5. Dezember 2011
AUFTOUREN: 2011 – Das Jahr in Tönen

40 |
Iceage „New Brigade“ [XL/Beggars Group] |
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Iceage aus Kopenhagen liefern mit „New Brigade„ eine verdammt clevere Variante davon ab, wie Post-Punk im Jahr 2011 klingen kann. Die glatte Ästhetik von Wire trifft auf die Ungeschliffenheit der frühen US-Hardcore-Szene. Und auch hier spielt der Gesang nur eine Nebenrolle: Das Album ist durchzogen mit bis zum Anschlag verzerrten Gitarren und gnadenlosem Drumming, wie man es so zuletzt zum Beispiel bei No Age hören konnte. Iceage versuchen zu keinem Zeitpunkt, annähernd ihre Talente in Bahnen zu lenken, in ihrem jugendlichen Elan verschießen sie ihr Pulver in gerade einmal 24 Minuten. 24 Minuten jedoch, die voller Explosivität und Hingabe stecken. (Felix Lammert-Siepmann) |
39 |
Julianna Barwick „The Magic Place“ [Asthmatic Kitty] |
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Am Anfang hängt nur die entrückte Stimme Julianna Barwicks im Raum. Erst alleine, dann zweifach, drei-, vierfach – gut 90% ihres zweiten Albums sind A-capella-Gesang, den sie in geschichteten Loops zu andersweltlich schönen Chören sequenziert. Ob mit oder ohne spärlich augmentierenden Begleitinstrumenten, Barwick verwebt ihre minimalistische Palette aus Melodiefäden zu sanft-komplexen Ambientwelten, in denen man bis zur Kopfspitze versinken kann. Und die selbst dann eine erhebende Sakralität vermitteln könnten, wenn sie nicht himmelhoch nachhallten als würden sie in der größten Kathedrale der Welt aufgeführt. (Uli Eulenbruch) |
38 |
The Weeknd „House Of Balloons“ [Eigenveröffentlichung] |
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Die Verneinung von Geschmacksgrenzen nimmt neue Formen an: Der Untergrund hat 2011 den 90er-Jahre-R’n’B wiederentdeckt, diese dauererigierte und verkitschte Form des musikalischen Geschlechtsverkehrs. Abel Tesfaye aus Toronto hat mit diesem vollends dekadenten Gratis-Mixtape gewiss textlich kein Wunderwerk vollbracht, aber alleine für die musikalische Innovation gebührt dem Protegé von Drake allerhöchster Respekt. Auf neun Tracks dekliniert er Zerrissenheit. Mit einer Ästhetik, die scheinbar zunächst bloß Oberfläche liefert: Aufgeräumte Beats, kristallklare R’n’B-Vocals und dröhnende Bässe. Das Schillernde wird permanent gebrochen, bei aller polierten Eleganz sind die Songs durchnässt von Abgründen. Dumpfer Hall durchzieht die Autotune-Gesänge, die Atmosphäre trägt tiefe Augenränder und schleift diesen Hangover-Pop eigenständig. Die Zukunft mag The Weeknd zwar nicht alleine gehören, die Gegenwart aber sehr wohl. (Markus Wiludda) |
37 |
Roman Flügel „Fatty Folders“ [Dial] |
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Roman Flügel kommt nicht einmal ins Schwitzen, obwohl „Fatty Folders“ quasi das Zirkeltraining der Klubmusik ist. Vom Sitzen in die stehende Position, rein in die Disko, direkt wieder auf die Couch. Tanzen, träumen und dabei immer so tun, als wäre all das nun wirklich keine Anstrengung. Romans reifstes Werk vereint ganz unterschiedliche Eskalationsstufen schwingender Beine, generiert Überschwang und ist doch nicht getrimmt auf die maximale Funktionstauglichkeit. Trockene Technobeats prallen auf unverblümt poppige Melodielinien, sind mal fruchtig, mal eher steril und voll klirrendem Geläut. Sein Debüt unter bürgerlichem Namen schüttelt spielend alle Biederkeit ab und verwirft die Grenzen zwischen Techno und House und allem drum herum. Gerade diese enorme Bandbreite elektronischer Clubmusik überzeugt. Hoffentlich hält das Deo. (Markus Wiludda) |
36 |
DELS „Gob“ [Big Dada] |
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Auch nachdem das Kapitel Grime von wesentlichen Leitfiguren wie Dizzee Rascal nun schon seit Längerem für beendet erklärt wurde, wuchern im britischen Niemandsland zwischen HipHop und Electronica immer wieder ungemein resistente und durchschlagskräftige Bastarde aus der Betonwüste. Der junge MC Kieren Dickens zum Beispiel vereint auf seinem Debütalbum höchst unterschiedliche Produzenten wie Micachu, Kwes und Hot Chips Joe Goddard zu einem ebenso comichaft bunten wie windschiefen Soundpotpourri. Doch nicht nur musikalisch ist „GOB” ein Clash von scheinbar Unvereinbarem. Textlich resultiert der Gegensatz von komischen Kindheitsfantasien und düsterer Sozialbeobachtung in einem eindrucksvollen Feuerwerk schräger Sprachspiele. Radikaler und vor allem substantieller war auch der vieldiskutierte Odd-Future-Häuptling Tyler in diesem Jahr nicht. (Bastian Heider) |
35 |
Radiohead „The King Of Limbs“ [XL/Beggars Group] |
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Viel wurde „The King Of Limbs“ angelastet: Acht Tracks seien zu wenig, das Album ja beinahe ein Yorke-Solowerk, der Schlagzeuger wohl gar nicht mehr in der Band, es gebe nicht genügend Gitarren … All das ist ziemlicher Quatsch. Die Spielzeit entspricht der klassischen LP-Länge, wer genau welchen Sound beisteuerte, ist bei Radiohead nie genau zu sagen und live präsentierten sich die Oxforder mit bis zu drei Gitarren und zwei Schlagzeugen. Das Album erweitert den Bandkatalog um auf Rhythmus fixiert Kleinode, wurzelartig Wucherndes wie hr size=“1″„Bloom“ und „Feral“, aber auch in luftige Regionen Strebendes wie „Codex“ und „Seperator“. Dass Radiohead damit nicht mehr auf der Höhe der Zeit sind, sollte 11 Jahre nach „Kid A“ nur Ewiggestrige zu Unkereien veranlassen. (Lennart Thiem) |
34 |
Rustie „Glass Swords“ [Warp] |
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Elektronische Musik läuft oftmals Gefahr, zu bloßer Gebrauchs- und Hintergrundmusik degradiert zu werden. Gut, dass es Künstler wie den aus Glasgow stammenden Russell Whyte gibt. Unter seinem Pseudonym Rustie produziert er flirrende, grellbunte Landschaften, die eine gewisse Nintendo- und Sega-Sozialisation keineswegs leugnen. Es fiept also, es blubbert, sein Album „Glass Swords“ ist weit mehr als der Soundtrack für den Fahrstuhl. Musik, die den Hörer in 2D-Welten beamt, ohne Rücksicht auf Verluste. Seine Songs eignen sich prima für den alltäglichen Jump’n’Run zur Arbeit oder zur Uni, vorbei an fiesen Endgegnern und miesen Fallen. „Glass Swords“ kreiert eine kleine Welt um den Rezipienten, vereinnahmt und lässt einen nur schwer wieder los. File under: Wonky-Electro für Menschen, die immer noch gerne mit Legosteinen und Gameboys spielen und dabei selbstzufrieden Hubba Bubba kauen. (Kevin Holtmann) |
33 |
The Field „Looping State Of Mind“ [Kompakt] |
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Axel Willner alias The Field loopt sich um seinen State Of Mind, oder besser: Der Loop ist sein State Of Mind. Er war es schon immer und er wird es immer mehr: Mehr Hypnose, mehr Sogwirkung, mehr lichtdurchstrahlte Größe, mehr Soundschichten. Kurzum: Mehr Loop. Minimal Techno, wie er kaum krautiger sein könnte und wie er sich immer wieder neu zu elegant kreisenden und tief ausholenden Klanggemälden zusammensetzt. Nicht bloß die Alben untereinander ähneln von Cover bis Inhalt, auch die Tracks innerhalb der Werke setzen auf Wiedererkennung und Endlosreproduktion ihrer selbst. Alles dreht sich. Alles fließt. (Sebastian Schreck) |
32 |
Josh T. Pearson „Last Of The Country Gentlemen“ [Mute] |
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Trauriger, flehentlicher, resignierender als Josh T. Pearson kann kaum jemand musizieren. Auf dem ersten eigenen Album sorgt der Musiker für permanente Tränenziehermomente, die so tief unter die Haut gehen, dass Mitfühlen und Mitleiden in jeder sich bietenden Gelegenheit vorprogrammiert sind. Gitarre, eine Stimme, die sich nicht so recht entscheiden kann, ob sie bebt oder barmt und Texte voller innerer Zerissenheit: Kein Sänger kämpft auf solch intime Weise mit seinen eigenen Dämonen und zerfleischt sich so gekonnt selbst vor seinem Publikum. Der Hörer aber schwelgt in Demut vor dem Letzten seiner Art und neigt sein Haupt in Ehrfurcht erstarrt. (Carl Ackfeld) |
31 |
Tim Hecker „Ravedeath, 1972“ [Kranky] |
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Tim Hecker ist einer der wenigen Stars in der heutigen Drone- und Noiseszene. Seit inzwischen fast 10 Jahren veröffentlicht er in schöner Regelmäßigkeit die wundervollsten Alben dieses recht unpopulären Genres – nur Christian Fennesz, William Basinski oder Philip Jeck könnten dies überhaupt von sich behaupten. Und auch „Ravedeath, 1972“ setzte in diesem Jahr wieder Maßstäbe in Sachen Ideenreichtum und Einzigartigkeit, ohne dabei völlig zu verstören. Denn trotz der schneidenden und bohrenden Noiseattacken bleiben Heckers Stücke immer auf der guten Seite, laufen nie Gefahr, die Schönheit zu verachten. Gleiches gilt im Übrigen auch für „Dropped Pianos“, das zweite 2011 auf Kranky erschienene Album Tim Heckers. (Constantin Rücker) |
Oh ja, feine Rezensiönchen, die gekrönt werden vom Drone-Meister Tim Hecker – macht bislang Lust auf mehr. Wenn ihr allerdings den Hecker unter den Top30 verortet, frage ich mich, wo die Grenzziehung zwischen Abseitigem und nennen wir es mal Konsens vs. Mainstream verläuft. Nicht dass ihr euch da im obskuren Bereich befindet, der doch eher dem eigenen Gusto entspricht anstatt irgendwie Geradlinigkeit vorspielt.
[AUFTOUREN-Markus] Danke für den Kommentar, Beton! Ich versuche das noch einmal etwas zu präzisieren: Die Top50 sind wie immer der Redaktionskonsens, erstellt aus den Einzellisten. Tim Hecker wurde von fast allen gehört und gemocht – und taucht entsprechend hier auf. Gleiches gilt ja für Matana Roberts oder The Caretaker, die einfach innerhalb des Teams eine gewisse Popularität erreicht haben. Eine Vorauswahl unter dem Gesichtspunkt „Bekanntheitsgrad“ gab es nicht – obwohl, und das wird sich zeigen, sicherlich die „großen Namen“ dann tendenziell auch weiter oben in der Liste zu finden sein werden.
In der „Geheimen Beute“ stellen wir euch dann ab Donnerstag 30 Alben vor, die in der Summe noch viel unbekannter sein dürften. Quasi die Spezialistentipps, die selbst für eine Konsensliste bei uns keine Chance hatten. Konsens bezieht sich dabei aber wirklich nur auf die interne Auswahl.
Wir hoffen einfach, dass die/der ein- oder andere doch noch ein paar Alben entdecken kann. Und wenn wir entsetztes Kopfschütteln ernten, dann diskutieren wir gerne hier in der Kommentarbox ;)
An dieser Stelle sei auch noch einmal auf die Möglichkeit hingewiesen, bei den Lesercharts mitzumachen – da zeichnet sich dieses Jahr ein spannendes Kopf-an-Kopf-Rennen ab.
Insgesamt schon schöne Charts, unterscheiden sich aber nur geringfügig von denen der 10000 anderen Magazine. John Maus hätte nach meinem persönlichen Geschmack durchaus höher sein dürfen.
Das liegt halt in der Natur von Konsenslisten. Wenn man den größten gemeinsamen Nenner zwischen mehr als drei Leuten (und erst recht wie hier mehr als zehn) bildet, wird man da eher weniger Obskuritäten antreffen.
Aber u.a. dafür kommt ja noch die ‚Geheime Beute‘ – und natürlich halten die Einzellisten aller Abstimmenden noch ein paar Platten bereit, die es sonst garantiert nirgendwo gibt.
Maus fand ich einen Tick schwächer im Vergleich zum damals völlig ignorierten „Love Is Real“. Weniger tollkühn, aber auch jetzt keine echte Weiterentwicklung, vor allem die Produktion wirkte stellenweise noch unentschlossen. Muss aber sagen, dass die neuen Stücke live besser rüber kamen als die anderen.
Schade, dass diesmal keine Überraschung auf der Nummer 1 ist so wie letztes Jahr. Insgesamt aber gut.
[…] der Top Ten List of Top Ten Lists of Top Ten Lists). Ganz wunderbare Listen wie immer auch bei der Crew von Auftouren, bei den White Tapes-Menschen, bei Laut.de oder der Redaktion der Spex. (Was die Magazine […]
[…] ihr damit gefülltes, selbstbetiteltes Debüt im vergangenen Jahr in den Top 20 unserer Lieblingsalben landeten, freuen wir uns natürlich sehr, den Ende dieses Monats beginnenden dritten […]
[…] mal einen kleinen Auszug aus den bisherigen Bestätigungen aufzuführen: Mit dabei sind u.a. unsere letztjährige Nr. 1 Destroyer, die noisepoppigen Fuck Buttons, Dirty Three (mit Warren Ellis und Jim White!), […]
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[…] den Redaktions-Jahrescharts 2011 und den 30 Alben aus unserer „Geheimen Beute“ gibt es nun noch den ultimativen […]
[…] sich nach wochenlangem Abstimmen, hochintellektuellem Debattieren und Haare ziehen endlich auf eine Jahresendliste 2011 geeinigt hat, in der sich alle einigermaßen stark vertreten […]