AUFTOUREN: 2012 – Das Jahr in Tönen

40

Grimes

„Visions“

[4AD]

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Von außen betrachtet könnte man natürlich glauben, „Visions“ wäre das Album einer grimmigen, schlechtgelaunten Crustpunk-Band. Täuschung und Tarnung gehören eben unweigerlich in die Welt der jungen Kanadierin Claire Boucher, die unter ihrem Künstlernamen Grimes dunkel geschminkten Electropop komponiert, der in seiner Hymnenhaftigkeit in jeder schicken, distinguierten Modeboutique around the world laufen könnte. Ihre Stücke sind leichtfüßig, aber auch morbide, funkeln und schimmern wie Diamanten und sind dennoch oder gerade deswegen alles andere als harmlos. Hinter den bittersüßen R’n’B-Säuseleien und den quietschigen Beats verstecken sich seelische Abgründe. Auf unheimliche Art und Weise ist das ziemlich anziehend. (Kevin Holtmann)


39

Alcest

„Les Voyages De L’Âme“

[Prophecy Productions]

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Verklärte Innerlichkeit, die ihre Fühler vagabundierend in den Himmel streckt. Neige besinnt sich auf dem dritten Album der französischen Black-Metal-Phantasten auf seine in Teilen ziemlich finstere Seele und lässt sie durch zauberhafte Landschaften aus höchst perkussivem, jedoch anmutigem Lärm und verschwenderischer, ambienter Pracht wandern. Dass er dronigem Klangzauber dabei ebensowenig aus dem Weg geht wie sonnenaufgangähnlichen Klangkaskaden, ist dabei verwunderlich, jedoch hinsichtlich seines gesamten Œuvres konsequent. Nicht mehr verhuscht, jedoch auch nicht mit der vollendeten Brutalität der letzten Alben verbinden Alcest beide Tugenden und schaffen mit „Les Voyages De L’Âme“ ihr bislang stärkstes Werk. (Carl Ackfeld)


38

Angel Haze

„Reservation“

[True Panther/Noizy Cricket/Biz 3]

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Die enorme Bedeutung, die frei verbreitete Mixtapes für den aktuell so vital wie schon lange nicht mehr daherkommenden HipHop haben, trug in diesem Jahr vor allem einen Namen: Angel Haze. Die 20-jährige New Yorkerin stellte mit „Reservation“ in Sachen Frische und lyrischer Dringlichkeit locker den Großteil aller regulären Rap-Veröffentlichungen aus 2012 in den Schatten. Die Geschichte hinter diesem Debüt ist unterdessen eine recht klassische: Hazes charismatischer Flow erzählt zu überwiegend düsteren Beats Geschichten vom Aufwachsen, Durchbeißen und Scheitern in prekären Verhältnissen. Die zahlreichen Selbsterhöhungen und verbal gemeuchelten „Gegner“ stehen dabei im krassen Gegensatz zur erstaunlichen Offenheit und Verletzlichkeit, mit der das Persönliche hier verhandelt wird. Angel Haze verleiht der alten Außenseiter- und Aufsteigerstory, wie sie im HipHop immer wieder erzählt wird, eine neue Perspektive. (Bastian Heider)

37

Holy Other

„Held“

[Tri Angle]

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Selbstverständlich lässt Holy Other einige treffende Vergleiche zu – Burial oder Clams Casino könnte man hier nennen – und selbstverständlich lässt Holy Other sich einem Genre, beispielsweise dem Witch House, zuordnen. Trotzdem erschien das Debütalbum des jungen Briten zu einer Unzeit und ohne jede Rückendeckung vergleichbarer Acts. So steht „Held“ in diesem Jahr wie eine kunstvoll verzierte Vogelscheuche in der Mitte eines Feldes, kühl und isoliert, inmitten all der R´n´B- und Artpop-Alben 2012. Aber dieser Umstand bekräftigt eher die Einzigartigkeit von „Held“, als dass er dessen Qualitäten schmälert: Dem Trend zum Trotz gelingt es Holy Other, aus den spezifischen Bausteinen eines kriselnden Genres ein atmosphärisch dichtes und hochgradig modernes Hörerlebnis zu konstruieren. Wer kann das schon von sich behaupten in diesem Jahr? (Constantin Rücker)


36

Krallice

„Years Past Matter“

[Eigenveröffentlichung]

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Die vergleichsweise transparente Produktion und durch technische Präzision gestützte Spielfreude des vierten Albums der New Yorker Band um den Gitarristen Mick Barr bricht noch deutlicher als zuvor mit den in Stein gemeißelten den Dogmen des Black Metals. Krallice wandern endgültig auf eigenen, schwer zu kategorisierenden Pfaden: „Years Past Matter“ fusioniert Elemente des Black-, Prog-, Death- und Sludge-Metal zu kakophonischen Klangwänden, die nur eingerissen werden, um kurze Zeit später in neue Höhen zu wachsen. In epischer Breite – keines der regulären Stücke dauert weniger als acht Minuten – zelebrieren Krallice ihren ekstatischen Rausch aus komplementär agierenden Gitarren, Blastbeatgewitter und schwer verständlichem Grollen, ohne Virtuosität zum reinem Selbstzweck verkommen zu lassen. (Till Strauf)


35

The xx

„Coexist“

[Young Turks/XL/Beggars]

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Kaum eine Veröffentlichung hat dieses Jahr mehr gespalten als der Zweitling von The xx. Jamie Smith, Romy Madley Croft und Oliver Sim versuchen gar nicht erst, sich neu zu erfinden, sondern verfeinern und erweitern ihren Trademark-Sound einfach ein wenig. Die Beats ein wenig fetter und facettenreicher, die Effekte noch effizienter platziert und über allem wie gehabt Bass und Gitarre, die sich jede überflüssige Note verkneifen und der introspektive Gesang. Einige Kritiker meinten, über all dem hätten sie die Hits und Songs vergessen, uns hat es trotzdem gefallen. Und Hits finden sich auch auf „Coexist“, nur springen sie einem nicht mehr so direkt ins Gesicht wie auf dem Debüt. (Mark-Oliver Schröder)


34

Raime

„Quarter Turns Over A Living Line“

[Blackest Ever Black]

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2012 unternahmen viele Alben eine Reise ins Düstere, doch keine davon war so singulär wirkungsvoll wie Raimes. Irgendwo zwischen Bohren Und Der Club Of Gore, Burial und Swans intensiviert das Londoner Duo sein Album wie eine enger werdende Schlinge Stück für Stück, bis der Sauerstoff bedrohlich knapp zu werden droht. Dabei fungiert ihr Desolationssound aus knöchernen Beats, rostigen Splittern und heimatlosen Echos zugleich auf atmosphärischer und musikalischer Ebene, ist nie bloß das eine oder andere und damit in seiner vereinnahmenden Kraft umso unmöglicher zu ignorieren. (Uli Eulenbruch)


33

Lotus Plaza

„Spooky Action At A Distance“

[Kranky]

Rezension| Label

Sicher, Lotus Plaza ist nur ein Nebenprojekt von Deerhunter, die Herkunft seines Machers klingt aus jedem Gitarrenakkord heraus. Aber es ist ein großes NUR, das Lockett Pundt verinnerlicht hat und das er auf seinem zweiten Album als Lotus Plaza distanziert und verhuscht zu größtmöglicher Action kulminieren lässt. Diese ruht nämlich in sich selbst, elegant und meditativ um die eigene Achse kreisend, wartend auf das Lachen wilder Fremder und mit einem gespenstischem Talent für Stimmungen und Akzente. Auf überhohen Gitarrenwällen greift Pundt nach den Irrlichtern der Nacht, bis niemand mehr genau sagen kann, ob wir den Schmetterling oder er uns träumt. Sein Flügelschlag ist sanft und so lange wir hören, träumen wir gut. (Sebastian Schreck)


32

Jam City

„Classical Curves“

[Night Slugs]

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Besonders leicht fällt der Einstieg in dieses Album nicht. Bereits auf den ersten Metern zeigt  das zweite Stück „Her“ einem deutlich auf, wie schlecht es um die eigene Kondition bestellt ist. Atemlos bleibt man zurück, abgehangen und röchelnd, bevor einem „Classical Curves“ wieder die Hand reicht und zu einem kleinen Basketballmatch mitnimmt. Das ist großartig und schließt mit quietschenden Schuhen ganz nebenbei die Lücke zwischen Ben UFO und den Books. Wer hier zu früh aussteigt, verpasst einen ganzen Blumenstrauß phantastisch überbordender Songs. Wem „R.I.P“ zu behäbig daher kommt, sei „Classical Curves“ ganz besonders ans unruhige Herzchen gelegt, denn Jam City ist nicht weniger detailversessen als Actress, aber bombastischer als der es jemals war. (Constantin Rücker)


31

David Byrne & St. Vincent

„Love This Giant“

[4AD]

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Eine der schönsten Liaisons des abgelaufenen Kalenderjahres war die zwischen Talking-Heads-Grandseigneur David Byrne und der Indierock-Erneuerin Annie Clark, besser bekannt als St. Vincent. Gemeinsam arbeiteten die beiden Vollblutfreigeister an einem Album, das weit über das zu erwartende „Best of both worlds“-Geplänkel hinaus geht. Die zwölf Stücke von „Love This Giant“ verbinden ungezügelten Bläsereinsatz mit vertrackten Rhythmen, kreuzen Byrnes lakonische Altersweisheiten mit dem grazilen Sex in der R’n’B-Stimme St. Vincents. Besonders toll kommt das zum Beispiel im herrlich hypnotisierenden Album-Opener „Who“ zum Vorschein, einem herrlich beschwipsten Avantgarde-Popsong mit tollem Video. Wunderbare Kuppelei! (Kevin Holtmann)


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21 Kommentare zu “AUFTOUREN: 2012 – Das Jahr in Tönen”

  1. Spence sagt:

    Freut mich sehr, dass Nü Sensae den Sprung schon mal geschafft haben. Und Ty Segall kommt hoffentlich auch noch.

  2. Johannes sagt:

    Schön zu sehen, dass ihr dieses Jahr die gleiche Nummer 1 habt wie ich.

  3. Also, man kann an dem Miguel-Album ja das eine oder andere kritisieren, aber „Do You…?“ als belanglosen Popsong zu bezeichnen, kommt mir dann doch etwas, äh, herzlos vor.

  4. […] den Redaktions-Jahrescharts 2012 und den 30 Alben aus unserer „Geheimen Beute“ gibt es nun noch den ultimativen […]

  5. Saihttam sagt:

    wieder mal ne schöne Liste von euch. Mir persönlich fehlen nur irgendwie The Walkmen. Aber dafür habt ihr Merchandise dabei. Grandioses Album! Wie erstellt ihr eigentlich eine solche Liste? Errechnet ihr die Durchschnittspositionen aus den Einzellisten oder vergebt ihr für jede Position bestimmte Punkte? Oder diskutiert ihr einfach so lange bis ihr euch über jede Position einig seid?

  6. Am Ende ein Mix aus den letzten beiden Möglichkeiten. Und vielen Dank für das Lob, es steckt ne Menge Arbeit dahinter.

  7. Watzlaff sagt:

    Die „Kindred“ von Burial firmiert offiziell als EP. Was bewegt euch also dazu, ausgerechnet diese als Studioalbum zu definieren? Die Dauer allein kanns ja wohl nicht sein, eine halbe Stunde ist nichts ungewöhnliches für eine EP. Jedenfalls hat eine EP in einer Liste der besten Studioalben nichts verloren.

  8. Andererseits gibt es auch Alben, die kürzer sind als 30 Minuten (Royal Headache würde ich z.B. Pi mal Daumen darunter schätzen). Es gibt Alben, die nur aus Marketinggründen als EPs oder Mixtapes bezeichnet werden, die eine Konkatenation zweier separater EPs sind, die eher wie ein Mix oder Mixtape aufgemacht sind als wie ein Album, Mini-Alben, EEPs – sinnvoll kann man das gerade heute oft nicht differenzieren.

    Dass wir eine Liste für Alben und eine andere für EPs haben, hat vor allem praktische Gründe. Für Letztere ist ein Konsens weitaus schwerer in gleicher Stärke zu finden als für Alben, so dass sie in einer einzigen großen Liste untergehen würden. Doch wenn es, wie dieses Jahr gleich dreimal, Ausnahmen gibt die albumartig ein schlüssiges Gesamtwerk darstellen – warum solche herausragende Werke nicht auch albumartig würdigen?

  9. Lieber Watzlaff,
    ich bin immer erfreut, wenn sich Leser so ihre Gedanken machen und uns diese auch mitteilen. Ganz besonders, wenn Sie dies mit dem Wissen die „Wahrheit“ und das einzig „Richtige“, wie Geschmacksstalinisten, auf Ihrer Seite zu haben tun.

    Wir haben lange darüber diskutiert, ob die Burial in die Albumliste gehört und uns für „Ja“ entschieden. Und ja, die Länge war tatsächlich einer der Gründe, die angeführt wurden, vor allem aber die Güte der VÖ. Zudem stehen wir mit dieser Einschätzung/ Zuordnung nicht allein da.

  10. Mhm, also, ob Rock- und Popmusik den Geschmack irgendwelcher Stalinisten treffen und sie sich überhaupt mit deren Formaten befassen, sei dahingestellt. Überhaupt, Stalinisten? So wie hier? Ein bißchen wenigstens?

    http://de.wikipedia.org/wiki/Sozialistischer_Realismus

    Ansonsten glaube ich, die Frage „Was bewegt euch also dazu, ausgerechnet diese als Studioalbum zu definieren?“ ist legitim und kann beantwortet werden, das ist doch keine Besserwisserei, so etwas zu fragen und sich bis zur Beantwortung halt „Jedenfalls hat eine EP in einer Liste der besten Studioalben nichts verloren.“ zu denken.

    Uli hat’s erklärt, alles klar, da wäre doch so eine forsche Entgegnung nicht notwendig gewesen, Mark.

    Ah, und um Geschmack ging es dabei nie… ansonsten: „Geschmacksstalinisten“? Ist das ein der Extremismusklausel entsprechendes Gegenstück zum nicht minder misslungenen „Geschmacksfaschisten“?

    Ansonsten kenne ich nur „Indiespießer“, und das macht Sinn.

  11. Watzlaff sagt:

    Lieber Mark-Oliver,
    man muss doch auf solch eine (meiner Meinung nach berechtigte) Frage nicht gleich so eingeschnappt reagieren. War auch nicht im geringsten als Angriff gedacht, nur denke ich nach wie vor, dass eine EP, die „Kindred“ per Definition ist und bleibt, strenggenommen nicht in eine Albenliste gehört. That’s all. Ist ja auch nicht extrem wichtig, aber ich habe mir die Frage eben mal gestellt, was diese EP im eher zum Studioalbum macht als viele andere EPs die 2012 erschienen sind. Dass sie gut ist, habe ich nicht in Frage gestellt, das sehe ich ja genauso.

  12. Watzlaff sagt:

    „Ah, und um Geschmack ging es dabei nie… ansonsten: “Geschmacksstalinisten”? Ist das ein der Extremismusklausel entsprechendes Gegenstück zum nicht minder misslungenen “Geschmacksfaschisten”?

    Ansonsten kenne ich nur “Indiespießer”, und das macht Sinn.“

    Das sehe ich haargenauso.

  13. Watzlaff sagt:

    Die Erklärung von Uli kann ich zumindest nachvollziehen.

  14. Pascal Weiß sagt:

    @Watzlaff: Alles klar, ich denke, auch bei Mark ist der Kommentar eher aus der Laune heraus (ist ja auch nicht immer ganz einfach, die Intention eines (unbekannten) Lesers sofort richtig zu deuten) entstanden und sollte ebenfalls keinen Angriff in Deine Richtung darstellen.

    Und dann bleibt auch alles friedlich, falls Burial morgen unerwartet in den Leser-Album-Jahrescharts auftauchen sollte;)

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