SwansThe Seer

Mit den Worten „The Childhood Is Over“ endet das somnambulistische Kräftemessen von „Lunacy“, dem ersten Akt von „The Seer“, welches sich über zwei Stunden lang raumgreifend um Ecken und über Kanten breit macht. Michael Gira, der Swans vor nunmehr 30 Jahren gründete, hatte nach dem vorletztjährigen Werk „My Father Will Guide Me Up A Rope To The Sky“ nach mehr verlangt.

„Mehr“, das bedeutet im Angesicht des neuen Albums vor allem mehr Klang, mehr Breite, mehr Gewalt, mehr Angst und Schrecken. Waren die Alben der Swans oder deren zahlreicher Neben- und Soloprojekte von jeher nicht mit sonniger Fröhlichkeit gesegnet, herrscht auf „The Seer“ Dunkelheit finsterster Sorte. So weckt das im kalten Mondlicht flimmernde „Lunacy“ zunächst durchaus Bildvorstellungen nach Casper David Friedrich, doch wenn der Abgesang der Kindheit echohaft vor sich hin glimmt, wird die romantisierende Stimmung schnell ins Gegenteil verkehrt.

Die beinahe erschlagende Masse an Klängen, Instrumenten und Stimmungen wird nur noch getoppt von der Menge an Musikern, neben vielen Swans-Dauergästen und ehemaligen Mitgliedern wie Thor Harris, der auch bei Shearwater die Perkussion betreut, und der zurückgekehrten Jarboe stehen hier unter vielen anderen Karen O von den Yeah Yeah Yeahs, Alan Sparhawk und Mimi Parker von Low und Ben Frost auf der Gästeliste. Die dazugehörige Liste an Klangkörpern liest sich wie ein mitteldickes Konversationslexikon und wenn sich dann noch im über 30-minütigen Titelstück Rhythmik, Schall und Wahnsinn zu einem stoischen Amalgam verbinden, lässt sich die ungeheuerliche Wucht und Konzentration an Eindruck und Wahrnehmung nur schwerlich beschreiben.

Ständig drängt sich ein neuer Gedanke, eine neue unerwartbare Wendung auf; Sounds werden aufbaut, durch Walzen gezwängt und über Zahnräder gespannt, skelettiert und bis zum Gerüst abgenagt, um sich zum Schluss doch wieder aneinander festzumachen. Gira bezeichnet „The Seer“ selbst als nicht zu Ende geführtes Kondensat aller bisherigen Swans-Alben. Dies ist die Platte, die übrig bleibt vom Rest und die wandert, als ewig Unvollendete, sich aus einfacher Gitarrenstruktur zu einem Moloch hin entwickelt, stetig im Wandel und nicht gefeit vor der erneuten Zerfleischung in weitere Bestandteile. Kein Wunder, klingen doch in den am meisten resignativen Momenten selbst die Gitarren wie gewaltige Bohrer, die das Mark der Musik erzittern lassen. „The Seer“ mahlt und stampft wie ein unheilvolles Schlachtschiff, ohne jedoch dessen vordergründige Vehemenz.

Das Album ist geprägt von ständiger Repetition, die immer wieder gleichen, sich zuweilen verstärkenden Motive gleichen einer Maschine, die mit langem, schwerem Rhythmus ihr Ziel erreicht. Doch selbst in der dem Album innewohnenden polternden Struktur fängt sich mit „93 Ave B. Blues“ ein seltsames, improvisiertes Kammerspiel, das von Fern an das asiatische Noh-Theater erinnert und an Nerven und Ohren gleichzeitig zerrt. Das nachfolgende „The Daughter Brings The Water“ wiederum liebäugelt mit dem freien Folk von Angels Of Light und leitet als letztes Stück der ersten Etappe zum konventionellsten „Song For A Warrior“ über, der in seiner schweren Süßlichkeit der spröden Stimme Karen Os eine beinahe festliche Stimmung andichtet.

„The Seer“ frisst sich auf so viele unterschiedliche Arten in die Hirnrinde, dass die ihm zugedachten zwei Stunden Zuhören nicht immer Vergnügen bereiten. Selbst das entfernt an Woven Hand erinnernde „Avatar“ sorgt nicht für ansprechende Ruhepausen, mit Glockenschlägen kündigt sich neues Unheil an und wird prompt in den beiden letzten, wieder wild in alle Richtungen ausschlagenden Stücken erbarmungslos vorgezeigt.

Es ist jedoch diese Lust an der Gewaltigkeit, die „The Seer“ ausmacht, dabei zielt ihre Gewalt aus einem anderen Blickwinkel: dem des Unheils. Es kommt nicht zum offenbaren Kampf, vielmehr zieht Gira die Hörer in die Dunkelheit hinein und lässt sie dort vor Faszination am ganzen Körper zittern. Ein bisschen Geisterbahn, ein wenig verlassener Rummelplatz, sicherlich, doch definitiv nichts für Kinder. Die Kindheit ist schließlich vorbei.

86

Label: Young Gods

Referenzen: Angels Of Light, Coil, Kreng, Woven Hand, Einstürzende Neubauten, Scott Walker, Giles Corey

Links: Facebook | Label

VÖ: 14.09.2012

10 Kommentare zu “Swans – The Seer”

  1. Anfangs wirkt’s (gerade wegen der legeren ersten Hälfte) ja noch unnötig lang, entwickelt sich aber zu einem echt ganz großes Ding. Ich wünschte nur, das wäre auf Vinyl hörbar, ohne dass man mittendrin in jedem langen Stück die Platte umdrehen muss.

  2. Carl Ackfeld sagt:

    Leger find ich im Zusammenhang mit den Album eine durchaus diskussionswürdige Vokabel! Aber ich verstehe durchaus was du meinst.

  3. Hm ja, das trifft’s eigentlich nicht. Es war halt nicht so fokussiert intensiv, wie ich erwartet hatte, auf die langen, repetitiven Teile musste ich mich erstmal einstellen.

  4. Pascal Weiß sagt:

    3er-Vinyl ist bestellt. Mal sehen, wie die das mit dem Titelsong hinbekommen. Ich muss von der ganzen Stimmung echt immer an Scott Walkers „The Drift“ denken.

  5. Lennart sagt:

    Ah, The Drift scheint demnach gut zu sein… liegt schon geraume Zeit bei mir herum, dann sollte ich es wohl endlich einmal hören.

  6. Pascal, laut Discogs sieht das Track Listing für die 3er-LP so aus:

    A1 Lunacy 6:07
    A2 The Apostate Pt. 1 13:18

    B1 The Apostate Pt. 2 9:36
    B2 A Piece Of The Sky Pt. 1 9:36

    C1 A Piece Of The Sky Pt. 2 9:30
    C2 93 Ave. B Blues 5:22
    C3 The Daughter Brings The Water 2:33
    C4 Song For A Warrior 3:58

    D1 Mother Of The World 9:59
    D2 Avatar 8:49

    E1 The Wolf 1:35
    E2 The Seer Pt. 1 18:56

    F1 The Seer Pt. 2 13:17
    F2 The Seer Returns 6:15

  7. Pascal Weiß sagt:

    Dank Dir, Uli. Woran ich bei diesem Album auch immer wieder denken muss (auch wenn das in eine ganz andere Richtung geht) sind Paper Chase.

  8. Pascal Weiß sagt:

    Die Vinyl-LP ist eingetroffen. Habe mir die ersten beiden Seiten gerade direkt über den Kopfhörer rein geschossen. Warum ist „Apostate“ denn auf der CD der Schluss? Funktioniert direkt nach „Lunacy“.

  9. […] ein Rausch. Nachdem sie im letzten Jahr auch auf dem alles überstrahlenden Swans-Album mitwirkten, kehrt der Alltag ein bei Akron/Family. „Sub Verses“ schließt allerdings nicht an […]

  10. […] das Zweitwerk „Penance Soirée“. Es ist schwer zu glauben, dass dort hinter dem Mikrofon nicht Michael Gira steht, um den verstörenden, sich um sich selbst drehenden Riffs seine verzweifelt klingenden […]

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