10. Dezember 2012
AUFTOUREN: 2012 – Das Jahr in Tönen

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Poliça „Give You The Ghost“ [Memphis Industries] |
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Es hätte ganz, ganz fürchterlich werden können. Hübsche, zerbrechlich wirkende Sängerin mit Elfenstimme frontet eine Band, da heulen sämtliche Enya-Alarmsirenen. Aber es sollte alles ganz anders kommen. Poliça konnte gerade auf musikalischer Seite überzeugen. Nicht nur, dass Channy Leaneagh Auto-Tune gegen den Strich bürstet und ihre Stimme somit, statt einer Korrektur, einer permanenten Mutation und Modulation unterzieht, auch ihre Bandkollegen Ben Ivascu, Drew Christopherson und Ryan Olson tragen nicht unwesentlich zum einzigartigen Klang von Poliça bei. Minimale Elektronik und Bassspiel werden unterfüttert und überlagert mit der Polyrhythmik der beiden Schlagzeuge, so dass Poliça ihren ureigenen R’n’B-Entwurf kreieren. (Mark-Oliver Schröder) |
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∆ „An Awesome Wave“ [Pias UK/Infectious] |
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Dass Alt-J in Wirklichkeit natürlich gar nicht Alt-J heißen, sondern nur von einem Dreieck symbolisiert werden, das mit der entsprechend Tastenkombination entsteht, ist ja schon mal recht witzig. Dass diese Band mit ihrem Debüt-Album „An Awesome Wave“ auch noch mächtig durch die Decke kracht – umso schöner. Die vier erfreulich unhippen Buben aus dem United Kingdom spielen Musik, die sich nicht so recht einordnen lassen möchte, aber im Prinzip alles zwischen Pop, Electro, Indie, Folk und New Wave abgrast. Mit „An Awesome Wave“ hat das Quartett vielleicht die vielseitigst einsetzbare Platte des Jahres komponiert. Darauf ein: Δ. (Kevin Holtmann) |
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Andy Stott „Luxury Problems“ [Modern Love] |
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„Luxury Problems“ mag nicht Andy Stotts kompromisslosestes Werk sein, ist aber gewiss sein variantenreichstes. Alles verharrt mysteriös und überaus gespenstisch wie ein verschlingender Albtraum, der mit jedem Druck auf die Play-Taste von Neuem beginnt und einem genüsslich die Luft abdreht: Während der Track „Luxury Problems“ bloß schwer atmet, ist „Expecting“ ein einziges Todeshauchen in erbärmlich aussichtlosem Schwarz. Über weite Distanz fehlt den Songs ganz Stott-like der verführerische Glanz, dafür gibt es verschwommene Andeutungen in Grautönen, faulende Beats, rastloses Dröhnen und elfengleiche Gesänge aus der knurrenden Magenhöhle seines Laptops. (Markus Wiludda) |
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Dawn Richard „Armor On EP“ [Our Dawn Entertainment/Cheartbreaker] |
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“Halbe Sachen“ kommt in Dawn Richards Vokabular nicht vor. Gleich zwei großartige EPs brachte die Amerikanerin 2012 heraus, doch so wie „Whiteout“ mehr als nur ein Wegwerf-Winterkurzweil ist, erwies sich „Armor On“ als ein stärkeres Album als die meisten offiziell als solche veröffentlichten. Über wenig traditionelle Break- und House-Beats entfaltet Richard eine futuristische R&B-Soundvision, die sich nicht nur wegen ihrer Spielzeit von beinahe 40 Minuten ungemein weitreichend anfühlt: Mal erhaben, anderswo verwundet oder kampfeslustig, Richard arrangiert ihre multiplizierte Stimme zu kunstvollen Gesangsgemälden voll innerer Dramatik, denen nur dort an Konventionen gelegen scheint, wo sie dem Verlauf des Gesamtwerks zugute kommen. (Uli Eulenbruch) |
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Cooly G „Playin‘ Me „ [Hyperdub] |
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Als „Bedroom-Pop“ wird in der Regel Musik nach dem Ort ihrer heimischen DIY-Produktionsmethode bezeichnet, doch „Playin‘ Me“ ist ein Album, das sich tatsächlich dort zuträgt. „I wanna put you in the mood / you want me, I want you,“ lockt Cooly G in „Come Into My Room“, ihre Stimme umtürmt von verhallten Tastenschlägen und von Synthschleiern überweht. Ob erotisiert oder ominös verhangen wie im beatlastigeren letzten Drittel, Cooly Gs Debütalbum vermag auf ganzer Länge zu verführen, schafft mit sicherer Hand eine einladend intime Soundwelt, die mit jedem Stück subtil an Atmosphäre und Stimmung zunimmt. (Uli Eulenbruch) |
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Japandroids „Celebration Rock“ [Polyvinyl] |
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Nach Nichts wird gefeiert und gerockt. Es böllert und bollert. Gitarre, Schlagzeug, Lautstärke. Laute Stärke voller lauter Stärke. Ekstase, die tausende „Ohhhooohooos“ einfangen können, nein, Gefangene machen die Japandroids nicht. Sie zeigen den Erwartungen, der Vergänglichkeit, den Leuten den musikalischen Stinkefinger, ohne mit der Wimper zu zucken. Es sei denn, sie schütteln ihre Köpfe wild und ausufernd. Das aber tun sie immer, leidenschaftlich, direkt, prall und auf den Punkt. Und mit viel Alkohol in Blut und im Sinn. Das knallt dir die Birne weg! Thank you for being so wet and wild. Keine Zeit zum Verschnaufen, es ist postmodern spät und die Nebensätze sind weggepustet. Bald werden wir lallen. Prost! (Sebastian Schreck) |
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Actress „R.I.P“ [Honest Jon’s] |
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Zunächst einmal sollte man alle Erwartungen an dieses Album ablegen. Es ist ein Verdienst Darren Cunninghams, dass eine verhältnismäßig große Hörerschaft von einem Prozess in Kenntnis gesetzt wird, der sonst eher im Verborgenen abläuft: Abseits des Mainstreams differenziert sich die elektronische Musik seit geraumer Zeit maximal aus. In diesem Jahr hat dabei niemand unkonventioneller und subtiler ein derart breites Publikum erreicht als Actress. Seine Stücke entziehen sich der herkömmlichen Erwartungshaltung und versanden gern in transparenten, repetitiv-meditativen Zwischenräumen. Wer sich hierfür die Zeit nimmt und „R.I.P“ nach und nach erschließt, wird am Ende belohnt mit 15 auditiven Deklinationen von „digitale Schönheit“. Mehr kann man von einem Album eigentlich gar nicht erwarten. (Constantin Rücker) |
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Miguel „Kaleidoscope Dream“ [RCA] |
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Miguel lieferte sich in diesem Jahr zusammen mit Frank Ocean das Kopf-an-Kopf-Rennen um den sonnigen Platz an Jessie Wares Seite auf dem R´n´B-Thron. Sowohl Ocean als auch Miguel haben großartige Alben vorgelegt, sind Meister in Sachen Selbstvermarktung, Bühnenpräsenz oder Songwriting. Und: die Alben der beiden können auch ihre jeweiligen Schwächen nicht vollkommen verbergen. Eine der eklatantesten auf „Kaleidoscope Dreams“ hört auf den Namen „Do You…“ und ist in meinen Ohren ein besonders gutes Beispiel für einen belanglosen Popsong. Auf Miguels Debütalbum stellt er glücklicherweise eine Ausnahme dar. Jedoch sollten derartige Tracks auch in Zukunft die Ausnahme bleiben, sonst setzt sich im nächsten Jahr wieder ein lachender Dritter, wie The Weeknd, die R´n´B-Krone auf. (Constantin Rücker) |
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Kendrick Lamar „good kid, m.A.A.d city“ [Interscope] |
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Die Einzigartigkeit von „good kid, m.A.A.d city“ lässt sich kaum in Details ermessen. Das Szenario vom guten Jungen in der bösen Stadt („m.A.A.d. city“ steht wahlweise für „My Angry Adolescence Divided“ oder „My Angel’s on Angel Dust“) mag altbekannt und klischeebeladen vorkommen. Die Art und Weise, in der sich unterschiedliche Geschichten, Charaktere und Zeitebenen zu einem dichten, autobiographischen Mosaik fügen, ist dennoch absolut außergewöhnlich. Bandbreite, Dichte und Konsequenz machen dieses Album zu einem Erlebnis, das an Intensität seinesgleichen sucht. Es scheint, als hätte der HipHop der Zehnerjahre sein erstes großes Epos und das ausgerechnet von der altehrwürdigen Süddeutschen geschaffene Etikett “California Noir” nach Frank Ocean sein zweites Meisterwerk gefunden. (Bastian Heider) |
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Burial „Kindred EP“ [Hyperdub] |
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Feuerwerk. Burial führt einmal mehr in tiefere Schichten partyinduzierter Wahrnehmungs-Twins und Erinnerungsmuster. Vocals und Sounds, als halluzinierte Relikte der „Nacht“, Muster vage verknüpfter Synapsen gefiltert durch die „Ohren danach“. Dabei gelingt ihm der paradoxe Spagat, irgendwie soweit wie möglich am Floor vorbeizuziehen, seine Beats dabei aber extrem crisp und einfordernd klackern und kicken zu lassen – es überwiegt 4 to the floor -, sodass der Floor dann doch wieder in Schlagweite rückt. In seiner Alleinstellung ist Burial wohl nur mit The xx zu vergleichen und strahlt so solitär, dass Epigonen rar sind. (Mark-Oliver Schröder) |
Freut mich sehr, dass Nü Sensae den Sprung schon mal geschafft haben. Und Ty Segall kommt hoffentlich auch noch.
Schön zu sehen, dass ihr dieses Jahr die gleiche Nummer 1 habt wie ich.
Also, man kann an dem Miguel-Album ja das eine oder andere kritisieren, aber „Do You…?“ als belanglosen Popsong zu bezeichnen, kommt mir dann doch etwas, äh, herzlos vor.
[…] den Redaktions-Jahrescharts 2012 und den 30 Alben aus unserer „Geheimen Beute“ gibt es nun noch den ultimativen […]
wieder mal ne schöne Liste von euch. Mir persönlich fehlen nur irgendwie The Walkmen. Aber dafür habt ihr Merchandise dabei. Grandioses Album! Wie erstellt ihr eigentlich eine solche Liste? Errechnet ihr die Durchschnittspositionen aus den Einzellisten oder vergebt ihr für jede Position bestimmte Punkte? Oder diskutiert ihr einfach so lange bis ihr euch über jede Position einig seid?
Am Ende ein Mix aus den letzten beiden Möglichkeiten. Und vielen Dank für das Lob, es steckt ne Menge Arbeit dahinter.
Die „Kindred“ von Burial firmiert offiziell als EP. Was bewegt euch also dazu, ausgerechnet diese als Studioalbum zu definieren? Die Dauer allein kanns ja wohl nicht sein, eine halbe Stunde ist nichts ungewöhnliches für eine EP. Jedenfalls hat eine EP in einer Liste der besten Studioalben nichts verloren.
Andererseits gibt es auch Alben, die kürzer sind als 30 Minuten (Royal Headache würde ich z.B. Pi mal Daumen darunter schätzen). Es gibt Alben, die nur aus Marketinggründen als EPs oder Mixtapes bezeichnet werden, die eine Konkatenation zweier separater EPs sind, die eher wie ein Mix oder Mixtape aufgemacht sind als wie ein Album, Mini-Alben, EEPs – sinnvoll kann man das gerade heute oft nicht differenzieren.
Dass wir eine Liste für Alben und eine andere für EPs haben, hat vor allem praktische Gründe. Für Letztere ist ein Konsens weitaus schwerer in gleicher Stärke zu finden als für Alben, so dass sie in einer einzigen großen Liste untergehen würden. Doch wenn es, wie dieses Jahr gleich dreimal, Ausnahmen gibt die albumartig ein schlüssiges Gesamtwerk darstellen – warum solche herausragende Werke nicht auch albumartig würdigen?
Lieber Watzlaff,
ich bin immer erfreut, wenn sich Leser so ihre Gedanken machen und uns diese auch mitteilen. Ganz besonders, wenn Sie dies mit dem Wissen die „Wahrheit“ und das einzig „Richtige“, wie Geschmacksstalinisten, auf Ihrer Seite zu haben tun.
Wir haben lange darüber diskutiert, ob die Burial in die Albumliste gehört und uns für „Ja“ entschieden. Und ja, die Länge war tatsächlich einer der Gründe, die angeführt wurden, vor allem aber die Güte der VÖ. Zudem stehen wir mit dieser Einschätzung/ Zuordnung nicht allein da.
Mhm, also, ob Rock- und Popmusik den Geschmack irgendwelcher Stalinisten treffen und sie sich überhaupt mit deren Formaten befassen, sei dahingestellt. Überhaupt, Stalinisten? So wie hier? Ein bißchen wenigstens?
http://de.wikipedia.org/wiki/Sozialistischer_Realismus
Ansonsten glaube ich, die Frage „Was bewegt euch also dazu, ausgerechnet diese als Studioalbum zu definieren?“ ist legitim und kann beantwortet werden, das ist doch keine Besserwisserei, so etwas zu fragen und sich bis zur Beantwortung halt „Jedenfalls hat eine EP in einer Liste der besten Studioalben nichts verloren.“ zu denken.
Uli hat’s erklärt, alles klar, da wäre doch so eine forsche Entgegnung nicht notwendig gewesen, Mark.
Ah, und um Geschmack ging es dabei nie… ansonsten: „Geschmacksstalinisten“? Ist das ein der Extremismusklausel entsprechendes Gegenstück zum nicht minder misslungenen „Geschmacksfaschisten“?
Ansonsten kenne ich nur „Indiespießer“, und das macht Sinn.
Lieber Mark-Oliver,
man muss doch auf solch eine (meiner Meinung nach berechtigte) Frage nicht gleich so eingeschnappt reagieren. War auch nicht im geringsten als Angriff gedacht, nur denke ich nach wie vor, dass eine EP, die „Kindred“ per Definition ist und bleibt, strenggenommen nicht in eine Albenliste gehört. That’s all. Ist ja auch nicht extrem wichtig, aber ich habe mir die Frage eben mal gestellt, was diese EP im eher zum Studioalbum macht als viele andere EPs die 2012 erschienen sind. Dass sie gut ist, habe ich nicht in Frage gestellt, das sehe ich ja genauso.
„Ah, und um Geschmack ging es dabei nie… ansonsten: “Geschmacksstalinisten”? Ist das ein der Extremismusklausel entsprechendes Gegenstück zum nicht minder misslungenen “Geschmacksfaschisten”?
Ansonsten kenne ich nur “Indiespießer”, und das macht Sinn.“
Das sehe ich haargenauso.
Die Erklärung von Uli kann ich zumindest nachvollziehen.
@Watzlaff: Alles klar, ich denke, auch bei Mark ist der Kommentar eher aus der Laune heraus (ist ja auch nicht immer ganz einfach, die Intention eines (unbekannten) Lesers sofort richtig zu deuten) entstanden und sollte ebenfalls keinen Angriff in Deine Richtung darstellen.
Und dann bleibt auch alles friedlich, falls Burial morgen unerwartet in den Leser-Album-Jahrescharts auftauchen sollte;)
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