Twin ShadowForget

Wer interessiert sich denn jetzt noch für eine Twin-Shadow-Rezension? Ganz im Ernst. Wer bisher noch nicht darüber gestolpert ist, wird’s entweder nie oder eben in den zahllosen Jahresendlisten der nächsten Wochen. Als das Album im September in den USA erschien, folgten wie selbstverständlich die Lobeshymnen in den Medien. „Forget“ wurde überall gefeiert. Kaum kritische Stimmen waren darunter. Auch für mich stand schnell fest, dass Twin Shadow neben How To Dress Well das eigenständigste und wichtigste Popalbum des Jahres abgeliefert hatte. Die Frage schien eigentlich nur noch, ob das Album es am Ende des Jahres auch bei den wichtigen Kritikern aufs Treppchen schaffen würde oder nicht, dachte ich. Und dann? Dann sah ich diesen Livemitschnitt eines Auftrittes von Twin Shadow in New York und konnte mir „Forget“ für Wochen nicht mehr anhören…

Es machte plötzlich alles keinen Sinn mehr. Die Verbindung, die ich so mühsam zu dem Album aufgebaut hatte, war plötzlich dahin. Wochenlang hatte ich es zuvor in meiner Hosentasche umher getragen, hatte seine Songs wenn nicht direkt im Ohr, dann wenigstens ihre Refrains auf den Lippen. „I Can Wait“ war eines dieser Lieder oder „Castles In The Snow“. Mitreißende Stücke von Melancholie durchsetzter Lebensfreude. Es war das Album meines Spätsommers. Das Album mit dem dicken Pulli, aber noch ohne Jacke, das Album mit den zarten Sommersprossen auf der Nase und geschlossenen Augen. Da die meisten der Stücke nach einem ähnlichen Prinzip funktionieren tauchte „Forget“ die Welt in ein ganz eigenes Licht: Ein tiefer Bass, darüber die Synthies, die Drum Machine, auch gern ein paar Rhythmuswechsel, vielleicht noch eine Gitarre im Hintergrund und natürlich der Gesang von George Lewis, Jr. Auch wir haben den Vergleich mit Morrissey nicht gescheut. Zu verlockend ist dieser doch am Ende des Albums, wenn Lewis im vorletzten Stück, dem großartigen „Slow“, den Smiths tatsächlich alle Ehre macht.

Aber zurück zu den angesprochenen Livemitschnitten: Als ich mir diese anschaute, war ganz plötzlich aller Reiz verflogen. Morrissey findet sich dort nicht einmal in der letzten Reihe im Publikum, geschweige denn auf der Bühne. Und die Songs hatten nicht nur einiges von ihrem Charme eingebüßt, sondern auch ihren Anmut, ihre Brüchigkeit und Melancholie. Zurück geblieben waren fast schon erschreckende Gerippe dieser perfekten und glatten Studioversionen. Aus der leisen Ahnung, dass hier etwas nicht stimmte, entwickelte sich bald das ungute Gefühl, betrogen worden zu sein und die Vorzeichen nicht erkannt zu haben. Erst der Vergleich mit diesen möglicherweise nicht einmal exemplarischen Liveversionen hatte eine bis dahin für mich nicht ersichtliche Eigenschaft des Albums zutage gefördert: Und zwar, dass es sich bei diesem, um eine allzu heile, in Selbstmitleid getränkte und in Watte gepackte Welt handelt, fernab jeder Realität, nur darauf aus, im ersten Moment zu gefallen. Diese heile Welt verträgt jedoch keine Abweichungen, keinen wahren Schmerz und somit auch keine wahre Schönheit. Aber genau diese allzu sympathischen Momente der Menschlichkeit bestimmen die Liveaufnahmen. Vielleicht hatte da jemand auf dem Album doch etwas zu viel geglättet, zu viele Unreinheiten überdeckt und zuviel Schminke aufgetragen. Selbstverständlich sind derartige Vorgänge gang und gäbe. Es wäre naiv anderes zu glauben. Aber sie sind eben auch nur möglich auf Kosten eines herben Verlustes an Authentizität, sobald diese glatte Oberfläche ihre ersten Kratzer erhält. Nichts anderes war in diesem Fall geschehen.

Für die Produktion des Albums zeichnete sich übrigens kein Geringerer als Chris Taylor verantwortlich, der nicht nur Bassist der famosen Grizzly Bear ist, sondern auch deren Produzent. Taylor hat selbst Arthur Russell wieder aufpoliert und die Dirty Projectors abgemischt. Er muss im Studio so lange an den Songs geschliffen haben, bis die kleinsten Unregelmäßigkeiten einfach nicht mehr vorhanden waren, bis am Ende als Ergebnis nur noch dieses kleine Juwel namens „Forget“ übrig geblieben war. Und plötzlich rückten diese Liveaufnahmen Twin Shadow für mich persönlich in eine empfindliche, unangenehme Nähe zu Mariah Carey, der Schirmherrin aller überproduzierten Geister dieser Welt. Vielleicht drückt sich in meiner Abneigung dagegen letztlich aber nur die Bewunderung des Gegenteils aus, wie vielleicht ein kleiner Vergleich verdeutlicht: „Forget“ stellt vermutlich die eine Möglichkeit dar, wie im Jahr 2010 erfolgreicher und trotzdem anspruchsvoller Pop aussehen konnte. Es ist die glatte, konventionelle, sozusagen erprobte Art und Weise, aus Versatzstücken der vergangen Jahrzehnte etwas emotional aufgeladenes Zeitgenössisches zu erzeugen. Das andere Extrem lieferte fast zeitgleich im September der bereits eingangs erwähnte und ebenfalls lange in New York ansässige Tom Krell aka How To Dress Well. Dessen Album „Love Remains“ beschreitet im Gegensatz zu Twin Shadow vollkommen neue, noch nicht ausgetretene und vergleichsweise mutige Wege der Eingängigkeit. Schaut man sich Livemitschnitte seiner Stücke an, kollabiert nichts von dem Bild dieses Künstlers. Es gewinnt stattdessen an Form, wird bestärkt und wirkt durch und durch glaubhaft.

Von derlei theoretischen Gedankenspielen bleibt „Forget“ als Album am Ende natürlich weitestgehend unangetastet. Es ist fraglos ein in sich geschlossenes, homogenes und nahezu komplettes Popalbum im New-Wave-Gewand. Es ist hörenswert, tanzbar, manchmal todtraurig, manchmal voller Hoffnung, es ist laut, es ist leise, es ist wie das Leben letztendlich selbst. Und wie auch im wahren Leben ist eben nicht alles Gold was glänzt, sondern manches auch einfach zu schön um wahr zu sein oder bloß ein schöner Schein. Und manchmal lässt man sich von diesem auch gern blenden.

Im Februar nächsten Jahres kommt Twin Shadow wohl auf eine kleine Tour nach Europa. Dann kann sich jeder selbst einen Eindruck machen. Ich freue mich und lasse mich gern eines Besseren belehren… Fortsetzung folgt.

82

Label: 4AD | Beggars | Indigo

Referenzen: How To Dress Well, Neon Indian, Wild Nothing, The Smiths, Tame Impala

Links: MySpace | Homepage

VÖ: 12.11.2010

15 Kommentare zu “Rezension: Twin Shadow – Forget”

  1. philip sagt:

    tame impala? den zusammenhang würde ich gerne erklärt bekommen :)

  2. Michi sagt:

    Klar klingen sie/er Live anders aber nicht minder gut. Wenn ein Bedroom-Projekt als komplette Band auftritt ändert sich eben einiges.
    Hat seinen eigenen Charm.

  3. Pascal Weiß sagt:

    @Philip: Das geht auf meine Kappe. Julian Lynch oder auch Avey Tare oder Washed Out – um ein paar aktuelle Künstler oder Projekte zu nennen – hätten vielleicht auch gepasst, aber ich bin der Meinung, dass Impala und Twin Shadow auf ihre ganz eigene Art und Weise manchmal funky klingen. Der Anfang von „Solitude Is Bliss“ zum Beispiel, der hätte doch auch hierhin gepasst. Ansonsten aber sehe ich die Tame Impala auch als „Ta Det Lugnt“ Vol. 2.

    @Constantin: Eine etwas andere Rezi zu diesem Thema, gefällt mir gut.

    @Michi: Ja, das hat es natürlich. Und so soll es ja auch sein. Trotzdem finde ich Constantins Gedankengänge sehr ehrlich und nachvollziehbar geschildert. Jetzt gehen wir doch sicher alle zu den Konzerten im Februar.

  4. Pascal Weiß sagt:

    Netter Nebeneffekt: Jetzt habe ich mir endlich mal die nötige Zeit für die How To Dress Well genommen;)

  5. Michi sagt:

    Klar! Die Gedankengänge sind sogar sehr nachvollziehbar! Bei mir wars z.B. bei Salem so. Nachdem ich von denen mal ein Live-Video gesehen hab konnte ich mir die auch nichtmehr anhören. :D

  6. Constantin sagt:

    Und Pascal, was sagst du zu HTDW?

    @ Michi: Letztendlich sollte ja vor allem mal ein anderer Zugang zu dem Album präsentiert werden, um nicht die immer gleichen Phrasen zu kloppen;)
    Aber du hast schon recht. Das hat live natürlich einen eigenen Charme. Der unterscheidet sich eben nur maßgablich vom Album. Bei Salem kann ich mir das auch ganz gut vorstellen.

  7. Pascal Weiß sagt:

    @Constantin: Wirf doch morgen mal einen Blick in meine Top10;)

  8. […] und 7-Inch-Splits von Menomena und die regulären CD-Ausgaben von Janelle Monaé, Pantha Du Prince, Twin Shadow, Sam Amidon, Gonjasufi, Belle & Sebastian, The Hold Steady, Ratatat, Magic Kids, Karen Elson […]

  9. […] das live noch mal ganz anders klingt als auf Platte, wurde vor wenigen Wochen an dieser Stelle schon ausführlich und kontrovers diskutiert. Auf den Besuch eines der vier Konzerte sind wir daher […]

  10. e. coli sagt:

    Es erstaunt und -freut mich, dass sowohl Twin Shadow als auch How to Dress Well die verdienten Lorbeeren bekommen.

  11. […] leise Kritik an Twin Shadow Ende des vergangenen Jahres richtete sich ja vor allem auf die mutmaßliche Diskrepanz zwischen dem […]

  12. […] beginnende „Far Away“, das in seiner sympathisch-verspulten Betulichkeit an das hervorragende Twin Shadow-Album erinnert. Mit Liebeskummer- und Sehnsuchtslyrics trifft Greene hier sogar mal ins Herz. Die […]

  13. […] George Lewis Jr. vor zwei Jahren unter dem Pseudonym Twin Shadow sein Debüt-Album „Forget“ veröffentlichte, schien zunächst wenig darauf hinzudeuten, dass man diesen Mann im Gedächtnis […]

  14. […] Grizzly Bear mussten danach erst einmal getrennte Wege gehen und sich um Familie, Freunde oder Soloprojekte kümmern. Nach einem Fehlversuch 2011 in Texas musste die Band erstmal wieder […]

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