AUFTOUREN 2020 - Das Jahr in Tönen

Das neue Jahr hat schon angefangen, doch in Sachen Musik tut sich noch nichts? Na da hätten wir etwas anzubieten: Nach den Musikvideos, den schönsten und den scheußlichsten Albumcovern widmen wir uns mit unserem Jahresrückblick nun den Albumhighlights 2020.

Dort findet sich einmal mehr, doch mit stärkerem Bezug als sonst Musik, die das Jetzt konfrontiert oder im Gegenteil den Eskapismus von bitteren Verhältnissen bietet, sei es in Traumwelten oder auf den imaginär gefüllten Dancefloor. Werke, die vor und während weltweiter Quarantänen entstanden und trotzdem nebeneinander stehend nicht fehlplatziert wirken. Vor allem aber eines geben: Hörvergnügen.


10

Run The Jewels

RTJ4

[Jewel Runners]

Killer Mike und El-P wissen, dass es keine Hoffnung gibt. Schon im Opener „Yankee And The Brave (Ep. 4)” sind sie von einer Überzahl Cops umzingelt – die Fluchtchancen eher gering. Schlimmer als die Ausweglosigkeit dieser fiktiven Actionszene ist aber, dass Run The Jewels mit ihrem vierten Album präzise herausarbeiten, warum die Realität ähnlich hoffnungslos ist: Rassismus und Kapitalismus sind viel zu eng miteinander verflochten, die Überwachung zu allgegenwärtig und die vermeintlichen Allies viel zu apathisch, wenn der Kampf gegen Ungerechtigkeit mehr verlangt als ein paar kritische Tweets. Aufgeben ist natürlich dennoch keine Option, deshalb macht das Rap-Duo mit „RTJ4“ einfach weiter und hat seine Erfolgsformel kaum geändert: etwas mehr Wut, etwas weniger vulgärer Witz, kostspieligere Samples, namhaftere Gäste (Mavis Staples, Pharrell Williams) und musikalisch eine Hommage an legendäre Rap-Crews wie EPMD. Denen gelang zu Beginn ihrer Karriere, was jetzt auch Run The Jewels geschafft haben: vier Alben, vier Klassiker. (Daniel Welsch) (Daniel Welsch)


9

Adrianne Lenker

songs / instrumentals

[4ad]

2020 war das Jahr der Isolationsplatten, der Introspektive, aber auch der plötzlich wegbrechenden Verdienstmöglichkeiten, insbesondere auch bei Musiker*innen, die viele ihrer Einnahmen durch die öffentliche Aufführung generieren. Adrianne Lenker macht da keine Ausnahme, aber aus der Not eine Tugend. Ein vollzogener Ortswechsel, ob Covid-19-induziert sei mal dahingestellt, eine „improvisierte“ Homerecordingsituation und als Ergebnis ein Doppelwerk. „Songs“ präsentiert besten, nahezu traditionellen Folk zur Akustischen mit minimalen Fieldrecordings und „Instrumentals“ leicht editierte frühmorgendliche Improvisationen. Lenker etabliert sich mit diesen Alben auch ohne ihre Band Big Chief als Juwel und wichtige Stimme des amerikanischen Indiefolk. (Mark-Oliver Schröder)



8

Rina Sawayama

SAWAYAMA

[Caroline]

Mit „SAWAYAMA“ hält die in Japan geborene Britin an ihrem Revival-Pop fest, gibt ihm aber einen neuen Spin, der an ein anderes prägendes Genre der Jahrtausendwende erinnert. „Dynasty“ ist Rock-Oper, „XS“ kontrastiert einen mitreißenden Refrain mit Nu-Metal-Riffs und „STFU!“ ist Metal mit Bubblegum-Chorus. Dieses Konzept wird nicht in jedem Song durchgezogen, es finden sich auch wieder reine Pop-Stücke, was der Vielseitigkeit des Albums aber nur zugute kommt. Sei es das im ersten Moment sehr kitschig klingende „Paradisin‘“, das das Saxophonsolo auspackt, oder der langsame Elektro-Pop von „Bad Friend“, der Gospelchöre herbeibeschwört – fast jeder Song weiß die Spannung hochzuhalten. Sawayama beweist einmal mehr, dass sie nicht nur ein Händchen für gutes Songwriting hat, sondern auch weiterhin Nostalgie-Pop für das Jahr 2020 schreiben kann.(Pierre Rosinsky)


7

Taylor Swift

folklore / evermore

[Republic]

Das Cover versprüht Black-Metal-Ästhetik, die auch von Myrkur stammen könnte, aber Taylor Swift veröffentlichte natürlich auch 2020 kein Metalalbum. Trotzdem überraschte „folklore“ nicht nur damit, wie aus dem Nichts veröffentlicht zu werden, sondern auch musikalisch. So spielte Swift, eine der Großverdienerinnen im Popgeschäft und eher bekannt für ebenso radio- wie clubtaugliche Songs, für „folklore“ meist zusammen mit The Nationals Aaron Dessner und Gästen wie Bon Iver nahezu minimalistische, introvertierte Songs ein, die auch ihre Qualitäten als Geschichtenerzählerin herausarbeiten. Die Produktion ist zurückgenommen, die Sounds, die Instrumentierung wohltemperiert. Nichts schreit nach Blockbuster, obwohl dies natürlich – allein wegen der Haupfiguren – einer ist. Für mich, der ich Taylor Swift nie auf dem Schirm hatte, tatsächlich das beste Lockdown – Isolationsalbum des Jahres, welches auch noch durch einen sehens- und vor allem hörenswerten Studiosession-Film mit noch kleinerer Besetzung als Trio ergänzt wurde. Und als wäre das alles noch nicht genug, legte Swift mit der Begründung, die Arbeit an „folklore“ habe einfach so viel Spaß gemacht, dass alle einfach weiterarbeiten wollten, mit „evermore“ auch noch ein weiteres hervorragendes Album zum Jahresende auf. (Mark-Oliver Schröder)



6

Fleet Foxes

Shore

[Anti-]

„Shore“ bestätigt den Trend, dass die Alben von Fleet Foxes stets homogener werden. Nicht nur musikalisch, sondern auch erzählerisch versprüht das Album in allen Belangen eine Stringenz, in der es sich einerseits leicht versinken lässt, die sich andererseits aber auch weit von einer gegenwärtigen Erwartungshaltung abgekoppelt hat. „Shore“ verblüfft mit bedingungsloser Klarheit und Anmut. Auch wenn die melancholische Verschrobenheit insbesondere des Vorgängers noch hier und da zu hören ist, dominiert in Robin Pecknolds warmem Gesang hörbar die Freude darüber, ein idyllisches Kleinod geschaffen zu haben. Hier hat jemand seinen Frieden gefunden. (Felix Lammert-Siepmann)(Felix Lammert-Siepmann)


5

Jessie Ware

What’s Your Pleasure?

[Virgin]

Jessie Ware hat dieses verrückte Jahr von Anfang an zu ihrem gemacht. Ihr großartiges viertes Album erschien zu Beginn der globalen Pandemie und Ware reagierte direkt mit einer ganzen Reihe kreativer Musikvideos und Live-Performances auf die veränderte Situation. Musikalisch hangelt sich „What’s Your Pleasure?“ lasziv und sexy von Ohrwurm zu Ohrwurm und zementiert endgültig Jessie Wares Status als Großbritanniens Discoqueen. In einer Zeit, in der die Tanzflächen leer bleiben mussten, war ihre Kombination aus eingängigem, tanzbarem Disco-Soulpop und den passenden Videos damit genau das richtige Gegenmittel. (Benedict Weskott)


4

Perfume Genius

Set My Heart On Fire Immediately

[Matador]

Die beiden ersten Vorabsongs, „Describe“ und „On The Floor“, ließen es schon erahnen: Dieses Album würde dichter und vielfältiger werden als vieles, was Mike Hadreas zuvor gemacht hatte. Der eine mit einem wilden Shoegaze-Part, der andere mit einem funkig angehauchten Achtziger-Disco-Beat. Es sind letztlich genau diese beiden Pole, zwischen denen „Set My Heart On Fire Immediately“ mit größter Leichtigkeit pendelt. Ganz besonders die verzerrt-noisigen Elemente stehen dem Album ausgezeichne – auch deshalb, weil durch sie die Intimität, die auch auf diesem Werk fester Bestandteil der Herangehensweise Hadreas‘ ist, offensiv nach außen gekehrt wird, letztlich aber die gleiche alles umarmende Wirkung erzeugt. (Felix Lammert-Siepmann)


3

Fiona Apple

Fetch The Bolt Cutters

[Epic]

Keine Zugeständnisse. Nicht nur ihren kreativen Prozess, ihre gesamte Karriere hat Fiona Apple nach den schwierigen Kämpfen der Vergangenheit auf das heruntergebrochen, was sie selbst für nötig und wichtig erachtet. So geschah die Veröffentlichung von “Fetch The Bolt Cutters” digital ohne Vorabsingle, Video und lange Terminankündigung zu Beginn der amerikanischen Selbstisolationsphase, wobei Apple das Album ohnehin abgeschieden im eigenen Heim entwarf. Furios kombiniert sie DIY-Klapperperkussion mit ihrem Piano, durchläuft über das Album ein weites Spektrum nicht nur ihrer eigenen Erfahrungen über die Jahrzehnte, sondern erzählt auch aus der Perspektive anderer über Missbrauch, Unwillen und Unfähigkeit zur Beziehung, Depression oder eine ungemütliche Dinnerparty. Ihre radikalen Songumbrüche können wie eine Drohung gegen nachlässiges Nebenbeihören wirken, fordern in jedem Fall Aufmerksamkeit. Empathisch, solidarisch, zornig, widerspenstig wirkt “Fetch The Bolt Cutters” nicht zuletzt dank Apples Verspieltheit und Humor, die auch das Albumcover widerspiegelt, einen ungemeinen Sog aus und fordert nicht nur im Titel zugleich hochernst zur Befreiung auf. (Uli Eulenbruch)


2

Phoebe Bridgers

Punisher

[Dead Oceans]

Kaum hatte sich “Stranger In The Alps” im Gehör eingenistet, ging es Schlag auf Schlag für Phoebe Bridgers: ein Projekt mit boygenius, das nächste mit Better Oblivion Community Center, Auftritte und Gastvocals hier und da und dort und nun 2020 endgültig in aller Munde mit “Punisher”. Darauf bereichert die Amerikanerin ihre Texte über Trauer und Therapie erneut mit lyrischen Details von persönlichen Banalinteressen bis markerschütternden Erfahrungen, allerdings in einer neuen Sounddimension. Ist “Garden Song” noch intime Akustikgitarre mit dezentem Begleitgesang, verabschiedet sich “Kyoto” mit Rockarrangement und Blechbläsern vom Folk, ohne die emotionale Wirkung zu schmälern oder verflachen. Vielmehr besticht das Album mit einem Facettenreichtum des Ausdrucks, ob von Seiten der Begleitvocals u.a. Julien Bakers und Conor Obersts oder in Form der wechselnden Klangakzente, wenn Bridgers in “Chinese Satellite” zwischen Peitschtrommeln und Streichern hängt, sich über “Moon Song”s warmem Saitenhall aufspannt und “I See You” dann wieder groß anschwillt. (Uli Eulenbruch)


1

SAULT

UNTITLED (Black Is) / UNTITLED (Rise)

[Forever Living Originals]

Als im Sommer die Ermordung George Floyds, die Tötung Breonna Taylors und weitere Fälle rassistisch motivierter Polizeigewalt nicht nur in den USA für einen weiteren Höhepunkt der Protestbewegung „Black Lives Matter“ sorgten, sondern auch in Berlin, München, London, Kopenhagen, Paris oder São Paulo zigtausende Menschen gegen Rassismus und Polizeigewalt demonstrierten, mischte sich unter die Wut, Trauer und Fassungslosigkeit auch Hoffnung. Niemand hat die ambivalenten Gefühle der BLM-Bewegung 2020 besser in Worte und Melodien gepackt als SAULT mit ihren beiden Alben „UNTITLED (Black Is)” und „UNTITLED (Rise)“. Auch weil SAULT wie die Protestbewegung als anonymes Kollektiv auftreten und so die gesamte Aufmerksamkeit auf ihre Musik und deren Message lenken. Die 35 Songs der beiden Alben zitieren sich kunstvoll durch die Geschichte schwarzer (Protest-)Musik, vereinen Soul, Disco, Afrobeat, Funk und Spoken Word, ohne dabei nostalgisch zu klingen. Die Kunst der vielen großartigen schwarzen Musiker*innen, auf die sich SAULT beziehen und die man über „UNTITLED (Black Is)“ und „ UNTITLED (Rise)” (wieder-)entdecken kann, erinnert daran, wie lange schwarze Menschen diesen Kampf bereits kämpfen und wie viel noch zu tun ist. Dennoch ist da nicht nur Wut, symbolisiert durch die Faust auf dem Cover des ersten Albums, sondern auch Hoffnung, wie die betenden Hände des Covers von „UNTITLED (Rise)” zeigen. (Daniel Welsch)



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