schatten stellen:
john roberts – glass eights
gil scott-heron – i’m new here
bis bald, euer ingo
Das wird ja immer so sein, letztlich bleibt eine redaktionelle Liste immer eine persönliche Sache des Geschmackes, und das ist ja auch gut so.
Mir persönlich fehlen auch vielleicht das eine oder andere tolle Werk, aber im Großen und Ganzen ist das schon eine tolle Sammlung.
Danke für die Arbeit und die Mühe!
sehr gut abgeschlossen, freunde!
Schöne Liste!
Und danke für den Musiktipp Sam Amidon, da hatte ich noch gar nicht reingehört!
Sehr gute Auswahl. Besonders, dass Pantha Du Prince zurecht so weit oben steht, freut mich. Weiter so!
Die Twin Shadow ist sehr spät bei mir angekommen, dann aber direkt so richtig.
Yeasayer hätte ich auch in den Top 50, Sufjan in den Top 10 gesehen, aber dafür gibt es dann ja die Einzellisten. Da ist dann sicher auch viel Polarisierendes dabei.
Es ist wie immer, auch 2010, am Anfang des Jahres kann ich mir nicht vorstellen, dass mich ein Album irgendwie wird rühren können und dann sind es doch wieder ganz viele, neue, treue Begleiter. ;-)
anschauliche liste…mit twin shadow sehr gute nummer 1!
ich vermisse eigentlich nur warpaint :P
warpaint, local natives, Ceo, Das Racist, gold panda und vorallem best coast fehlen mir. mit der nummer 1 kann ich mich allerdings anfreunden :)
Zumindest ein Album aus deiner Aufzählung kommt dann noch in der geheimen Beute, war ein heißer Kampf. Warpaint hätte ich selbst auch gern dabei gehabt, aber man kann halt nicht alles haben.
Eine schöne Liste, keine Frage… vor allem da die Top5 (oder 3/5 von ihr =D) recht unkonvetionell ist. Und auch sonst sehr schöne Underdogs enthalten (z.B. Hans Unstern in den Top20, These New Puritans Top35).
Persönlich sehr sehr vermisst habe ich Sufjan Stevens, Yeasayer (für mich definitiv unter den besten 20 Werken dieses Jahr), auch MGMT und Tocotronic (Top 50).
Weiter so!
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[…] Livequalitäten des Quartetts. „Forget“ war fraglos eine Großtat und nicht umsonst unser Album des Jahres. Es war nur wenigen Künstlern gelungen eine derart breite Masse gleichzeitig auf einem solch hohen […]