Der Liedschatten (45): Wer war es?

Es ist an der Zeit für ein weiteres Eingeständnis: Ab und zu wird in dieser Reihe versucht, vom Charakter der behandelten Stücke (Nr. 1 Hits der BRD seit 1959 in chronologischer Abfolge) Aussagen über die inhaltlichen und ästhetischen Vorlieben der Menschen zu treffen, die sie erwarben. Nicht selten wird es dabei ein wenig polemisch.

Die dabei geäußerte Kritik soll nun keinesfalls relativiert werden. Aber auf welch wackeligem Grund eine jede Einschätzung steht, die letztendlich nur auf einer Interpretation des Stückes an sich basiert, zeigt eine Überlegung, die mit der heutigen Folge aufkommt. Konnten wir uns in der letzten Woche noch mit dem für die oberen Regionen der Charts eher untypischen „The Last Time“ der Rolling Stones auseinandersetzen, so ist die Welt nun plötzlich wieder in Ordnung. In diesem Fall heißt das: die meisten Verkäufe im Sommer 1965 erzielte ein schlichtes, sanftes und äußerst gemütsvolles Stück Instrumentalmusik.

Dieses Schwanken zwischen vermeintlichen Extremen zeichnet das Jahr 1965 in seiner Gesamtheit vor den bisherigen aus. Auf eine dem klassischen Schlager verhaftete Schnulze wie Ronnys „Kleine Annabell“ folgt Petula Clarks in Relation dazu progressive Hymne auf die Großstadt „Downtown“, danach die erwähnten Rolling Stones mit einem schnellen, für damalige Ohren brutalen Stück voller Abgeklärtheit, bar jeglicher Romantik und obendrein noch von merkwürdig frisierten jungen Männern vorgetragen. Darauf folgte, sozusagen als Sommerhit, Nini Rossos „Il Silenzio“, dem wir uns gleich noch widmen werden.

Vorher aber wäre es interessant zu wissen, wer diese Singles erwarb. Denn gekauft wurden sie, und nicht wenig. Um an die Spitze der Charts zu gelangen, war oft ein Absatz von bis zu einer Million Exemplaren notwendig. Wie aber kam diese Zahl zustande?

Naheliegend wäre es, hinter jedem Stück eine diesem entsprechende Käuferschaft zu vermuten, bei den Stones und Beatles also Jugendliche, bei Freddy Quinn zum Beispiel deren Eltern. Eine solche Herleitung ist aber stark durch eine Gegenwart geprägt, in der zahlreiche verschiedene, den jeweiligen Zielgruppen angepasste Genres bestehen.

Es kann zusätzlich davon ausgegangen werden, dass Menschen ihren meist in jungen Jahren entwickelten Vorlieben treu bleiben. Wer in den 60ern Rex Gildo mochte, tut dies wahrscheinlich auch noch heute. Ältere Menschen hören also keine Musik für ältere Menschen, das ist ein Trugschluss, sondern Musik aus ihrer Jugend, die für genau diese bestimmt war. Und egal, wen und was man bevorzugte, Gildo oder Beatles, beides war zu dieser Zeit neu und, glaubt man den Titelbildern der damaligen BRAVO-Ausgaben, gleichermaßen jugendlich. Kann also angenommen werden, die beiden vermeintlichen Pole „Schlager“ und „Pop“ hätten noch gar nicht existiert, zumindest nicht aus Sicht der Konsumenten? Waren diese bei so unterschiedlichen Künstlern identisch? Wurden Singles deshalb gekauft, weil sie ein zeitgemäßes Medium waren, dessen Erwerb der erlangte Wohlstand ermöglichte, überließ man den Inhalt der Frage, was neu und „populär“ war? Warum also nicht in der einen Woche Ronny erstehen, danach dann plötzlich Petula Clark? So viele Alternativen zum Aktuellen wie in späteren Jahrzehnten gab es ja noch nicht, weder in Form eines Backkataloges noch durch einen weitestgehend unabhängig agierenden Zweig der Musikwirtschaft. So ließe sich erklären, wie es zu stilistisch dermaßen breit aufgestellten Charts kommen konnte: Es gab einfach keine musikalischen Lager, kein reflektiertes Hören.

Anders sieht es aus, fasst man die Erzeugnisse der Musikindustrie als Konsumgut auf, dessen sich alle Menschen, egal welchen Alters, gerne bedienen. 1970 lebten in der BRD ungefähr 55 Millionen Menschen, fünf Jahre vorher werden es nicht sehr viel weniger gewesen sein. Und Alternativen zu dem, was man heute als „physischen Tonträgermarkt“ bezeichnet, gab es wenige. Da konnten dann eine Million Schlagerfans neben einer Million Menschen existieren, die lieber die Stones mochten, vielleicht auch 500.000, denen beides lieb war, oder 300.000 … Wüsste man es genauer, wären eventuell Rückschlüsse darauf möglich, warum welche Musik erworben wurde, welche Erwartungen sich mit ihr verbanden und welche Funktionen sie für wen erfüllten.

Vielleicht wurde aber einfach kommerzielle Musik, egal, ob Pop oder Schlager, von der Elterngeneration aus konservativen Vorbehalten derartig abgelehnt, dass deren Inhalte sekundär wurden und es nie eine solcherart identitätsstiftende Beschäftigung mit Musik gab, wie sie heute zumindest möglich ist. Demnach wäre dann alles, Schlager, Beat, Rock’n’Roll, gleich „schlimm“, weil gleich beliebt gewesen, vielleicht auch noch bei denselben Menschen, deren Liebe zur Musik dann, wie oben schon erwähnt, über den Genres stand … Klarheit erlangen wir so nicht.

Und wer weiß, vielleicht lassen sich solche Fragen durch empirische Studien klären, eventuell wurde das bereits getan, in diesem Fall wäre der Autor für Hinweise dankbar. Im Rahmen des Liedschattens wird uns das aber leider nicht möglich sein, hören wir also lieber noch ein wenig Musik.

Nini Rosso “Il Silenzio”, Juni – Oktober 1965

In einem Land, in dem dieses Stück Musik 15 Wochen lang an der Spitze der Charts steht, geschehen entweder a.) keine Revolutionen – dies ist dann der Fall, wenn die KäuferInnen auch die Rolling Stones erwarben – oder b.) keine Revolutionen, obwohl zwar einige Menschen lieber Rolling Stones kauften, was nun aber auch nicht dazu führt, irgendetwas Grundlegendes an der bestehenden Gesellschaftsordnung zu ändern. Was lernen wir daraus? Erwarten wir lieber keine von der Musik hervorgerufenen Wunder, erst recht nicht aufrührerischer Natur. Wundersam hingegen ist der Sanftmut dieser Melodie.

http://www.youtube.com/watch?v=g8AjVsIFBVs

rossi_silencioDie „Il Silenzio“ betitelte Komposition des Trompeters Nini Rosso aus Italien basiert auf einem „Taps“ genannten Stück. Es findet seit dem amerikanischen Bürgerkrieg als Signal für den „Zapfenstreich“ und bei Beerdigungen Verwendung. Im zweiten Falle muss das Licht nicht mehr gelöscht werden, im ersten sollte dies geschehen, Bierfass zu, liebe Soldaten, und gute Nacht, morgen ist auch noch ein Tag, und dann gibt es wieder allerlei Kriegshandwerk zu verrichten, das dann mehr oder weniger ebenso idyllisch und frei von Verwirrungen ist wie dieses Stück. Sicher eher weniger. Sehr viel mehr braucht man dazu nicht zu sagen, nein, da spricht „Il Silenzio“, die Stille, für sich.

Wer sich aber noch ein wenig mit Krieg und Leid befassen möchte, der oder dem sei die unter diesem Link zu erreichende Aktion einer großen deutschsprachigen Boulevardzeitung ans Herz gelegt, dort lässt sich mehr lernen, als der Autor an dieser Stelle noch mitteilen könnte. Die Chose steht unter dem Motto „Feldpost für unsere Soldaten“ und vermag aufs Beste mit Sätzen wie „Ich bete jeden Abend für Euch, liebe Soldaten. Mein Großvater war auch im Krieg, dort hat er ein Bein verloren. Ich weiß also, wie schlimm Krieg ist, welche Folgen er haben kann. Jeden Abend bete ich dafür, dass Ihr gesund heimkommt. Ihr seid die Nachfolger meines Großvaters, für den ich früher oft gebetet habe“ oder „Danke, dass ihr so einen tollen Job macht. Irgendwer muss ja dem Muselmann endlich mal die Harke zeigen, weil, sonst jault ja in Deutschland bald nur noch der Imam vom Minarett. Und wenn ihr den zottelbärtigen Taliban gleich vor Ort abserviert, dann kann der sich hier bei uns nicht mehr in die Luft sprengen. Super. Weiter so und nochmals : danke!“ zu unterhalten. Aber nicht vergessen, Krieg ist nicht nur ehrenvoll und spaßig! „Es ist unvollstellbar und macht mich unendlich traurig, dass so viele junge Menschen auf diese Weise ihr Leben verloren. Ein für alle schönes Event musste so enden.“

2 Kommentare zu “Der Liedschatten (45): Wer war es?”

  1. 1965 scheint wirklich ein wildes Jahr gewesen zu sein. Die Stones und darauf dann eine schwermütig trompetete Sehnsuchtsmelodie. Das hört sich für mich nach spannenderen Zeiten an, abwechslungsreicher, widersprüchlicher als der R’n’B-Pop-Rap-Schmafu unserer Tage.

    Ich glaube, man sollte die Flexibilität des Musikhörers nicht gering schätzen. Es würde mich wirklich nicht wundern, wenn viele sowohl die Stones als auch Nini Rosso kauften. Es hat manchmal Vorteile, kein Musiksnob zu sein und alles zu erlauschen, was aus dem Radio pfeift und halbwegs gefällt. Solch geradezu unverschämte Unverkrampftheit kann sich nur der leisten, der Musik gefühlsecht wahrnimmt, ohne die Hirnwindungen zu strapazieren. Fast beneidenswert.

    Hansi Hinterseer oder Guns ’n Roses, Metallica oder PUR – was gefällt, gefällt halt. Und wenn ich den Durchschnittsheini umkrempeln wollte, ich glaube, dass es wichtigere Dinge gäbe als die Befreiung von zweifelhaftem Geschmack.

  2. Wild sind diese musikalischen Abfolgen in der Tat. Aber ob man das so einfach dem freien, vorurteilsfreiem und gefühlsechtem Geschmack (was immer das auch sein mag) zuschreiben kann und ob das nicht nur ein Euphemismus für fehlenden Geschmack und musikalische Beliebigkeit ist, wer mags beurteilen? Leider tarnt sich letzteres zu oft als ersteres.

    In diesem Fall liegt ja die ökonomische Erklärung nahe, dass das Pop-Business noch die eigenen Gesetzmäßigkeiten und Nischen sich erschließen musste und deswegen logischerweise (in der Geschmackslenkung der Hörer) etwas herumprobierte. Genauer noch: Der Paradigmawechsel von Pop als Schlager zu Pop via Beat, der um diese Zeit herum einsetzte und noch nicht lückenlos verwirklicht war. Heute ist der Mainstream doch schon Hörer-optimiert und der Markt fixiert und gesättigt.

    Und selbst wenn man abstruserweise den Geschmack des Durchschnittsheinis umkrempeln wöllte: Welcher Durchschnittsheini würde das mit sich machen lassen? Dazu pocht doch jeder zu sehr auf seinen „Geschmack“ und seine „Meinung“…

Einen Kommentar hinterlassen

Platten kaufen Links Impressum