AUFTOUREN 2021Das Jahr in Tönen

Aus Gründen ein wenig später als üblich, aber in altgewohnter Qualitätsauswahl führen wir nun das zurückliegende Jahr zum krönenden Abschluss: Heute krönen wir unsere 25 Albumhighlights aus 2021.
In ihnen sehen sich gewiss auch die letzten beiden Jahre COVID reflektiert und alles, was diese mit sich brachten, deutlich wird aber auch, dass es so etwas wie einen „Sound der COVID-Ära“ per se nicht gibt. Musik ist weiterhin, was Mensch daraus macht und kann klingen wie … nun ja, unter anderem so:
25 |
Sophia Kennedy Monsters [City Slang] |
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„Everybody’s got a problem and they treat it like a pet/ Feed it when it’s hungry and cry when it is dead.“ Vier Jahre nach ihrem selbstbetitelten Debüt zeigte Sophia Kennedy, die Queen der Verschrobenenen und Nerds, mit „Monsters“ eindrucksvoll, dass sie gekommen ist, um zu bleiben. Eine Platte voller unfassbarer Reime, gehirnverdrehender Metaphern, genialem Songwriting und detailverliebter Produktion. Musik für einen Weg durch den alltäglichen Wahnsinn. (Benedict Weskott) |
24 |
Tyler, The Creator Call Me If You Get Lost [Columbia] |
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Es ist besser, auf der eigenen Yacht oder im verkrümelten Rolls Royce zu weinen als im HVV-Bus. Und es ist besser, verliebt Händchen zu halten, als mit den Bros coole Handshakes einzuüben. Klar, für solche Weisheiten hätten wir kein neues Album des ehemaligen Odd-Future-Chefs gebraucht, aber „CALL ME IF YOU GET LOST“ hat viel mehr zu bieten: Nach dem experimentellen Soul von „IGOR“ ist das Album Tylers Rückkehr zum Rap und gleichzeitig seine Hommage an die Mixtape-Ära der 00er-Jahre – inklusive Marktschreier-Ansagen von DJ Drama, dem Host der legendären „Gangsta Grillz“-Tapes, und einem Feature von Lil Wayne, dem Godfather of Mixtape-Rap. Musikalisch verbeugt sich Tyler vor der ungezügelten Kreativität dieser Jahre, reflektiert aber auch durchaus (selbst-)kritisch die Skandale seiner frühen Karriere. Grelle Schocker hat der 30-Jährige heute nicht mehr nötig, statt Kakerlaken zu fressen, wandelt er in seinen neuen Videos durch eine luxuriöse Wes-Anderson-Welt. Widersprüchlich bleibt es aber auch auf „CALL ME IF YOU GET LOST“, weshalb auf den schmachtenden R&B von „WUSYANAME“ die Horrorcore-Single „LUMBERJACK“ folgt. (Daniel Welsch) |
23 |
Sufjan Stevens & Angelo De Augustine A Beginner’s Mind [Asthmatic Kitty] |
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Auch in diesem Jahr wanderte Sufjan Stevens gekonnt auf dem Pfad zwischen Genie und Wahnsinn. Jeder der 14 Songs auf „A Beginner’s Mind“ dreht sich um einen Film, den er zusammen mit Angelo De Augustine studierte. Und da bloße Inhaltsangaben zu banal wären, liefern die beiden in oft nicht einmal vier Minuten pointierte Analysen, sei es des großen Ganzen oder vermeintlicher Nebensächlichkeiten. Musikalisch ergänzen sich die beiden, die nicht selten zum Verwechseln ähnlich klingen, sowieso glänzend. Nach dem eher impulsiven „The Ascension“ stellt sich hier wieder die wohlige, in sich gekehrte Aura des diesmal im Doppelpack auftretenden Einzelgängers ein. (Felix Lammert-Siepmann) |
22 |
SPELLLING The Turning Wheel [Sacred Bones] |
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Vom verwunschenen Jahrmarkt in die Unterwelt. “The Turning Wheel” ist ein Werk zweier Hälften, zweier gleichermaßen magisch anmutender Klangwelten, aus denen vor allem Chrystia Cabrals zeitlose Melodien hervorstechen. Lange Zeit ist ihr drittes Album technicolor-bunter, psychedelisch angehauchter Chamber-Pop voll zauberhafter Tonläufe, lockender Pfeifen und Trompeten, munterer Pianos und bildmalender Geigen, stets auf Kurs gehalten von Cabrals beschwörender bis souliger Stimme. Mit “Boys At School” kommt die Wendung auf molligen Tönen, die zuvor so unbescherten Instrumente erklingen aus dem Abseits in atmosphärisch umwallten Synth-Höhlen oder von schneidend gniedelnden Gitarren überstrichen. Nach dem geisterhaftem Leiern von “Sweet Talk” ist der Spuk vorbei, doch der Zauber bleibt. (Uli Eulenbruch) |
21 |
The Hold Steady Open Door Policy [Positive Jams] |
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Beinahe könnte „Open Door Policy“ eine Sammlung Solosongs der einzelnen Bandmitglieder von The Hold Steady sein. Glückliche Bierseligkeit, Hymnen und Euphorie sucht man hier jedenfalls vergeblich. Wie auch, bei den globalen ungünstigen Rahmenbedingungen, möchte man fragen. Eine Band, für die das Touren einen guten Teil der DNA ausmacht, muss vielleicht auch einfach neue Wege gehen, um nicht vollends verrückt zu werden. Dass „Open Door Policy“ viel mehr ist als einzelne Songs, wird dann doch sehr schnell klar. Es ist ein Abend in einer Bar mit alten Freunden, gezwungenermaßen sehr intim und schonungslos aufrichtig. (Felix Lammert-Siepmann) |
20 |
Claire Rousay a softer focus [American Dreams] |
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Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass Claire Rousays Musik in den letzten eineinhalb Pandemiejahren so viele neue Hörer*innen gefunden hat. Seit sich die Welt von Lockdown zu Lockdown schleppt und sich das Leben zu großen Teilen ins Digitale verlagert hat, entwickeln ihre Field Recordings – das Klackern und Rascheln physischer Gegenstände, scheinbar willkürlich ausgewählte Gesprächsfetzen – eine größere emotionale Wucht. „A Softer Focus“ bildet den Höhepunkt einer Transformation des musikalischen Stils der Komponistin und Perkussionistin aus San Antonio, Texas: Von den frühen Improvisationen am Schlagzeug zu abstrakten Soundcollagen und Musique concrète, zu Experimenten mit melodischen und harmonischen Elementen sowie verfremdeten (Gesangs-)Stimmen. Wenn in „Peak Chroma“ Rousays Autotune-Gesang auf Lia Kohls Cello trifft, scheint die neunminütige Komposition kurz in einen konventionellen Song zu kippen. Doch so plötzlich, wie sie auftauchen, verschwinden diese Momente auf „A Softer Focus“ wieder – und gerade das macht sie so kostbar. (Daniel Welsch) |
19 |
Japanese Breakfast Jubilee [Dead Oceans] |
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”Jubilee” kommt nicht nur im übertragenen Sinne anmarschiert, über Wirbeltrommeln und Blechbläsern singt Michelle Zauner im prachtvoll eröffenden “Paprika” vom Rausch des Musikmachens selbst. Wie im Funk des folgenden “Be Sweet” zeigt sich ihr Sound in einer bislang ungekannten Fülle und Farbfreude, ohne die emotionalen Täler zuzubetonieren wenn “Oh, it’s a rush” gefolgt wird von “But alone, it feels like dying/ All alone, I feel so much”. Denn ja, die Synthesizer geben ihrem melancholischen Pop neue Anstriche, doch bei aller Glätte ist Japanese Breakfasts drittes Album im Sound vielschichtig wie noch nie, sei es in “Slide Tackles” fein gewobenen Texturen zu schlanker Funkgitarre und Saxophon oder den dronigen Ambient-Hallräumen von “Posing In Bondage”. Die Schmerzen der Vergangenheit sind nicht ausradierbar, aber den Ton gibt auf “Jubilee” die Lebenslust an. (Uli Eulenbruch) |
18 |
The War On Drugs I Don’t Live Here Anymore [Atlantic] |
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The War On Drugs sind so etwas wie das Aushängeschild des Psychedelic Rock. Bandleader Adam Granduciel entwickelt den Klang mit jeder Platte behutsam weiter, ohne dabei seinen Wiedererkennungswert zu gefährden. Auf „I Don’t Live Here Anymore“ wurden noch mal eine ordentliche Portion Americana und einige Synthie-Sequencer („Victim“) beigemischt. So ist eine weitere zeitlose Platte entstanden, die nostalgisch bis verträumt auch über den tiefsten Abgrund eine Brücke bauen kann. (Benedict Weskott) |
17 |
Dry Cleaning New Long Leg [4AD] |
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War die neuere Post-Punk-Szene Großbritanniens zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung bislang eher männlich dominiert, so dürfte sich das im abgelaufenen Jahr auch dank Dry Cleaning nachhaltig geändert haben. Neben den großartig zockelnden Gitarren ist es vor allem Florence Shaws repetitiver Sprechgesang, der „New Long Leg“ so sympathisch macht. Stets mit mehr als einem zwinkernden Auge müsste man vermutlich bis zu Courtney Barnetts Debüt zurückgehen, um diese Art trockenen Humors auf Albumlänge finden zu können. Brilliant: In den ausufernden siebeneinhalb Minuten zwischen Post-Rock und Funk zeigt der Abschlusstrack „Every Day Carry“ schon einmal einen möglichen Sound für die Zukunft auf. (Felix Lammert-Siepmann) |
16 |
Floating Points, Pharoah Sanders & The London Symphony Orchestra Promises [Luaka Bop] |
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Mit erstaunlich unprätentiösen Mitteln erschufen Floating Points und Saxophon-Legende Pharoah Sanders eines der unerwartetsten Alben des Jahres. Das gleichzeitig zurückhaltende und unglaublich einnehmende Leitmotiv wird über die neun Movements hinweg im Detail immer wieder angepasst und behutsam umgetopft. Selbst nach dem klaren Höhepunkt, “Movement 6”, verlässt diese unwahrscheinliche Begegnung ihren Pfad nicht. So hält „Promises“ auch zu jeder Zeit die Balance zwischen den Protagonisten. Kaum scheinen die Eno-esken Ambientteppiche Überhand zu nehmen, pirscht sich Sanders, notfalls mit dem Orchester im Rücken, an und stellt den für das Album so maßgeblichen Ausgleich wieder her – und umgekehrt. (Felix Lammert-Siepmann) |