AUFTOUREN 2021Das Jahr in Tönen

Aus Gründen ein wenig später als üblich, aber in altgewohnter Qualitätsauswahl führen wir nun das zurückliegende Jahr zum krönenden Abschluss: Heute krönen wir unsere 25 Albumhighlights aus 2021.
In ihnen sehen sich gewiss auch die letzten beiden Jahre COVID reflektiert und alles, was diese mit sich brachten, deutlich wird aber auch, dass es so etwas wie einen „Sound der COVID-Ära“ per se nicht gibt. Musik ist weiterhin, was Mensch daraus macht und kann klingen wie … nun ja, unter anderem so:
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Parannoul 파란노을 – To See The Next Part Of The Dream [Longinus] |
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Ein strahlendblaues Cover mit einem Schornstein – wie ein Still aus “Neon Genesis Evangelion” tauchte im Mai bei Bandcamp auf, nichts deutete auf die Musik oder den Musiker dahinter hin. Es war auf einmal da, wie eine magische Einladung. Wenig ist herauszubekommen über den Musiker hinter diesem Projekt. Soviel scheint sicher: Es ist keine Band und Parannoul kommt aus Südkorea. “To See the Next Part Of The Dream” ist wohl in seinem Wohnzimmer entstanden, als Auseinandersetzung mit Kindheitserinnerungen und dem Heranwachsen. Und noch etwas ist sicher in der Welt von Parannoul: Der blaue Himmel ist eben nicht immer blau. Stilistisch ist “To See the Next Part Of The Dream” ein mitreißender Mix aus Shoegaze, Post-Rock und manchmal der Musik von Sadness gar nicht so unähnlich. Mitreißend, traurig und einfach nur wunderschön. Danke dafür! (Mark-Oliver Schröder) |
14 |
Lil Ugly Mane VOLCANIC BIRD ENEMY AND THE VOICED CONCERN |
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Wer ist Lil Ugly Mane – und wenn ja, wie viele? Eigentlich sollte man sich 2021 die Precht-Witze lieber sparen, aber hier passt es zu gut. Nicht umsonst startet das Comebackalbum des Internetphänomens Lil Ugly Mane mit einem endlos wiederholten „Who are you?“. Aliasse hatte Travis Miller schon immer unübersichtlich viele (Vudmurk, Bedwetter oder Shawn Kemp), aber bisher konnte man sich zumindest sicher sein, dass der Name Lil Ugly Mane (zumindest im weitesten Sinne) für Rap steht. Doch statt Horrorcore wie auf dem Untergrund-Klassiker „Mista Thug Isolation“ 2012 oder depressivem Emorap wie auf dem letzten Album „Oblivion Access“ 2015 braut Lil Ugly Mane auf „Volcanic Bird Enemy And The Voiced Concern“ aus unzähligen Samples psychedelischen Indierock und zynisch-distanzierten Postpunk zusammen. Das klingt eher nach Beck oder The Avalanches als nach Three 6 Mafia – aber vor allem klingt es sehr gut. Die kurze Sendepause hat dem Tausendsassa Miller gutgetan, die 19 Songs seines Albums schäumen über vor Details und Ideenreichtum. (Daniel Welsch) |
13 |
Wiki Half God [Wikset Enterprise] |
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„Yo, this one’s for New York“, ruft Patrick Morales im Intro der Anti-Gentrifizierungs-Hymne „The Business“, dabei hätte es dieser Erklärung gar nicht bedurft. Egal ob als Teil der Rap-Crew Ratking oder solo, Wikis Musik war schon immer Musik über und für New York. Doch auch wenn „Wiki“ draufsteht und es das – sorry für das Klischee – persönlichste Album des 28-Jährigen ist, handelt es sich bei „Half God“ eigentlich um das Werk eines Duos. Denn Navy Blue hat alle Instrumentals für die 16 Songs des Albums produziert, und nicht obwohl, sondern gerade weil er sich zurücknimmt und Wiki die Bühne überlässt, gebührt ihm viel Respekt. Wenn er die Drums ganz rausnimmt oder die staubigen Loops bis zum Nötigsten reduziert, erinnert das wie bei „Drug Supplier“ an den Sound von Ka, dem anderen New Yorker Chronisten. Patrick Morales nutzt diese karge Bühne für viel Storytelling, aber auch wortgewandtes Shittalking. Und für alle, die ihren New Yorker Rap gerne noch rumpeliger und schlingernder mögen, hat Wiki in diesem Jahr mit dem Produzenten NAH die ebenfalls sehr gute Kollabo „Telephonebooth“ aufgenommen. (Daniel Welsch) |
12 |
The Armed ULTRAPOP [Sargent House] |
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Ist „ULTRAPOP“ die Steigerung von Hyperpop? Zumindest scheint zwischen dem Kollektiv aus Detroit, Michigan und den Digicore-Vertreter*innen Einigkeit darüber zu herrschen, dass Genregrenzen nur was für Langweiler*innen sind – und Gegensätze sich anziehen. Die Wucht des Hardcore trifft auf dem dritten Album von The Armed ganz selbstverständlich auf sanfte Dreampop-Vocals, die Komplexität von Mathrock auf die Melodieverliebtheit des Pop-Punk. Seit Pisse hat keine Band die Musikpresse auf so unterhaltsame Weise an der Nase herumgeführt, deshalb gehört das Rätselraten, wer eigentlich wirklich hinter dem Kollektiv steckt und welche Szene-Größen an „ULTRAPOP“ beteiligt waren, zum Spaß dazu. Doch diese Überlegungen sind zweitrangig, sobald der Titelsong den 40-minütigen Hardcore-Metal-Synthpop-Industrial-Wahnsinn von „ULTRAPOP“ eröffnet. Trotz ihrer Liebe für Pranks meinen The Armed das Wörtchen „Pop“ im Titel durchaus ernst: Songs wie „ALL FUTURES“, „AN ITERATION“ und „AVERAGE DEATH“ sind bei allem Lärm und Chaos vor allem catchy Hits. (Daniel Welsch) |
11 |
Ja, Panik Die Gruppe [Bureau B] |
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„Drinnen ich/ Draußen nichts.“ Auch wenn der Song „On Livestream“ schon vor der Pandemie geschrieben wurde, haben Ja, Panik damit die Vereinzelung vor den Displays musikalisch perfekt eingefangen. Auch das Ende nimmt „Die Gruppe“ schon vorweg: An den grundsätzlichen Verhältnissen wird selbst der weltweite COVID-19-Ausbruch nichts ändern, „Apocalypse Or Revolution“ bleiben beide aus, vorerst versucht man es wieder mit der schon aus „DMD KIU LIDT“ bekannten Formel: „The only cure from capitalism/ Is more/ More more/ More capitalism.“ Vor sieben Jahren klangen Ja, Panik noch optimistischer, tanzten mit ihrem letzten Album „Libertatia“ Richtung Utopie. „Die Gruppe“ ist nun der verkaterte Morgen nach der Disco-Sause, langsam und schwer fließt der Synthesizer-Nebel durch die elf Songs. Manchmal taucht in den Nebelschwaden das Saxofon von Rabea Erradi für eine kurze Eruption auf, doch im Zentrum stehen Andreas Spechtls deutsch-englische Beobachtungen. (Daniel Welsch) |
10 |
Jazmine Sullivan Heaux Tales [RCA] |
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Jazmine Sullivans letztes großes Album “Reality Show” war voll auf sie selbst und ihre Position in der Welt gerichtet. Mit “Heaux Tales” erweitert sich nun ihr Blick auf alle Frauen, vor allem aber afroamerikanische, und deren Bedürfnisse, Sorgen und Begehren zwischen Selbstbild, ökonomischem und gesellschaftlichem Status und Sex. Ohne die Hochtempo-Höhenflüge des 2015er Vorgängers geht ihr R&B zwischen wattigen Synths- und wohnzimmerwarm gedimmten Saitenklängen soulig in die Vollen, stimmlich und melodisch prachtvoll in “Pick Up Your Feelings” oder “The Other Side” und seltener auch schwelend wie in “Pricetags”. Es ist weder in Struktur noch Länge ein typisches Album – ohne die Erfahrungsberichte zwischen den Songs nicht einmal eine halbe Stunde – aber in seiner therapeutisch-kathartischen Wirkung ein unverkennbar großes Gesamtwerk. (Uli Eulenbruch) |
9 |
Torres Thirstier [Merge] |
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Seit zwei Alben arbeitet Mackenzie Scott an der Entverkomplizierung ihrer Musik. Auf „Three Futures“ war 2017 noch alles furchtbar vertrackt: Die Gitarren klangen nicht mehr nach Gitarren, die Songs wie dekonstruierte Rockmusik – und auch die Geschlechterrollen und Identitäten waren mächtig durcheinandergeraten. Auf „Silver Tongue“ schimmerte im letzten Jahr schon ein ungewohnter Optimismus durch, dennoch kommt Torres‘ Wandlung auf „Thirstier“ ein wenig überraschend: Das fünfte Album der 30-Jährigen steckt voller euphorischer Liebeslieder, die große Gefühle in noch größere Mitsing-Refrains packen. Eingängiger Grunge-Pop fürs Stadion, der textlich aber lieber in den eigenen vier Wänden bleibt. Wer glaubt, dass große Kunst nur aus Leid entsteht, hat noch nicht gesehen, wie Mackenzie Scott im Musikvideo zu „Don’t Go Puttin Wishes In My Head“ ihrer Frau Jenna Gribbon im gemeinsamen Badezimmer mit Zahnbürste als Mikro den Refrain entgegenschmettert. Auch die bildende Künstlerin Gribbon hat die Beziehung in ihren Gemälden festgehalten. Eine Liebe als audio-visuelles Gesamtkunstwerk. (Daniel Welsch) |
8 |
Bicep Isles [Ninja Tune] |
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Epische House-Banger sind seit dem Clubhit „Glue“ das Markenzeichen des Duos Bicep aus Belfast. Mit „Isles“ legten sie gleich zu Beginn des Jahres mitten im Lockdown zehn hochkarätige Tracks für die Clubnacht zuhause nach. Darauf sampeln und loopen sich Bicep durch vergangene Jahrzehnte und vermischen Musik aus verschiedensten Ecken der Welt. Zwischen „Atlas“ und „Hawk“ entspannen sich so Klangwelten voller tiefgründiger Beats, Ohrwurmloops und Bassläufe, die es in sich haben. Immersive Musik zum Tanzen und Nachdenken. (Benedict Weskott) |
7 |
Little Simz Sometime I Might Be Introvert [Age101] |
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Little Simz – Sometimes I Might Be Introvert Hatte diesen Stilwechsel irgendwer kommen sehen? Little Simz ließ mit „Sometimes I Might Be Introvert“ den Duktus des Vorgängers „GREY Area“ größtenteils hinter sich – ohne den flüchtigsten Blick in den Rückspiegel. Mit Orchester, Chören, groß aufgezogenen Musikvideos und Fanfaren wirkt die Platte statt introvertiert erst mal vor allem: opulent. In 15 Tracks und 4 Interludes legt die britische Rapperin eine Vielseitigkeit an den Tag, die Münder offen stehen lässt. „Sometimes I Might Be Introvert“ ist ein lyrisches, musikalisches und technisches Meisterinnenwerk. (Benedict Weskott) |
6 |
L’Rain Fatigue [Mexican Summer] |
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Dieser halbstündige Trip hat es in sich. Stets mit einem Fuß in der Nebenwelt, lässt L’Rains zweites Album nach der Ausfahrt “Psych-R&B” sinnvolle Bezeichnungen hinter sich und entfaltet einen rhythmisch wie klanglich versch(r)obenen Sog. Zwischen Sample-Intermezzi baut die New Yorkerin zirkulierende Gitarren- oder Keyboardminiaturen auf, stürzt cherubische Gesänge einen Noisewasserfall herunter und macht die Desorientierung mit synkopiertem Gesangs-Stampf perfekt. Wie das alles gleichzeitig so einladend wirkt, ist der große Zauber dieses Werks. (Uli Eulenbruch) |