AUFTOUREN: 2012 – Das Jahr in Tönen

Tame Impala

„Lonerism“

[Modular]

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Das zweite Album manifestiert die Australier um Sänger Kevin Parker und dessen John-Lennon-Stimme endgültig als freie, wilde und reinkarnierte Beatles. „Lonerism“ ist so beatle-esk wie nur vorstellbar. Aber welche Beatles? Vielleicht in etwa die Songs von „Revolver“, zur Zeit des weißen Albums eingespielt? Oder doch die Songs des weißen Albums, zu Abbey-Road-Zeiten aufgenommen? Psychedelisch waren Gitarren und Songs von Tame Impala ja schon auf dem Erstwerk „Innerspeaker“, nun prescht der Psychedelic Rock aber noch gehörig und mit heißem Atem nach vorn. Dabei verlieren Tame Impala nichts von ihrer anachronistisch entspannten Grundhaltung und reflektieren sich als und durch Retro der stilvollsten und gelehrtesten Sorte. Stil bedarf keiner Neuheit, sofern er stilvoll ist. (Sebastian Schreck)


John Talabot

„ƒIN“

[Permanent Vacation]

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Wenn es 2012 im weiten Feld elektronischer Tanzmusik eine Platte gegeben haben sollte, auf die sich nun wirklich alle einigen konnten, dann dürfte das wohl zweifelsohne das Debütalbum von John Talabot gewesen sein. Dabei lag „ƒIN“ erfreulich weit entfernt von jeglicher Anbiederung an den Zeitgeist, der sich in diesem Jahr angesichts des drohenden Weltuntergangs stärker denn je in Richtung Schwarzmalerei und kalter Industrial-Ästhetik verschob. Davon völlig unbeindruckt türmte der Katalane auf seinem Longplayer kleine Meisterwerke aus luftigem, sonnendurchflutetem House zusammen, die zwischen Panda-Bearigen Vocals, Urwaldgeräuschen und DFA-Hipsterdisco wirklich jeden für sich vereinnahmen konnten. Die glitzernde Discokugel verschwamm hier für einen kurzen Moment der Glückseeligkeit mit der rot leuchtenden Sonne am Balearenstrand. (Bastian Heider)


Frank Ocean

„channel ORANGE“

[Island]

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Es mag vom stimmlichen Potential her größere Sänger als Frank Ocean geben, doch wenigen seiner Kollegen gelang in den letzten Jahren eine so aufrichtig emotionale Performance wie „Bad Religion“, nur einem von vielen Highlights dieses Albums: Zum anbetungswürdigen Streicherarrangement schildert er ein denkwürdiges Taxi-Zwiegespräch, das je nach Deutungsweise verschiedene Textebenen wie unerwiderte Liebe, persönliches Coming Out, Islamophobie und allgemeine Religionskritik miteinander vermischt. Nicht nur, dass Ocean Interessanteres zu erzählen hat als Drake und bessere Songs schreibt als The Weeknd. Nein, in seiner einzigartigen Übersetzung alter Soul-Tugenden in ein durch und durch modernes Gewand verleiht er dem oft als als reine Verwertungsmusik verunglimpften Genre ein feuilletonistisches Ansehen, das es in diesem Ausmaß – ohne jetzt große Namen heraufzubeschwören – schon lange nicht mehr besaß. (Bastian Heider)


Grizzly Bear

„Shields“

[Warp]

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Zusammen mit Animal Collective und Dirty Projectors bilden Grizzly Bear inzwischen eine Art magisches Dreieck. Nicht, weil sie ihren Output jeweils in verdächtig ähnlichen Zyklen veröffentlichen und sich nebenbei in Solo- und Nebenprojekten austoben. Nein, viel wichtiger, diese drei Bands eint vor allem, was heute fast zur Rarität verkommen ist: Kontinuität. Grizzly Bear gelingt es auf dem im Vergleich zum tollen Vorgänger „Veckatimest“ deutlich albumfokussierteren „Shields“, die gesammelten Banderfahrungen auszuspielen, ohne den Spielwitz früher Tage einzubüßen. Auch die Stimmen von Daniel Rossen und Ed Droste waren nie besser aufeinander abgestimmt als heute. So begeistert „Shields“ vom turbulenten „Sleeping Ute“ bis zum opulenten Abschluss in „Sun In Your Eyes“ auf ganzer Linie. (Pascal Weiß)


Julia Holter

„Ekstasis“

[RVNG Intl.]

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Während sich Julia Holters Verständnis von Pop auf „Tragedy“ noch regelmäßig zwischen weitläufigen Drones und collagierten Field Recordings verlor, kehrt „Ekstasis“ das Innere nach außen und durchflutet die offenen Räume mit verhaltenem Schönklang. Aus statischen Drones erheben sich expressive Melodiebögen und stoische Mantras geschichteter Stimmen versinken in ätherischen Texturen, aus deren Mitte sich stringente Popsongs („In The Same Room“) ihren Weg ins Freie bahnen. „Ekstasis“ windet sich in stetiger, sachter Bewegung, nimmt überraschende Wendungen und gleitet in zuvor verborgen liegende Verästelungen. Dass es Holter gelingt, ihre Vision in eine universellere Sprache zu übersetzen, ohne sich in vorhersehbaren Strukturen zu flüchten oder ihrer Vorliebe für experimentelle Lo-Fi-Ästhetiken den nötigen Raum zu nehmen, verleiht diesem Artpop-Ansatz, der Referenzpunkte wie Laurie Anderson und Klaus Nomi auf angemessene Distanz zu halten vermag, die nötige Relevanz. (Till Strauf)


Swans

„The Seer“

[Young God]

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Die Lust des Michael Gira am Unheil. „The Seer“ ist fleischgewordener Wahnsinn. Manisches Drängen und Dräuen in jedem sich bietenden Augenblick und ein ständig widerborstiges Ungetüm, das vor nichts und niemandem Halt gemacht hat und sicherlich auch nicht haltmachen wird. Auf 30 Minuten klingenden Wahnsinn im Titelstück folgen hier nahezu zerbrechliche Folkminiaturen, vokales Ostinato oder brachiale Opulenz. Kontroverser wurde in diesem Jahr nur selten mit Musik an sich umgegangen, doch genau hier liegt die Stärke der in großen Teilen in Originalbesetzung aufspielenden Swans: Nie wurden Lärm und Lust so kunstvoll miteinander verwoben wie auf diesem Doppelalbum. (Carl Ackfeld)


Flying Lotus

„Until The Quiet Comes“

[Warp]

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Nach seinem großartigen, aber sperrigen Ausflug in kosmische, free-jazzige Gefilde mit „Cosmogramma“ landet das Mothership wieder auf der Erde. Flying Lotus verschiebt seine musikalischen Koordinaten mit „Until The Quiet Comes“ weiterhin in Richtung Jazz, allerdings diesmal eher in die Richtung seiner Tante Alice Coltrane, deren Harfenspiel man teilweise fast zu hören glaubt. Herausgekommen ist dabei, in Zusammenarbeit mit alten (Niki Randa, Thundercat, Thom Yorke) und neuen MitstreiterInnen (Erykah Badu), nicht weniger als das wohl eingängigste und introspektivste Flying-Lotus-Album. (Mark-Oliver Schröder)


Royal Headache

„Royal Headache“

[R.I.P. Society/XIII/What’s Your Rupture?]

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Nicht nur denjenigen, die den Bruch der Thermals zwischen deren drittem und viertem Werk bis heute nicht verstehen wollen, bereiten die in Sydney beheimateten Royal Headache auf ihrem gleichnamigen Debüt die helle Freude: Mit euphorischen Lo-Fi-Powerpop-Hymnen wie „Psychotic Episode“ oder „Pity“ und verschwenderisch dosiertem Punk-Schweiß im ausgeblichenen Kaputzen-Pulli schütteln sie gleich mehrere Anwärter für die Wahl zum Song des Jahres aus ihren leeren Büchsen. Damit stehen sie derzeit stellvertretend für die spannende australische Musikszene – und darüber hinaus. Nachdem erst kürzlich bekannt wurde, dass Royal Headache im kommenden Jahr (u.a. nebst Superchunk) auf einer 7“-Reihe von Matador vertreten sein werden, macht sich nicht nur das gesamte AUFTOUREN-Team bereits insgeheim Hoffnung, die Band alsbald auch ohne ermüdenden 24-Stunden-Flug erleben zu können. (Pascal Weiß)


Animal Collective

„Centipede Hz“

[Domino]

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Das Album nach dem Album nach dem Album: Wie kaum eine andere Band verknüpfen die New Yorker Animal Collective Eingängigkeit mit Anspruch, entwerfen quietschbunte Welten irgendwo zwischen semipsychedelischem Freak-Folk und Prog-Pop mit Sprungfedern. Dass Panda Bear, Geologist, Avey Tare und Rückkehrer Deakin mit „Centipede Hz“ nun schon das mindestens dritte Meisterwerk in Folge komponiert haben, ohne sich selbst zu kopieren, ist überdies eine herausragende Leistung. Stücke wie das eklektisch wirbelnde „Today’s Supernatural“ oder der dynamische Fruit-Loop „Applesauce“ spielen mit dem Hörer, wickeln ihn um den Finger. „Centipede Hz“ ist vielleicht das bis dato offensichtlichste, zugänglichste Werk des Quartetts, kann aber als Beweis gesehen werden, dass hier nicht alles der reinen, verkopften Kunstfertigkeit wegen passiert. Erstaunlich. (Kevin Holtmann)


Dirty Projectors

„Swing Lo Magellan“

[Domino]

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Wenn Sänger Dave Longstreth mit „Swing Lo Magellan“ das Songwriting in den Vordergrund zu stellen meint, vermuten Ungläubige immer noch intellektualistische Überkonzeptualisierung und Hipster-Prätention, Kunst als Verunglimpfung. Komplimente, die sich sonst nur Radiohead verdienen. Derweil die Spuren auch nach 10 Jahren Bandgeschichte sich nur schief umgarnen, so fügen die Dirty Projectors Folk, Pop, Soul, Electro, Prog, Rock und eine gehörige Portion Eigensinn tatsächlich zu nichts Geringerem als großartigem Songwriting und zauberhaften Songs, zu eingängigem und wichtigem Pop, zu Kunst als Kompliment zusammen, womit sie alle messianische Verehrung rechtfertigen und weiter befeuern. Tanzen kann man dazu mit Hingabe und Übung auch und umso besser. Ohne Antwort zwar, aber nah dran. (Sebastian Schreck)


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21 Kommentare zu “AUFTOUREN: 2012 – Das Jahr in Tönen”

  1. Spence sagt:

    Freut mich sehr, dass Nü Sensae den Sprung schon mal geschafft haben. Und Ty Segall kommt hoffentlich auch noch.

  2. Johannes sagt:

    Schön zu sehen, dass ihr dieses Jahr die gleiche Nummer 1 habt wie ich.

  3. Also, man kann an dem Miguel-Album ja das eine oder andere kritisieren, aber „Do You…?“ als belanglosen Popsong zu bezeichnen, kommt mir dann doch etwas, äh, herzlos vor.

  4. […] den Redaktions-Jahrescharts 2012 und den 30 Alben aus unserer „Geheimen Beute“ gibt es nun noch den ultimativen […]

  5. Saihttam sagt:

    wieder mal ne schöne Liste von euch. Mir persönlich fehlen nur irgendwie The Walkmen. Aber dafür habt ihr Merchandise dabei. Grandioses Album! Wie erstellt ihr eigentlich eine solche Liste? Errechnet ihr die Durchschnittspositionen aus den Einzellisten oder vergebt ihr für jede Position bestimmte Punkte? Oder diskutiert ihr einfach so lange bis ihr euch über jede Position einig seid?

  6. Am Ende ein Mix aus den letzten beiden Möglichkeiten. Und vielen Dank für das Lob, es steckt ne Menge Arbeit dahinter.

  7. Watzlaff sagt:

    Die „Kindred“ von Burial firmiert offiziell als EP. Was bewegt euch also dazu, ausgerechnet diese als Studioalbum zu definieren? Die Dauer allein kanns ja wohl nicht sein, eine halbe Stunde ist nichts ungewöhnliches für eine EP. Jedenfalls hat eine EP in einer Liste der besten Studioalben nichts verloren.

  8. Andererseits gibt es auch Alben, die kürzer sind als 30 Minuten (Royal Headache würde ich z.B. Pi mal Daumen darunter schätzen). Es gibt Alben, die nur aus Marketinggründen als EPs oder Mixtapes bezeichnet werden, die eine Konkatenation zweier separater EPs sind, die eher wie ein Mix oder Mixtape aufgemacht sind als wie ein Album, Mini-Alben, EEPs – sinnvoll kann man das gerade heute oft nicht differenzieren.

    Dass wir eine Liste für Alben und eine andere für EPs haben, hat vor allem praktische Gründe. Für Letztere ist ein Konsens weitaus schwerer in gleicher Stärke zu finden als für Alben, so dass sie in einer einzigen großen Liste untergehen würden. Doch wenn es, wie dieses Jahr gleich dreimal, Ausnahmen gibt die albumartig ein schlüssiges Gesamtwerk darstellen – warum solche herausragende Werke nicht auch albumartig würdigen?

  9. Lieber Watzlaff,
    ich bin immer erfreut, wenn sich Leser so ihre Gedanken machen und uns diese auch mitteilen. Ganz besonders, wenn Sie dies mit dem Wissen die „Wahrheit“ und das einzig „Richtige“, wie Geschmacksstalinisten, auf Ihrer Seite zu haben tun.

    Wir haben lange darüber diskutiert, ob die Burial in die Albumliste gehört und uns für „Ja“ entschieden. Und ja, die Länge war tatsächlich einer der Gründe, die angeführt wurden, vor allem aber die Güte der VÖ. Zudem stehen wir mit dieser Einschätzung/ Zuordnung nicht allein da.

  10. Mhm, also, ob Rock- und Popmusik den Geschmack irgendwelcher Stalinisten treffen und sie sich überhaupt mit deren Formaten befassen, sei dahingestellt. Überhaupt, Stalinisten? So wie hier? Ein bißchen wenigstens?

    http://de.wikipedia.org/wiki/Sozialistischer_Realismus

    Ansonsten glaube ich, die Frage „Was bewegt euch also dazu, ausgerechnet diese als Studioalbum zu definieren?“ ist legitim und kann beantwortet werden, das ist doch keine Besserwisserei, so etwas zu fragen und sich bis zur Beantwortung halt „Jedenfalls hat eine EP in einer Liste der besten Studioalben nichts verloren.“ zu denken.

    Uli hat’s erklärt, alles klar, da wäre doch so eine forsche Entgegnung nicht notwendig gewesen, Mark.

    Ah, und um Geschmack ging es dabei nie… ansonsten: „Geschmacksstalinisten“? Ist das ein der Extremismusklausel entsprechendes Gegenstück zum nicht minder misslungenen „Geschmacksfaschisten“?

    Ansonsten kenne ich nur „Indiespießer“, und das macht Sinn.

  11. Watzlaff sagt:

    Lieber Mark-Oliver,
    man muss doch auf solch eine (meiner Meinung nach berechtigte) Frage nicht gleich so eingeschnappt reagieren. War auch nicht im geringsten als Angriff gedacht, nur denke ich nach wie vor, dass eine EP, die „Kindred“ per Definition ist und bleibt, strenggenommen nicht in eine Albenliste gehört. That’s all. Ist ja auch nicht extrem wichtig, aber ich habe mir die Frage eben mal gestellt, was diese EP im eher zum Studioalbum macht als viele andere EPs die 2012 erschienen sind. Dass sie gut ist, habe ich nicht in Frage gestellt, das sehe ich ja genauso.

  12. Watzlaff sagt:

    „Ah, und um Geschmack ging es dabei nie… ansonsten: “Geschmacksstalinisten”? Ist das ein der Extremismusklausel entsprechendes Gegenstück zum nicht minder misslungenen “Geschmacksfaschisten”?

    Ansonsten kenne ich nur “Indiespießer”, und das macht Sinn.“

    Das sehe ich haargenauso.

  13. Watzlaff sagt:

    Die Erklärung von Uli kann ich zumindest nachvollziehen.

  14. Pascal Weiß sagt:

    @Watzlaff: Alles klar, ich denke, auch bei Mark ist der Kommentar eher aus der Laune heraus (ist ja auch nicht immer ganz einfach, die Intention eines (unbekannten) Lesers sofort richtig zu deuten) entstanden und sollte ebenfalls keinen Angriff in Deine Richtung darstellen.

    Und dann bleibt auch alles friedlich, falls Burial morgen unerwartet in den Leser-Album-Jahrescharts auftauchen sollte;)

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