Ob positiv oder negativ, dieser Tage wird mehr denn je im randlosen Sammelbecken des „Indie“ über Bands diskutiert, die andere Stile und Einflüsse in ihre Musik einfließen lassen. Der Kritiker Simon Reynolds nennt dieses Phänomen „Indie-not-indie“, Nitsuh Abebe betrachtete es ausgiebig in seinem Jahrzehnt-Essay auf Pitchfork und scheinbar die ideale Plattform, um diesen Vorgang aufzuzeigen, ist die „Influences“-Sektion in Myspace-Profilen, in der jeder von den Hörgewohnheiten des Künstlers auf dessen Musik schließen kann. So direkt funktioniert dies allerdings praktisch nie, wer 100 aufregende Experimentalbands auflistet klingt am Ende doch nur wie ein x-beliebiger Joy-Division-Abklatsch, auch lässt sich anhand von Interviews  nachverfolgen, dass Durchschnitts-Indieschrammler genau so viel Hip Hop hören wie alle anderen auch, ohne dass es sich in ihrer Musik wiederspiegeln würde.

Anders verhält es sich mit Los Campesinos!. In ihrer Liste finden sich allerdings keine trendig-exotischen Unbekannten, vielmehr gleicht sie einem klassischen US-/UK-Indie-Kanon der vergangenen zwei Jahrzehnte. Sie haben einen dritten Weg neben „Juno“-Weichspüler-Geplänkel und Reynolds‘ „nicht-so-richtig-Indie“ gefunden, eine „jetzt erst recht“-Intensivierung bei der man früher oder später  alle dort genannten Künstler irgendwo in dem immens dichten Klanggefüge des Septetts reflektiert finden kann. Kein Wunder, denn die Indie-Kannibalen hören, leben, atmen diese Musik und die sie umgebende Kultur, dazu muss man sich nur ihre Jahrzehntcharts ansehen. Ganz zu schweigen von ihren Pavement- und Heavenly-Covern, Songs wie „Knee Deep At ATP“, dass sie für das  2008er Minialbum „We Are Beautiful, We Are Doomed“ ein Boxset mit Poster, Buttons und einem Fanzine anfertigten, Vinylfanatiker sind, eine eigene Tourreihe mit Times New Viking und No Age starteten und auch allgemein ein sicheres Gespür für Nachwuchsbands haben. Schließlich sind sie mittlerweile in der Lage, sich Vorgruppen auszuwählen, zu deren Konzerten sie selbst auch gerne gehen würden. Klar: Wer offenherzigen, sich seiner selbst bewussten Indie nicht mag, wird die Quadratur des Indie, den diese Band verkörpert, erst recht ablehnen.

Für das neue Album „Romance Is Boring“ darf man das Referenzfeld von Los Campesinos! nochmal erweitern. Die oben erwähnte Lo-Fi-Tour hat sich in einem dreckiger verzerrten Gitarrensound niedergeschlagen, noch mehr aber merkt man, dass Texter Gareth dem emotional geladenen Artpop von Xiu Xiu und Parenthetical Girls verfallen ist. Das schlug sich schon in seinem stellenweise an beide erinnernden, mit Situationsbeschreibungen gefüllten Erzählstil nieder, wird aber kaum deutlicher als in der Mitte des Eröffnungsstücks „In Medias Res“, als über einem dunkel klatschenden Beat nicht nur Gareth auf einmal verdächtig nach Jamie Stewart klingt, sondern auch der Xiu-Xiu-Kopf selbst als Gast in den Raum schallt. Die Spannung wird nochmal intensiviert als eine Wand aus Gitarren nebst Glockenspiel die Führung übernimmt, langsam die Tonleiter erklettert und schließlich in einen glorreichen BSS-Trompetenchor ausbricht.

Man könnte ja meinen, eine Band, deren Sound von Anfang an als dicht bis überladen beschrieben wurde, würde sich zu diesem Zeitpunkt nun etwas zurücknehmen. Doch das Gegenteil ist der Fall: Auf „Romance Is Boring“ zeigen sich Los Campesinos! sonisch ambitionierter denn je, setzen neben einer Unmenge an Verzerrung auch Dissonanz immer wieder gezielt zur Kontrastierung der klaren und harmonischen Elemente ein. Die Geigenarragements sind grandioser (nirgends mehr als in „I Just Sighed. I Just Sighed, Just So You Know“), immer wieder tauchen elektronische Drums und an allen Ecken und Enden verteilt eine unidentifizierbare Menge an Stimmen auf, ob im gewohnt energetischen Zusammen (am schönsten beim „Can’t we all please just calm the fuck down“-Intro von „This Is A Flag. There Is No Wind“) oder subtil eingeflochten (die klaren „Bap Bap“s und das Weirdo-Falsett in „Plan A“).

Auch strukturell gibt es einiges zu verarbeiten, nicht nur nehmen die Songs oft unerwartete Wendungen, wie im Falle von „I Warned You: Do Not Make An Enemy Of Me“ werden dabei bis zu drei verschiedene Taktarten durchlaufen. Gareths Texte, hier zum letzten Mal im Wechselgesang mit dem seitdem geschiedenem Ex-Bandmitglied Aleksandra, sind in enger Verbindung dazu ähnlich gedankensprunghaft und ignorieren geflissentlich die Weisung „Fasse dich kurz“. Man ahnt es schon: All das ist, nicht in Ermangelung guter Songs und Melodien, sondern in seiner schieren Dichte mit ein oder zwei Hördurchläufen unmöglich zu erfassen. Die Band, deren erste Single in jugendlichem Übermut nur so zum Refrain sprintete, hat ihren ersten Grower produziert. Zum Einstieg gibt es darauf aber zum Glück auch geradlinige Nummern wie „There Are Listed Buildings“ oder „The Sea Is A Good Place To Think Of The Future,“ der beste Song den Los Campesinos! bislang geschaffen haben. Vielleicht auch weil sie darauf mehr als alles andere wie Los Campesinos! klingen, aber „Romance Is Boring“ macht ohnehin deutlich, dass diese Band sich immer nur in Auszügen festlegen lässt und wie nicht – oder genau genommen doch – zuletzt im traumhaften „Coda: A Burn Scar In The Shape Of The Sooner State“ angedeutet noch ordentlich Raum zur Weiterentwicklung besitzt.

81

Label: Cooperative Music

Referenzen: Pavement, Xiu Xiu, Deerhoof, Parenthetical Girls, Broken Social Scene, Blur, Andrew Bird

Links: Homepage, Label

VÖ: 29.01.10

10 Kommentare zu “Rezension: Los Campesinos! – Romance Is Boring”

  1. Markus sagt:

    zwei mitreißende songs, rest öde bis ärgerlich. so um die 50% bei mir. aber gute analyse, uli!

  2. Pascal Weiß sagt:

    Gratulation, Uli. Du hast mir die Platte mal so richtig schmackhaft gemacht. Und begründest quasi selbst noch im letzten Absatz, warum es so viele Worte werden mussten;) Super. Der Stream läuft…

  3. Danke ihr beiden. Zunächst hatte ich der Platte auch 60% gegeben, in der letzten Woche hat sich das aber mehr und mehr geändert und jetzt ist sie (nach These New Puritans) meine Zweitlieblings-Januarscheibe. Das hier ist mindestens die dritte Neufassung des letzten Absatzes!

  4. Wirklich interessant zu lesen, aber das Album taugt mir trotzdem nichts. Irgendwie eine Band, die ich eigentlich lieben müsste, weil sie genau das verkörpern, was ich mir unter der tollsten Musik der Welt vorstelle, mit der es dann aber aus irgend einem Grund trotzdem nie hinhaut. Quasi der Gegenbeweis zu Broken Social Scene.

  5. […] seinem hervorragenden zweiten Album “Romance Is Boring” schaffte es das britische Septett bereits in unsere Plattenelite. Auch bei der Wahl ihrer […]

  6. […] verbuchen, das die Vertreter der Indie- und Pubrockabteilung mit Hilfe von Titus Andronicus, Los Campesinos! (die nebenbei für unser bisheriges Konzerthighlight gesorgt haben!), Frightened Rabbit oder Spoon […]

  7. […] und Folk-Introvertiertheit dahinvegetierenden Indierock mit einer von Uli anlässlich seiner Los Campesinos-Review so treffend beschriebenen “jetzt erst recht”-Intensivierung ins neue Jahrtausend […]

  8. […] in alle Windrichtungen. Bisher bestätigt sind u.a. AUFTOUREN-Favoriten wie Spoon, Chokebore, Los Campesinos!, Faith No More, Moderat, Owen Pallett, Brother Ali, Anti-Pop Consortium, Lee Field & The […]

  9. […] tendieren, nur etwas weniger spröde. Nach dem auf allen Ebenen verzerrten Noise-Pop von „Romance Is Boring“ bemüht sich aber vor allem die Produktion John Goodmansons diesmal um mehr Weichheit, nutzt […]

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