All We Love We Leave Behind (V)Darkness Transcend

2016 ist inzwischen auch schon seit gut einem Monat Geschichte und die Welt mit Sicherheit kein besserer Zeitabschnitt geworden. Dennoch habe ich, obwohl es derzeit sicher Wichtigeres gibt als (Metal-)Platten zu hören, im Grunde beinahe ein schlechtes Gewissen, weil mir so viele gute, sehr gute, herausragende oder zumindest sehr hörenswerte davon durchs Raster fallen. Gibt es doch so viel mehr zu entdecken, als ich hier abbilden kann, höre ich auch so viel mehr, was sicher eine Besprechung wert wäre – nur es fehlt die Zeit. Nun ich will hier aber nicht länger rumjammern, wir sollten es die letzten Tage vor der Apokalypse ruhig nochmal so richtig krachen lassen. Da sich dafür auch noch hervorragend Veröffentlichungen aus dem letzten Jahr eignen, will ich hier noch einmal ein wenig Rückschau halten und trotzdem schauen, ob nicht auch das neue Jahr nicht schon ein paar dunkle Knospen trägt.
Tatsächlich beginnt 2017 schon mit einem Paukenschlag. Die unermüdlichen Fischer in den Abgründen und trüben Gewässern des menschlichen Nichts von Vendetta aus Berlin markieren mit der (Vinyl-)Veröffentlichung von Vukaris „Divination“ gleich eine Landmarke von strahlender Intensität in der winterlich aufgewühlten See. Die Band aus Chicago versteht es, ihren im Grunde traditionellen Black Metal mit ausladenden Melodiebögen und elegischen Post-Einflüssen so zu verzahnen, als hätte diese Kombination schon immer den natürlichen Kern von Black Metal gebildet. Puristen mögen neuerlich irritiert die Nase rümpfen, doch das wäre natürlich schade, denn hier gibt es sehr viel zu entdecken. Mich erinnert das streckenweise in seiner Intensität und Musikalität an Bosse-De-Nage oder Vattnet Viskar – sicherlich nicht die schlechtesten Referenzen. Vukari positionieren sich mit „Divination“ früh für die Bestenlisten 2017.
Der Geheimtipp aus Aserbaidschan, Violet Cold, hat auch wieder zugeschlagen und mit „Anomie“ eine Wundertüte an Album vorgelegt. In gewissem Sinne könnte man fast zu dem Schluss kommen, er würde hier alle seine Obsessionen zusammenführen: feines Gespür für großen, theatralischen Sound, der irgendwie schon Black Metal ist oder zumindest darauf fußt und dennoch weit darüber hinaus reicht, eher im Scheinwerferlicht glitzert als im Nebel zu verschwinden. Zusammengesetzt ist dieser Sound aus fetten Synths, Shoegaze-mäßigen Gitarrenwänden, Blastbeats und einem in der Musik verwobenen Gesang. Im Verlauf der Platte kommen noch Tabla-Spiel, aserbaidschanische Folklore, Trip Hop, ein Hauch Prog und weiblicher Sprechgesang in einer Turksprache dazu. Wer nun glaubt, das könne nicht funktionieren, sollte sich mal von dieser Mischung wegblasen lassen.
Ebenfalls von Vendetta kam im Oktober letzten Jahres „Peripeteia“ von Anagnorisis. „Anagnorisis“ kommt aus dem Griechischen und bezeichnet in der aristotelischen Theorie wiederum einen Sonderfall der Peripetie – den Moment in der Handlungsstruktur einer Tragödie, in dem Figuren ihre bisherige Fehleinschätzung erkennen. Unwissenheit schlägt in Erkenntnis um. In der Filmtheorie ist der Begriff ebenfalls bekannt und bezeichnet eine Entdeckung, die die Figurenkonstellation neu ordnet oder die Geschichte in neue mögliche Verläufe überführt. Das Werk „Peripeteia“ in diesem Zusammenhang ist eine schonungslose Aufarbeitung von persönlichen Kindheits- und Jugendtraumata des Anagnorisis-Sängers Zachary Kerr, der hier auch immer wieder – durch gefundene Kassettenaufnahmen – im „Interview“ mit seinem verstorbenen Vater als Kind auftaucht. Kerr legt hier eine derart persönliche, schonungslose und schmerzhafte Offenheit an den Tag, wie sie in diesem uns so lieben Genre, in dem immer noch lieber über Mythen, Monstren, Mutationen gesungen wird, nicht allzu oft anzutreffen ist. Das macht ihn angreifbar, ist aber auch seine Stärke. Black Metal mit einer solchen persönlichen emotionalen Wucht gibt es nicht alle Tage.
Wechseln wir das Thema und wenden uns, von den Abgründen und Unwägbarkeiten der menschlichen Existenz, ein wenig der Geographie zu. Welches Land hat ungefähr so viele Einwohner wie Bielefeld, aber viel bessere Fußballer? Oder halb so viele Vulkane wie Japan? Ganz klar: Island. Was die Insel im Nordatlantik zudem auszeichnet, ist eine immense Banddichte. Die wiederum legt im Verhältnis zur Einwohnerzahl die Überlegung nahe, dass alle Einheimischen, spätestens sobald sie ein Instrument halten können, in mindestens eine – für unsere Belange – Metal-Band eintreten.
Vielversprechendes Material ist auch dieses Jahr schon aus den heißen, schwefelhaltigen Quellen gesprudelt: Mit „Úr Draumheimi Viðurstyggðar“ haben Endalok ein Minialbum vorgelegt, das einiges in Bezug auf einen „richtigen“ Langspieler erwarten lässt. Darauf exorzieren sie einen gespenstischen Black Metal, der zu beinahe gleichen Teilen nach Gruft, Tropfsteinhöhle und Industrieruine klingt.
In die gleiche Wunde stoßen Ljáin ihren Ritualdolch. Diese haben mit „Endasálmar“ und „Klofnar Tungur“ Mitte letzten Jahres via Bandcamp zwei EPs veröffentlicht, bei denen sämtliches Licht von einem Malstrom aus dunkler Energie vertilgt wird. Das Schlagzeug und die Saiteninstrumente peitschen wie ein alles nivellierender Schneesturm über die baumlose Landschaft der Insel im Nordatlantik. Dazu faucht der Sänger seine Zeilen auch mit Hilfe einiger Effektpedale gegen den tosenden Sturm und irgendwo jagt noch ein eisiger Klangteppich durch den Äther – gespenstisch und ganz groß.
Dann wäre da noch „Heljarkviða“ von Árstíðir Lífsins. So könnte man sich die musikalische Untermalung an Odins Tafel in Walhalla anno 2017 vorstellen: Die Kapelle steht auf der Bühne während die Meute an den Tischen feiert und bietet alles auf, was das zeitgenössische Repertoire des Black Metal/Neo Folk zu bieten hat, um sich deren Aufmerksamkeit zu versichern: Kammermusik-Streicher, akustische und Tremolo-Gitarren, theatralisches Schreiten, ausgiebiges Geblaste – alles eingebettet in eine sauber ausbalancierte Produktion. Der Gesang chargiert von BM-typischem Fauchen zu einem über weite Strecken mächtig getragenen, beinahe an Spoken Word erinnernden Duktus und ist zudem durch ausgiebige „Wikinger“- Choräle, dem Chor in der griechischen Tragödie ähnlich, vorangetrieben. Von dem, was da gesungen wird, verstehe ich natürlich kein Wort, schließlich ist es ausschließlich auf Isländisch, aber das schmälert den Gesamteindruck nicht: große Märchenstunde für Erwachsene, 2 Hymnen, 45 Minuten.
Es gab noch mehr Hervorragendes aus Island, das hier unbedingt erwähnt werden muss: „Unortheta“, das Debütalbum von Zhrine, veröffentlicht von den Franzosen Season Of Mist. Das Quartett aus Reykjavik hat zwar vorher schon unter dem Namen „Gone Postal“ zusammengespielt, aber mit der Namensänderung folgte auch eine gewisse musikalische Neuorientierung. Death Metal bleibt die Matrix und tiefes gutturales Grollen durchzieht weite Strecken des Albums, aber Zhrine weben auch Black-Metal-Fauchen in Songs ein und umwickeln den entstandenen Bastard mit Shoegaze und Post-Rock-Elementen. Aber was schreibe ich hier: Ein Blick aufs Cover oder das Design des Bandnamens genügen, um zu verstehen, wovon ich hier spreche – hört euch besser noch den ersten Song „Utopian Warfare“ an und die schwarze Sonne wird leuchtend werden!
Was erwartet man von einer Death-Metal-Platte? Ganz klar, dass sie uns mit dem Schlagbohrer wahlweise das Hirn oder die Gedärme verquirlt und wir vor Verzückung nach mehr schreien. Das wissen auch die eklektischen Finnen von Blood Music, die uns 2016 auch schon die tollen, genresprengenden astronoids oder den Bratz- und Teufelstechno von GosT oder Perturbator beschert haben. Mit „Darkness Transcend“ von Setentia, einer Entität aus Auckland in Neuseeland, haben sie nämlich genau das eingangs verlangte im Programm. Daran lässt schon gleich der Eröffnungssong „Darkness Transcend“ keinen Zweifel. Nach einem sphärischen, leicht noisigen Intro donnert die Doppelkick und tiefes gutturales Grollen bricht los, die Gitarren schrauben sich immer weiter – mit leicht atonaler Ausprägung – in die Höhe, zermürben auch den letzten Funken Verstand in unseren ausgetrockneten Hirnen und die Blastbeats galoppieren wie die apokalyptischen Reiter. Freilich, werte Adepten, das Hochamt ist erst eröffnet und Setentia werden nicht müde, es in jeder noch folgenden Sekunde weiter zu besingen. Hosianna, dunkle Mächte, meine nichtswürdige Existenz liegt zu Euren Füßen! Dass sich Setentia zudem als Freunde der technisch angehauchten Ausrichtung von Death Metal präsentieren, macht das Ganze nur noch hörenswerter. Ähnlich in Verzückung geriet ich letztes Jahr auch beim Erlauschen von „Starspawn“, dem letzten Album von Blood Incantation aus Denver.
Ebenfalls, allerdings schon Anfang letzten Jahres von Blood Music mit einer CD-Veröffentlichung gewürdigt, muss hier unbedingt noch „Sorni Nai“ von Kauan auftauchen. Die Formation aus der Ukraine, die ihren Bandnamen dem Finnischen entlehnt hat und hier auch ausschließlich Finnisch singt, verhandelt auf „Sorni Nai“ die Begebenheiten eines Zwischenfalls, bekannt als (Unglück am Djatlow Pass ) aus dem Jahr 1959. Eine Gruppe von Studenten des polytechnischen Instituts des Urals brachen zu einer Skiwanderung auf und kamen unter mysteriösen Umständen ums Leben, später fand ein Rettungsteam ihre teilweise grausig verstümmelten Leichen. Zum Hörerlebnis von „Sorni Nai“ ist dieses Wissen nicht nötig, aber auch nicht unbedingt abträglich. Kauan interpretieren dieses Unglück als Suite in sieben Teilen. Musikalisch bewegen sich die Ukrainer mit einer kristallinen Produktion dabei zwischen Folk, Post-Rock und Doom und stellenweise nah am Kitsch, was mich beim ersten Kontakt irritiert zurückließ, aber aus irgendeinem Grund kehrte ich immer wieder zurück. Als Blood Music schließlich die CD ankündigte, blieb mir nichts anderes, als seinerzeit den Vorbestellbutton zu klicken.
Wo schon das Wort Doom gefallen ist, geht’s gleich weiter mit zwei dunklen Kristallen, die beide in dieses Genre einsortiert werden (können) und dennoch an zwei völlig unterschiedlichen Polen beheimatet sind. SubRosa aus Salt Lake City sind sicherlich keine Newcomer mehr, legen sie doch mit „For This We Fought The Battle Of Ages“ ihr viertes Album vor. Da der Vorgänger „More Constant Than The Gods“ eines der Alben des Jahres 2013 war, sind die Erwartungshaltungen entsprechend hoch. SubRosa leben von ihrer Musikalität, dem Umstand, dass Geigen bei ihnen zur Grundbesetzung zählen und nicht nur Beiwerk sind und natürlich vom Gesang von Rebecca Vernon, die hier streckenweise in so etwas wie einen proklamatorischen Ton verfällt. Inspirieren lassen haben sie sich diesmal von Essays des Russen Yevgeny Zamyatin, dessen Werk „Мы“ von 1921 maßgeblich sowohl Aldous Huxleys „Brave New World“ als auch George Orwells „1984“ beeinflusst hat. Denkt man nun an die Inspirationsquelle und liest den Albumtitel nach der US-Wahl, könnte einem glatt Angst und Bange werden bei so viel Vorausschau … Musikalisch geben sich SubRosa selbstredend keine Blöße, sondern integrieren in ihren bisherigen Bandkosmos, der schon immer Zeit für instrumentale Passagen hatte, eine Wucht, die man in ihrer Ausprägung und Tiefe eher mit rein instrumentalen Post-Rockern à la Godspeed You! Black Emperor oder Russian Circles verbindet.
Das Trio FVNERALS aus Glasgow zelebriert, in ungefähr der Hälfte der Zeit, die SubRosa für ihr Werk benötigen, ebenfalls ganz großen Doom. Nur eben ganz anders. Einzelne Wörter als Songtitel weisen im Grunde schon den Weg. Verdichtung, Langsamkeit, Transparenz – jeder Note ihren Raum – bestimmen die sonore Erfahrung: Espen And The Bell Witch! Dunkel, Dunkel und im Grunde wirklich nur für ganz bestimmte Stunden, zwischen Wachen und Schlafen – somnambul. Winter im Herzen.
Auch muss ich hier zumindest kurz erwähnen:
Märtyrdöd aus Schweden knallen uns mit „List“ ein Werk um die Ohren, welches mein Herz höher und schneller schlagen lässt. Nicht nur deswegen, weil ich hier in einem Anflug von nostalgischen Erinnerungen an unzählige, zu Unrecht vergessene HC-Bands der späten 80er denken muss, zu denen wir weiland wie wild abgepogt haben. Nein, die Energie stimmt. Die Band peitscht einfach mit massiv D-Beat im Gepäck durch eine melodiegeladene Version von Blackened Hardcore, die keine Wünsche offenlässt.
Und noch mehr Schweden. Murgs „Gudatall“ ist ihr zweites Album für Nordvis. Das Duo aus der Region Bergslagen spielt recht orthodoxen, schnörkellosen Black Metal, und das mit einer feierlichen Ernsthaftigkeit, die sicher bei Liveauftritten auch das sehr böse Fixieren des Publikums beinhaltet. Ich erstarre jetzt schon in Ehrfurcht und drücke die Repeat-Taste.