Der Liedschatten (121)TÄTÄRÄTÄTÄTÄTÄ!

Tony Marshall: „Komm gib mir deine Hand“, März 1972
Bevor wir heute nach relativ langer Zeit wieder einmal einen Schlager hören werden, sei mir ein kleiner Exkurs gestattet.
Möglicherweise fiel bereits auf, dass ich der Mauschelei nicht gänzlich abhold bin und zum Beispiel auch nicht davor zurückschrecke, einen Artikel über das eigene Fanzine zu schreiben oder den Comic meiner Bandkollegin zu besprechen. Gut, zu dem Zeitpunkt spielten wir noch nicht gemeinsam in einer Band, aber dass ich es überhaupt erwähne, lässt tief blicken (übrigens: unsere Band heißt TWISK).
Jedenfalls habe ich keine Scheu davor, meinen Hang zu Exkursen für mich selbst oder befreundete Menschen zu nutzen, sprecht mich ruhig darauf an. Gefallen muss es mir allerdings schon, und wie sehr gefällt mir zum Beispiel Tellavisions Musik!
Und demnächst soll ein neues Album von Fee Kürten alias Tellavision erscheinen, wie schön! Weniger schön ist allerdings, dass bisher nur von einem geplanten Erscheinen die Rede sein kann: Für die Pressung wird ein Funding durchgeführt und falls dieses nicht erfolgreich sein sollte, fehlt uns im nächsten Jahr ein wunderbares Album mit dem, was ich einst leichtsinnig als „Klapper-Rhythm’n’Blues“ bezeichnet habe.
So eine Flappsigkeit hat diese Musik aber gar nicht verdient, eher Vergleiche mit tUnE-yArDs oder These New Puritans. Tellavisions Musik ist dunkel und durchfühlt, was ich hiermit als schwurbeliges Gegenstück zu „durchdacht“ in den Raum stelle, einen Raum, den ich dann aber besser schnell verlasse. Sonst kommt noch jemand auf die Idee, nachzuhaken, was denn das nun wieder heißen soll und ob Gefühle nicht eh durchdringen und durchlebt werden, und wodurch denn hier gefühlt wird, aus welcher Richtung das Gefühl denn kommt und wohin es geht und …
Und nichts weiter, denn dann bin ich schon längst wieder in gewohnten Bahnen und weiß von nichts mehr, ich schreibe: Widmen wir uns nun unserem heutigen Hit, „Komm Gib Mir Deine Hand“ von Tony Marshall, einem Lied, das ich, wie auch sicher ihr, nicht kenne. Und doch behauptete ich bereits, wir hätten es es heute wieder mit einem Schlager zu tun. Wie geht das?
Es liegt am Interpreten. Die Vermutung, er habe jemals etwas anderes als gefällige Lieder gesungen, kam mir gar nicht erst in den Sinn. Dabei ist der als Herbert Anton Bloeth geborene Herbert Anton Hilger alias Tony Marshall ausgebildeter Opernsänger.
… Opernsänger? Die Worte lese ich wohl (und zwar bei Wiki), allein fehlt mir der Glaube, wenn ich ihn singen höre, also sage ich: Was hat es schon zu bedeuten, was er womöglich könnte? Es geht nicht darum, was jemand unterlässt, sondern darum, was er macht, und Marshall eroberte Mitte der 1970ern mit Liedern wie „Schöne Maid“, seinem ersten großen Erfolg, als „Stahlgewitter des Frohsinns“ einen Platz in den martialisch schlagenden Herzen der Schlagerfans.
„Oh ja ho ja ho“: Momento mori anno 1972.
„Wir wollen ganz zufrieden sein / und trinken Bier und Schnaps und Wein“, anders lässt sich diesem Lied auch nichts abgewinnen. Angesichts der Vergänglichkeit, mit der wir alle uns abzufinden haben, werden uns hier Versimpelung und Enthemmung als Wege des Trosts angeboten.
Die Kunstfigur Tony Marshall gibt viel auf die Liebe in Verbindung mit der Kraft der Bierseligkeit, siehe obiges Lied und auch das gewagte Vorhaben „Wir Trinken Brüderschaft Mit Der Ganzen Stadt“. Doch er kann auch anders. Wenn’s die Zeit gebeut und in etwa der große Elvis Presley stirbt, komponiert er ihm ein Requiem, drunter macht er’s nicht, er beherrscht ebenso die Altherrenzote („Ach Laß Mich Doch In Deinem Wald Der Oberförster Sein“) wie den romantischen Eskapismus des Klischees vom Vagabunden („Auf Der Straße Nach Süden“, später bekannt durch David Hasselhoff).
Dass es so leicht ist, Tony Marshall als den Sänger von Stimmungsliedern wie auch jene selbst abzulehnen, bedeutet nicht etwa, dass diese Ablehnung selbst falsch, da allzu naheliegend wäre. Frohsinn und Exzess nach Anleitung haben immer etwas unterschwellig Aggressives, sie laden nicht ein, sie fordern auf. Sie sind nicht erhebend im Sinne eines Aufrichtens aus den Niederungen eines drögen Alltags, sie empfehlen das Herausreißen aus diesem durch den kleinen Gewaltakt der alkoholischen Vergiftung. Dessen Exklusivität des „Nur heute!“ stellt die Normalität des Immergleichen nicht in Frage, sondern untermauert sie. Ein leichter Grusel umgibt eine von solchen Liedern und Herrengedecken befeuerte, enthemmte Gruppe von Menschen, ihre Gemeinschaft im Rausch und den Wunsch, diesen gemäß einer geteilten Erwartung nutzbar zu machen, was womöglich noch lautstark mit „Hoppsassa“ und „Tätärätätätätä“ beschworen wird. Es sei natürlich niemandem benommen, sich dabei wohlzufühlen und Erholung zu finden, nur ist die Vorstellung, einzig oder doch vor allem aufgrund der Möglichkeit zu solch einem Schlagerfrohsinn ein freudvolles Leben zu führen, arg traurig.
Selbstverständlich gibt es diesen trostlosen Frohsinn nicht nur im Schlager und unter Alkoholeinfluss, dagegen ist zum Beispiel auch kein oftmals eh arg folkloristischer Deutschpunk und auch nicht der Raver gefeit, wobei dessen bevorzugte Drogen andere Wirkungen haben. Man stelle sich nur mal ein Oktoberfest auf MDMA vor!
Aber nicht jetzt, wir haben ja unseren heutigen Hit, „Komm Gib Mir Deine Hand“, noch gar nicht gehört. Auf geht’s!
Nicht eleganter als Pogo und doch ohne Rempelei: Vielleicht ist das hier der Beleg dafür, dass der westdeutsche Saufpunk aus der Mitte der Bevölkerung stammt.
In der nächsten Folge: Die Windows mit „How Do You Do?“