Der Liedschatten (130): Possierlich elektronisch

Hot Butter: „Popcorn“, Oktober 1972

„Du wartest und wartest,
das dauert und dauert,
es reicht.“

„Kannst du dich nicht endlich mal verbindlich entscheiden,
wie willst du das vermeiden, ich hab keine Ahnung
wie das sonst gehen soll.“

Ist ja gut, einen Moment noch…

„Alles hängt in der Luft
alles unausgesprochen
du drückst dich, du mauerst
ununterbrochen.“

Ja, was denkt ihr denn, liebe Sterne? „Kannst du dich nicht endlich mal verbindlich entscheiden“, das sang sich im Jahre 1997 ganz gut und machte sich auf einem Album mit dem Titel „Von Allen Gedanken Schätze Ich Doch Am Meisten Die Interessanten“ nicht schlecht. Nur hattet ihr sicher Dringlicheres im Sinn als ich, womöglich Liebeszeugs, mit Sicherheit Zwischenmenschliches. Jetzt, im Jahr 2014, befinde ich ich mich in einer gänzlich anderen Situation:

Ich sitze am Rechner und tippe. Wenn ich kurz aufhören sollte zu tippen … jetzt zum Beispiel … und weiter geht’s, hat das den folgenden Grund: Ich höre eine Aufnahme aus dem Jahre 1972 namens „Popcorn“.

Zu entscheiden habe ich dabei, als was ich den Song bezeichnen möchte, als Albernheit oder Meilenstein. Nicht, dass die Popgeschichte beziehungsweise ihre Autoren etwas auf meine Meinung geben würden oder sollten. Das Problem ist ein persönliches und für Euch somit reichlich kleines: Ungefähr zur selben Zeit, als ich das oben erwähnte Album der Sterne mit Begeisterung hörte, schenkte mir ein Freund eine Mix-CD (kein Tape, ganz so alt bin ich nicht), auf dem sich „Popcorn“ in der obigen Version von Hot Butter aus dem Jahr 1972 befand. Amüsiert und erstaunt hörte ich dieses damals vor immerhin über 25 Jahre veröffentlichte, also mir antik vorkommende Stück Piepserei und dachte: „Nein, dass es damals schon Synthesizer gab! Ein Instrumentalstück! Und ein witziges! Dann darf Musik auch elektronisch sein“, denn ich war dümmlich, nicht ungebildet oder unwissend, sondern dümmlich und dämlich. Elektronische Musik nämlich hielt ich für eine Erfindung der 1990er, ich setzte sie mit Schlumpfentechno, Marusha und Members of Mayday gleich. Als Rockist war das für mich keine Musik, bei mir liefen The Doors, Dylan, The Kinks und The Beatles, bereits die Sterne klangen da exotisch. Vielleicht ist es verständlich, dass mir „Popcorn“ mit diesem Hintergrund wie ein Meilenstein vorkam, hinter der in etwa Blümchen als „Normalfall“ elektronischer Musik weit zurückblieb.

Das ist – ohne Blümchen an dieser Stelle bewerten zu wollen, wir haben dazu noch früh genug, so in etwa 200 Folgen, Gelegenheit – ziemlicher Quatsch. Es gibt, ihr wisst es bereits, und gab sehr viel mehr „elektronische“ Musik als Hot Butter, Dance und Rave. Überhaupt, was genau soll das sein, elektronische Musik? Fällt eine E-Gitarre auch darunter, gibt es einen Unterschied zwischen Keyboard, Mellotron und Synthesizer, ist nicht jede im Studio produzierte, aufgenommene Musik elektronisch? Wie steht es um Theremin oder Ondes Martenot, Instrumente, die es lange vor erwähnter E-Gitarre gab? Als was sollen Tonband-Manipulationen wie die des BBC Radiophonic Workshop bezeichnet werden, und ist nicht bereits der Twang-Sound des Surfrock keine „handgemachte“ Musik mehr, ist nicht auch ein aus elektronischen Bauteilen bestehendes Effektgerät trotzdem „handgemacht“? Wo ist da der Unterschied zu einem Synthesizer oder einer E-Gitarre, liegt es nur am Strom? Dann spielen auch Black Sabbath elektronische Musik. Es ist nicht ansatzweise so leicht, wie man es sich gerne machen möchte und deshalb sehr erfreulich, dass die Lagerbildung „handgemacht“ versus „elektronisch“ jenseits von Kreisen älterer Herren und Damen keine Rolle mehr spielen dürfte. Ob Musikhörer nach all den Jahren klüger, oberflächlicher, entspannter oder wissender geworden sind, weiß ich nicht, doch gewiss sind sie nicht mehr dermaßen für kleingeistige Maschinenstürmerei im Plattenschrank empfänglich, und das hoffentlich nicht nur, weil sie keinen Plattenschrank mehr besitzen.

Ein solcher stand auch in meinem Zimmer damals nicht, die CDs stapelten sich auf dem Boden. Und obendrauf lag eine ganze Weile die erwähnte Mix-CD mit „Popcorn“ von Hot Butter, das mir reichlich fancy erschien und mich in Erstaunen versetzte. Da ich nicht auf die Idee kam, im Internet zu recherchieren (und Wikipedia erst 2001 online ging), wusste ich weder, dass es kein Original war, noch, dass es nicht komplett auf Synthesizern gespielt wurde. Die ursprüngliche Version von Gershon Kingsley erschien bereits 1969 und die Percussions sind „echt“.

Kingsley war Mitglied des First Moog Quartet, einer Art Moog-Vorführband, deren Konzerte die Möglichkeiten des wenig verbreiteten Instruments aufzeigen sollten. Auf dem Album „Music To Moog By“, von dem das anfangs „Pop Corn“ genannte Stück stammt, finden sich vor allem Coverversionen, unter anderem von Stücken der Beatles.

Im Gegensatz zu Kingsley und dem First Moog Quartet veröffentlichte die Gruppe Hot Butter um den Sessionmusiker Stan Free (spielte laut Wiki für unter anderem The Four Seasons, The Monkees, The Association sowie das erwähnte First Moog Quartet) nicht vor allem, sondern fast ausschließlich Coverversionen, neben „Popcorn“ zum Beispiel das seltsamerweise in „Love At First Sight“ umbenannte „Je T’aime… Moi Non Plus“ von Serge Gainsbourg. Ob das wohl aus Respekt oder Vorsicht geschah? Sonderlich gelungen ist das Cover nämlich nicht.

butter_popcornDiese Einschätzung ist auch dann noch haltbar, wenn aus „sonderlich gelungen“ ein „gelungen sonderlich“ wird und wir sie auf das gesamte Album, „Popcorn“ inbegriffen, anwenden. Sicher, die Melodie des Stücks piepst und hüpft possierlich, die klangliche Bandbreite eines Synthesizers wird jedoch nicht ausgenutzt. Es ist eine Musik, die futuristisch scheint, obwohl sie nur Altbekanntem ein neues Äußeres gibt. Jenen Menschen, die sich unter Zukunft nicht mehr als eine Variation der Gegenwart (zum Beispiel mit fliegenden Autos statt fahrenden) vorstellen können, kann sie auf beruhigende Weise als modern gelten: Musik wie immer, nur eben aus einer Maschine. 1969, als Synthesizer vielen unbekannt waren, mochte das noch angemessen gewesen sein, drei Jahre später wäre ein wenig mehr Mut sicher nicht schlecht aufgenommen worden. Ihn an dieser Stelle hier einzufordern, wäre verblendet. Hot Butter wollten Schallplatten verkaufen, also wählten sie Material aus, das sich verkaufen ließ und hofften auf ein Glück, das sie tatsächlich haben sollten. Daraufhin versuchten andere, an diesem Erfolg teilzuhaben, wobei sehr gewagte Schlager mit wunderlichen Platzhalter-Texten („Zu viel Popcorn und die Liebe/ das verträgt sich beides nicht“ – womit eigentlich?) entstanden:

„Popcorn“ und mit ihm der frühe Synthpop waren dennoch in den nächsten Jahren nicht mehr als ein Kuriosum, es brauchte erst Krautrock und Postpunk, damit der Sound in den 1980ern einen festen Platz in den Charts erhielt. Hot Butter profitierten davon nicht mehr. Zwar folgten auf „Popcorn“ weitere Singles in einem ähnlich kitschigem Space-Opera-Gewand, weitere Hits mit Millionenverkäufen gelangen ihnen damit aber nicht, was uns ganz gelegen kommt, können wir uns so doch der interessanteren Musik zuwenden: „Arts & culture blog Sound Colour Vibration have compiled a playlist of the earliest commercial recordings to utilize the Moog synthesizer. Entitled Moog Musonics, the playlist features seminal Moog tracks circa 1967 – 1969 including popular artists George Harrison, Simon & Garfunkel, The Doors and more.“

In der nächsten Folge: The Sweet mit „Wig-Wam Bam“.

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