James BlakeOvergrown

Nichts wäre leichter, als einen Verriss zu schreiben. Das Genre, dem James Blake anfänglich zugeschrieben wurde und dem er auch seinen kometenhaften Aufstieg zum Liebling der Feuilletons verdankt, liegt scheinbar in den letzten Zügen. Totgeritten von den geschichtsvergessenen Schrillex-Trollen und Trittbrettfahrern dieser Welt und verheizt in diversen Automobilwerbespots.

Rekapitulieren wir: „Dubstep“ als Genrebezeichnung geht wohl auf das Magazin XLR8R zurück, welches das Wort auf sein sechzigstes Ttelbild für eine Geschichte zu Horsepower Productions setzte. Musikalisch als Stil nahm es seinen Anfang irgendwann 1999/2000 mit El-B oder dem Label Ghost, seine Wurzeln lagen in UK Garage oder 2-Step, der wiederum seine Inspiration aus Drum’n’Bass, amerikanischem R’n’B, Speed Garage, House, den geshufflten Beats von Timbaland und Dub zog. 2-Step ging schnell den Weg, den alle Musikgenres früher oder später gehen: Es bildeten sich diverse Untergenres und Abspaltungen wie die glossy Bling-Bling-Champagner-Fraktion, inklusive erster Charterfolge von Artful Dodger oder MJ Cole. Mit der zunehmenden Prominenz von MCs wie Dizzee Rascal und Wiley bildete sich schnell ein Hype um Grime, wobei dort auch instrumentale Stücke produziert wurden (Interessierten seien die beiden „Grime“ betitelten Sampler auf Rephlex empfohlen). Hier trafen komplexe Beats auf klaustrophobische, paranoide Amphetamin-Stabs und Basslines, wie sie Doc Scott, Ed Rush, Nico, Trace oder Optical im D’n’B populär gemacht hatten und wiesen so den Weg nach dem Koks- und Schampuskater zurück in die dunkleren, stickigeren Clubs.

Einen anderen Weg dahin nahmen die Macher der forward>>-Partyreihe und Labels wie Tempa oder Ghost (später natürlich auch Hyperdub, Skull Disco oder DMZ). Die Rolle, die die Erstgenannten für die musikalische Konstitution des späteren Genres Dubstep gespielt haben, kann wohl kaum überbewertet werden. Schon Horsepower Productions‘ erste Veröffentlichungen auf Tempa bieten nämlich haargenau das, was die spätere Genrebezeichnung aussagt: Steppende Beats und ganz viel Weed-induzierten, deepen Dub-Wahnsinn à la Lee Perry. Ein weiterer Schritt in der Evolution des Genres war dann die Entscheidung, die anfangs komplexen, swingenden Breakbeats durch gezielte Auslassung scheinbar zu verlangsamen, ohne freilich allzu viel an der eigentlichen Geschwindigkeit – meist um die 130 bpm – zu ändern.

Ungefähr ab 2008 entwickelte sich Dubstep langsam zum nächsten heißen Scheiß, auf den sich scheinbar alle einigen konnten. Der Musikkonservatoriumsschüler James Blake war begeistert von diesen Clubs und Tracks und machte sich bald durch 12“-Veröffentlichungen (unter anderem für Hessle Audio, Hemlock oder R&S) einen Namen innerhalb der Szene und auch schon darüber hinaus. Dass sein selbstbetiteltes Debüt auf dermaßen große Resonanz stoßen und gleich noch das Genre implodieren lassen würde (seitdem wird überwiegend von „Post-Dubstep“ gesprochen), dürfte auch ihn ein wenig überrascht haben. Mit „Overgrown“ hat er nun den Nachfolger veröffentlicht und bleibt dabei dermaßen auf Kurs, dass man ihm auch leicht einen Verriss schreiben könnte. Aber warum sollte man das tun?

„Overgrown“ macht alles richtig! Niemand klingt wie James Blake, ebenso wie niemand wie The xx klingt, sie sind Solitäre in unserer an Copycats und Trendsurfern nicht gerade armen Zeit. Wenn Blake also seinen eingeschlagenen Weg unbeirrt weiter verfolgt, wer sollte ihm das vorwerfen. Die Musik bleibt minimalistisch, oft pointilistisch licht, die Stimmung natürlich melancholisch. Sein Gesang nimmt zeitweilig fast sakrale Züge an („DLM“), was seiner Auseinandersetzung mit Gospel und Soul geschuldet ist. Doch auch wenn man „Overgrown“ wohl als Soul-Album betrachten kann und sollte, Blake verleugnet oder vergisst seine Wurzeln nicht: Bei „Digital Lion“ wird immer noch mehr gesteppt und gedubbt, als es ein Skrillex je vermochte. Nur am Rande sei hier erwähnt, dass der Track sogar fast strickt den Genreformalia zur DJ-Freundlichkeit folgt: Intro (Länge: ca. 1-1:30 Minuten); Break, Hauptteil (Länge: ca. 2:30-4), Break, Outro (nochmal ca. 1:30-2 min.). Und so erlebt man James Blake auf „Overgrown“ mit Tracks wie „Digital Lion“ oder „Voyeur“ tiefer im Club stehend, als man das auf einem seiner Langspieler hätte erwarten können.

Interessant ist auch die Kollaboration mit RZA bei „Take A Fall For Me“. Zum Einem, weil man eine solche wohl eher nicht erwartet hätte, zum Anderen, weil diese tatsächlich auch musikalisch den Bogen zu dessen Großtaten, wie „Enter The Wu-Tang (36 Chambers)“ spannt. Während RZA rappt, besteht Blakes selbstgewählte Aufgabe darin, die Atmosphäre und Tiefe zu erzeugen, für die RZA sonst Gospel- und Soul-Samples genutzt hätte. „Take A Fall For Me“ wirkt wie eine tiefe Verbeugung, fast Hommage an die Blütezeiten des Wu-Tang-Clans (1993ff.) – eine Zeit, an die sich Blake, Jahrgang ’88, kaum erinnern dürfte. Aber das Beste ist: Es funktioniert hervorragend, der Track fügt sich spielend, ohne aus dem Rahmen zu fallen, in den Gesamtkontext des Albums.

Sicherlich: Es gibt auf „Overgrown“ auch kleine Grenzwertigkeiten nah am Kitsch, zum Beispiel „Our Loves Comes Back“. Aber hey, was soll’s! Der Gesamteindruck zählt und da bin ich für meinen Teil ganz bei James Blake.

2 Kommentare zu “James Blake – Overgrown”

  1. […] es zumindest partiell, zum Beispiel mit „The Wilhelm Scream“, in den Mainstream auszustrahlen. Blake und Darkstar haben inzwischen schon beachtliche Nachfolgealben veröffentlicht, auf denen sie ihren […]

  2. […] veranlagt. Dafür wirkt „Sleep Of Reason“ aber mindestens genauso stilsicher und dicht wie „Overgrown“. Raffertie ist ein kohärentes und tatsächlich eloquentes Album […]

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