AUFTOUREN: 2011 – Das Jahr in Tönen

La Dispute

„Wildlife“

[No Sleep]

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Wie das Weitergeben einer Fackel wirkte es, als Thursday jüngst in Hochform ihren Abschied verkündeten. Zeigte sich doch 2011, dass die Zukunft des Post-Hardcore in guten Händen ist, gerade in den Alben der von Thursday beeinflussten und geförderten Bands Touché Amoré und La Dispute. Letztere zeichnen mit „Wildlife“ das niederschmetternde Porträt eines wirtschafts- und sozialdeprimierten Amerikas, endlos verbos sprechschreit die erschütterte Stimme Jordan Dreyers, während sich um ihn Gitarrenläufe ineinander winden und von ungemütlicher Leiserkeit in stockendes Röhren steigern. Eine herrlich trockene, mitunter gar engräumige Produktion sorgt dafür, dass selbst die schönmelodischen Momente einen grau-rauen Anstrich bekommen und bei aller mitreißenden Kraft nie vergessen wird, dass dieses einnehmende Werk alles andere als Partypunk ist. (Uli Eulenbruch)


The Antlers

„Burst Apart“

[Frenchkiss/Cooperative]

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Die Klauen des Hype in der Rockmusik treiben oftmals unvorhersehbare Blüten: Die Bekanntheit der Antlers aus New York z.B. wuchs mit ihrem Zweitwerk „Burst Apart“, das auch nicht weniger traurig und sehnsuchtsvoll verkopft ist als das Debütalbum „Hospice“, immens an. Der Indie-Rock hier wie dort hat allemal alle Aufmerksamkeit verdient: Sänger Peter Silbermans Stimme schwebt über Wolken aus schwirrender Elektronik, knarzigen Gitarren, verschleppten Rhythmen. Post-Rock, weil Burst Apart weit mehr im Sinn hat als zu rocken. Langsam und stolz schreiten warme Geisterstimmen (wie in „No Windows“) und filigrane Gitarrenhits („Every Night My Teeth Are Falling Out“) gemeinsam auf das anscheinend nach Melancholie lechzende Herz der Masse Mensch zu. Trauer macht gern groß und eint … Nein, lieber Konsens, du weißt ja doch, was du tust! Gratulation! (Sebastian Schreck)


Cult Of Youth

„Cult Of Youth“

[Sacred Bones]

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Ungestüm war gestern? Cult Of Youth beweisen das Gegenteil. Musikalische Hilfsgenres wie Shanty-Krach oder Berserker-Pop sind für die Jungs aus Brooklyn mindest genauso zusammengeschustert wie die Einflüsse auf ihr selbstbetiteltes Album. Hier trifft martialische Neofolk-Romantik auf New-Model-Army-Geigen, bellender Sprechgesang auf dauerfeuerndes Trommelgewitter und vergessenes 80er-Lieblingsliedgut auf prasselnde Energie. Beim ersten Hören verstörend, am Ende des Jahres ein überraschendes Lieblingsalbum. (Carl Ackfeld)


John Maus

„We Must Become The Pitiless Censors Of Ourselves“

[Upset! The Rhythm]

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Ein echtes Chamäleon: Auf den ersten – und wahrscheinlich auch zweiten – Blick ist „We Must Become The Pitiless Censors Of Ourselves“ ein lupenreines Synthpop-Album. Die Synthesizer erscheinen derart dominierend, dass alles andere, was sich ihnen nähert, einfach verschluckt wird. Vieles kommt nur teilweise zum Vorschein, seien es der unaufdringlich hallende Gesang oder die angedeuteten Lo-Fi-Anleihen. Doch nach und nach wird klar, dass John Maus hierdurch seine Vision von einer anderen, zukünftigen Welt vermitteln will. Es sind eben nicht die berechenbaren, kalten Beats, die den Takt angeben. Vielmehr erschafft Maus eine mysteriös anmutende Intimität, in der das zuvor Verschluckte wieder an die Oberfläche gespült wird. Eine schöne Vorstellung. (Felix Lammert-Siepmann)


Oneohtrix Point Never

„Replica“

[Software/Cooperative]

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An Aufmerksamkeit mangelte es dem Soloprojekt Daniel Lopatins in diesem Jahr nicht. Es wurde viel geschrieben über „Replica“, sei es schwärmerisch wie im New Yorker oder ausschweifend wie Diederichsen in der TAZ – fasziniert waren sie alle. Und auch wenn man ernsthaft befürchten muss, dass dieses Album sich als klassischer Kritikerliebling entpuppt, ist es ein Unikat wie es 2011 nur wenige gab. Kaum jemand, der in diesem Jahr seine eigene musikalische Sprache so perfektionierte, wie der New Yorker Soundtüftler Lopatin. Soweit das Auge reicht, verdichten 80er-Jahre-Samples sich zu Stücken. „Replica“ ist die Vergangenheitsbewältigung eines Visionärs. Und trotz seines synthetischen Anstriches wirkt dieser ureigene, nebelverhangene Kosmos zu keinem Zeitpunkt seelenlos. Gestern unvorstellbar, heute ein Meisterwerk, in 50 Jahren vielleicht sogar ein Meilenstein der elektronischen Musik. (Constantin Ruecker)


Wild Beasts

„Smother“

[Domino]

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„Wilde Bestien“: Der Name der Band wirkt beim Erstkontakt mit dem schleichenden, ja fast schwebendem Artpop von „Smother“ wie pure Ironie. Erst nach und nach eröffnen sich einem die knisternde Spannung und schwüle Ekstase, die sich hinter diesen Liedern verbergen. Da wären zum einen die Texte, die uneindeutig und verschworen von erotischer Abhängigkeit und sündigen Verlockungen erzählen, zum anderen aber auch die Musik selbst, die sich erst beim zweiten oder dritten Hören vom ruhig daher fließendem Flüsschen zum wilden, schäumenden Strom entwickelt. Neben den beiden großartigen Sängern sind dafür vor allem auch das synkopisch klöppelnde Schlagzeug sowie eine Produktion verantwortlich, die Smother in dichtem Nebel schweben lässt ohne dafür einfach platt aufs derzeit so angesagte Shoegazer-Effektpedal latschen zu müssen. Zweideutiger, verwegener und undurchschaubarer klang in diesem Jahr kein zweites Album. (Bastian Heider)


Ghostpoet

„Peanut Butter Blues & Melancholy Jam“

[Brownswood]

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„Desorientierung“ war im nordamerikanischen HipHop das Zauberwort 2011. Doch während z.B. Clams Casino dafür zu skalierten Vocals und massiver Verzerrung greift,
suggeriert das Debüt des Briten Ghostpoet auch in räumlichem Klarklang eine befremdliche Sinnesverschwimmung. Mit brodelnd intensiver Ruhe vermitteln seine Stücke eine neblig-atmosphärische Großstadtvision, in der die Stimme Obaro Ejimiwes inmitten pulsierender Electro-Lichter und knisternder Echoclaps keinen rechten Anschluss zu finden scheint. Und so besticht „Peanut Butter Blues And Melancholy Jam“ lange Zeit durch eine schwer zu fassende Verwirrungswirkung – bis dann zum Finale mit „Liiines“ doch noch eine astreine Popnummer unter Gitarreneinsatz den Weg aus dem Dunkel bahnt. (Uli Eulenbruch)


Kate Bush

„50 Words For Snow“

[Noble & Brite Ltd]

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Ein Duett mit Elton John, ein anderes Stück, in dem die ebenso britische Ikone Stephen Fry fünfzig verschiedene Wörter für „Schnee“ artikuliert, überhaupt ein Konzeptalbum über die Himmelsflocken – das klingt schon alles potentiell etwas furchtbar. Aber Kate Bush wäre nicht Kate Bush, wenn solche vermeintlichen Extravaganzen nicht alsbald zur Nebensächlichkeit gerieten. So ist das aufs Sommeralbum „Aerial“ folgende Winterwerk „50 Words For Snow“ erneut ein unscheinbar sanftes geworden, das Hörende ohne Eile nach und nach in seine eigene Welt entführt. Für solche Musik, die sich Zeit nimmt um ihre unalltägliche Winterpoesie mit gebührlicher Behutsamkeit, Albernheit und Sinnlichkeit auszubreiten, nimmt man sich schließlich auch selbst gerne Zeit. (Uli Eulenbruch)


Atlas Sound

„Parallax“

[4ad/Beggars]

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Alles wie gehabt: Jedes Jahr im Wechsel ein offizielles Album mit den Kollegen von Deerhunter oder allein als Atlas Sound – und zwischendurch gern Quadrupel-Alben zum freien Download, weil man ja sonst nichts von sich hören lässt. Nein, Bradford Cox kann sich nach wie vor nicht über mangelnde Ideen und Output beklagen, im Gegenteil. Doch gibt es bislang glücklicherweise keinen Trade-Off zwischen Quantität und Qualität. Wo man anderen Künstlern gern mal eine zweijährige Schaffenspause wünscht, ist es hier genau umgekehrt: Der lässige Crooner auf dem Plattencover kommt den ebenfalls mit jedem Werk besser werdenden Deerhunter auf „Parallax“ jedenfalls so nahe wie nie zuvor. (Pascal Weiß)


Dominik Eulberg

„Diorama“

[Traum]

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Es ist verständlich, dass der Wald nicht nur seit jeher Romantiker zu dichterischen Auswüchsen inspiriert, sondern auch den Ruf einer Märchenkulisse anhängen hat. Alle paar Meter führt ein kleiner, mysteriöser Pfad ins Ungewisse, verlockt zur Entdeckungsreise, auf der man eine Unmenge an großen wie kleinen Naturwundern finden kann. 11 derartige Wunder, ob Ameisenstaat oder an Blättern abperlenden Regen, zelebriert Dominik Eulberg wortlos auf „Diorama“. Bestechend elegant entwirft sein warmer Kopfhörertechno einen Mikrokosmos aus Motiven, die alle eigenen Charakter und gar eigene Dynamik zu haben scheinen. In unterschiedlichen Tempos und Bewegungsmustern springen sie, kriechen, schwingen oder pulsieren starr auf der Stelle, letztendlich kommen sie aber als harmonisch interagierendes Ökosystem zusammen – zum Genuss aller Hörenden. (Uli Eulenbruch)


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11 Kommentare zu “AUFTOUREN: 2011 – Das Jahr in Tönen”

  1. Zurück zum Beton sagt:

    Oh ja, feine Rezensiönchen, die gekrönt werden vom Drone-Meister Tim Hecker – macht bislang Lust auf mehr. Wenn ihr allerdings den Hecker unter den Top30 verortet, frage ich mich, wo die Grenzziehung zwischen Abseitigem und nennen wir es mal Konsens vs. Mainstream verläuft. Nicht dass ihr euch da im obskuren Bereich befindet, der doch eher dem eigenen Gusto entspricht anstatt irgendwie Geradlinigkeit vorspielt.

  2. Markus sagt:

    [AUFTOUREN-Markus] Danke für den Kommentar, Beton! Ich versuche das noch einmal etwas zu präzisieren: Die Top50 sind wie immer der Redaktionskonsens, erstellt aus den Einzellisten. Tim Hecker wurde von fast allen gehört und gemocht – und taucht entsprechend hier auf. Gleiches gilt ja für Matana Roberts oder The Caretaker, die einfach innerhalb des Teams eine gewisse Popularität erreicht haben. Eine Vorauswahl unter dem Gesichtspunkt „Bekanntheitsgrad“ gab es nicht – obwohl, und das wird sich zeigen, sicherlich die „großen Namen“ dann tendenziell auch weiter oben in der Liste zu finden sein werden.

    In der „Geheimen Beute“ stellen wir euch dann ab Donnerstag 30 Alben vor, die in der Summe noch viel unbekannter sein dürften. Quasi die Spezialistentipps, die selbst für eine Konsensliste bei uns keine Chance hatten. Konsens bezieht sich dabei aber wirklich nur auf die interne Auswahl.

    Wir hoffen einfach, dass die/der ein- oder andere doch noch ein paar Alben entdecken kann. Und wenn wir entsetztes Kopfschütteln ernten, dann diskutieren wir gerne hier in der Kommentarbox ;)

    An dieser Stelle sei auch noch einmal auf die Möglichkeit hingewiesen, bei den Lesercharts mitzumachen – da zeichnet sich dieses Jahr ein spannendes Kopf-an-Kopf-Rennen ab.

  3. Johannes sagt:

    Insgesamt schon schöne Charts, unterscheiden sich aber nur geringfügig von denen der 10000 anderen Magazine. John Maus hätte nach meinem persönlichen Geschmack durchaus höher sein dürfen.

  4. Uli sagt:

    Das liegt halt in der Natur von Konsenslisten. Wenn man den größten gemeinsamen Nenner zwischen mehr als drei Leuten (und erst recht wie hier mehr als zehn) bildet, wird man da eher weniger Obskuritäten antreffen.

    Aber u.a. dafür kommt ja noch die ‚Geheime Beute‘ – und natürlich halten die Einzellisten aller Abstimmenden noch ein paar Platten bereit, die es sonst garantiert nirgendwo gibt.

    Maus fand ich einen Tick schwächer im Vergleich zum damals völlig ignorierten „Love Is Real“. Weniger tollkühn, aber auch jetzt keine echte Weiterentwicklung, vor allem die Produktion wirkte stellenweise noch unentschlossen. Muss aber sagen, dass die neuen Stücke live besser rüber kamen als die anderen.

  5. Erik sagt:

    Schade, dass diesmal keine Überraschung auf der Nummer 1 ist so wie letztes Jahr. Insgesamt aber gut.

  6. […] der Top Ten List of Top Ten Lists of Top Ten Lists). Ganz wunderbare Listen wie immer auch bei der Crew von Auftouren, bei den White Tapes-Menschen, bei Laut.de oder der Redaktion der Spex. (Was die Magazine […]

  7. […] ihr damit gefülltes, selbstbetiteltes Debüt im vergangenen Jahr in den Top 20 unserer Lieblingsalben landeten, freuen wir uns natürlich sehr, den Ende dieses Monats beginnenden dritten […]

  8. […] mal einen kleinen Auszug aus den bisherigen Bestätigungen aufzuführen: Mit dabei sind u.a. unsere letztjährige Nr. 1 Destroyer, die noisepoppigen Fuck Buttons, Dirty Three (mit Warren Ellis und Jim White!), […]

  9. […] mal einen kleinen Auszug aus den bisherigen Bestätigungen aufzuführen: Mit dabei sind u.a. unsere letztjährige Nr. 1 Destroyer, die noisepoppigen Fuck Buttons, Dirty Three (mit Warren Ellis und Jim White!), […]

  10. […] den Redaktions-Jahrescharts 2011 und den 30 Alben aus unserer „Geheimen Beute“ gibt es nun noch den ultimativen […]

  11. […] sich nach wochenlangem Abstimmen, hochintellektuellem Debattieren und Haare ziehen endlich auf eine Jahresendliste 2011 geeinigt hat, in der sich alle einigermaßen stark vertreten […]

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