Neo-R'n'B 2014Glücksjahr für die Intimität

Bei allen Differenzen konnte man in den Jahresbestenlisten vieler Redaktionen doch einen Konsens diagnostizieren. 2014 war, neben der Rückkehr vieler alter Größen, letzten Endes das Jahr des neuen R´n´B, dessen ungefähre Soundkoordinaten schon vorher fassbar waren. Die neuen ProtagonistInnen der Genretransformation (im Singer/Songwriter-Kontext exemplifizierte wohl Chet Faker am besten den Paradigmenwechsel; hier lautete das Motto: weg von der Akustikklampfe, her mit den Beats!) im R´n´B-Sektor prophezeite etwa Musikexpress-Chefredakteur Albert Koch im Januar vergangenen Jahres in einem Kurz-Essay.
Rückblickend waren es vor allem die Debütalben von Banks und FKA twigs, die 2014 als wegweisend für die elektronische Aufladung der Black Music gelten können. Das ist keineswegs eine Leugnung der Wurzeln, da das Genre ohnehin immer dank innovatorischer Produzenten wie Timbaland wandlungsfähig bleibt und ihm stets eine hybride Tendenz innewohnt (als einen aktuellen Beleg für die Anknüpfbarkeit des Genres könnte man zum Beispiel Soulqueen Mary J. Blige anführen, die für ihre aktuelle Platte den Detroit House von Disclosure verpflichtete). Was war aber bei SOHN und Konsorten musikalisch so essenziell anders?
„[…]Würde man bei den Aufnahmen der Neo-R’n’B-Musiker die Gesangsspuren stummschalten, übrig bliebe eine minimalistische, basslastige elektronische Musik, die für sich selbst steht“, schrieb Koch. Diese Einschätzung hat sich insbesondere im Hinblick auf SOHN als adäquat erwiesen, der nicht nur für Banks und andere mittlerweile etablierte Namen wie Kwabs. produziert, sondern auch genug Material gesammelt hatte, um 2014 seinen eigenen elektrifizierten Düstersoul auf Longplayer-Format pressen zu können. Dennoch: Der Sound dieser neuen R´n´B-Figuren präsentierte sich dezidiert dezent, war aber in allen Varianten immer noch maximaler als die vitalste Komposition von The xx. Bei Banks geriet das musikalische Gerüst mit „Goddess“ perfektionistischer und konventionell poppiger als bei FKA twigs, deren Soundästhetik auf „LP1“ im Vergleich einen Hauch kantiger und verruchter ausfiel – und vor allem intimer. Sexualität war der Topos schlechthin, allerdings in der Hinsicht, dass man vor allem alleine ganz viel Spaß haben konnte.
FKA twigs, deren Porträts selten ohne Aaliyah-Rekurs auskamen (obwohl sie doch alles andere als eine Epigonin der früh verstorbenen Amerikanerin ist), evozierte eine sehr subjektiv ausgefallene Körperkunde, die im Schlusslicht „Kicks“ mit folgendem Statement endete: „When I am alone, I don´t need you. I love my touch.“ Twigs entsagte auf dieser Weise, wenn man so will, dem Entsagungsprinzip. Zwischen Heliumstimmen wurde fleißig gehaucht und Tahliah Barnett schien sich letzten Endes zu fragen: Warum eigentlich auf den Anderen warten, wenn es doch auch solo geht? Der Song baute eine kompositorische Spannung auf, die Selbstbefriedigung so auratisch existentiell präsentierte, dass plötzlich alle Rap-Albernheiten, die man in Bezug auf dieses Thema zur Genüge kennt, auf einmal peinlich pubertär erschienen. Die Antizipation, beziehungsweise die Hoffnung von Koch – die Ablösung eines Soul-Habitus, „der Männer als Sexmaschinen und Frauen als deren willige Dienerinnen darstellte“ – dürfte erfüllt worden sein. Selten klang eine R´n´B-Scheibe so souverän und emanzipiert – und simultan so verwundbar. Generell präsentierte „LP1“ einen selbstbewussten Erforschungswillen des eigenen Körpers (was sich auch im eigenwilligen Tanzstil von Barnett herauskristallisierte).
Unerwähnt blieb in Kochs Ausblick jedoch das Duo 18+, das auf seinem Debüt „Trust“ R´n´B-Sounds mit mal luftigem, mal stoischem Trap verband und auch mit ausgefallen mutigen Songideen überraschen konnte. Auf der Nummer „Crow“ loopten 18+ etwa ganze drei Minuten lang das Krächzen einer Krähe, bei „Nectar“ meinte man, orgiastischem Stöhnen zu lauschen. Lyrisch verzichteten auch sie auf das konventionelle, gruppenkombatible Anschmachten. Manche Zeilen hätten auch aus der Feder von FKA twigs stammen können: „What I do when you ain´t home […] I can play all day, with my eyes shut, with you on my mind all the time“, singsprach Sängerin Samia und klang dabei mitunter so kühl, dass man glauben konnte, auch ihr sei es eigentlich egal, ob noch jemand bei ihr vorbeikäme. Denn auch wenn in dem hier zitierten Eröffnungstrack „All The Time“ einige Fantasien einer Frau explizit zu werden schienen, die wirklich so gar nicht nach „williger Dienerin“ klang, blieb größtenteils unklar, aus welcher Geschlechterperspektive eigentlich berichtet wurde. Diese Ambiguität schien sich auch immer mehr im (nicht nur progressiven) Rap zu konstituieren und es ließe sich durchaus darüber diskutieren, ob diese doch sehr begrüßenswerte Entwicklung nicht auch ein wenig diversen Outings geschuldet ist.
Der exotische Katalog von Hyperdub, einem der experimentierfreudigsten Labels in London, offerierte ebenfalls ein Stück grenzenauslotenden R´n´B. Cooly G präsentierte mit „Wait ‚Til Night“ ihren Debütnachfolger, der die Fantasie und intime Innenwelt ebenfalls der grellen, prall gefüllten Clubszene vorzuziehen schien. Der Sound war auch hier düster, enigmatisch und distinktiv – ohne dabei ihre klar erkennbaren US-Einflüsse (R. Kelly) leugnen zu wollen. Bei Cooly G waren die Geschlechtszuschreibungen zwar recht klar konturiert, doch auch hier entpuppte sich der Sound als unfassbar entrückt und sorgsam vertrackt (Paradebeispiel die Nummer „Dancing“ – der Titel täuscht!). Die flächendeckend minimalistischen Tracks verorteten sich jenseits einer Produktionslogik, die einzig und allein auf den Dancefloor schielt. „It´s so deep, I can´t sleep, you´re making me weak“ – an sich plumpe Zeilen, die direkt mit der Tür ins Haus fallen, aber von Merrisa Campbell gesungen klangen sie tatsächlich großartig. Songs wie „Fuck With You“ wirkten nahezu wie im Delirium aufgenommen und wogen sich in einer Offenheit, die vor allem klar machte: Über Sex kann man wohl in der Tat nur auf Englisch singen.
Dass Intimität und Sexualität im R´n´B schon immer eine vorgeordnete Rolle spielten, ist klar. Aber selten wurde der eigene Körper so interessant eingestuft und konnte eine primäre Rolle einnehmen. Nicht immer hat man es schließlich mit Tracks zu tun, bei denen man das Gefühl hat, unsichtbarer Zeuge von leise geflüsterten, tiefen Fantasien, besser noch unterbewussten Selbstgesprächen zu sein. Alle diese Platten waren zum Teil wie ein kleiner Blick in ein fremdes Schlafzimmer: intim, eigen, geheimnisvoll, zum Teil sicherlich leicht verstörend, aber auch gerade deswegen seltsam vertraut. Dass sich diese Tendenz zum Teil mit so inspirierenden und innovativen Soundentwürfen verband, sorgte für ein echtes R´n´B-Glücksjahr.