AUFTOUREN 2020Das Jahr in Tönen

Das neue Jahr hat schon angefangen, doch in Sachen Musik tut sich noch nichts? Na da hätten wir etwas anzubieten: Nach den Musikvideos, den schönsten und den scheußlichsten Albumcovern widmen wir uns mit unserem Jahresrückblick nun den Albumhighlights 2020.
Dort findet sich einmal mehr, doch mit stärkerem Bezug als sonst Musik, die das Jetzt konfrontiert oder im Gegenteil den Eskapismus von bitteren Verhältnissen bietet, sei es in Traumwelten oder auf den imaginär gefüllten Dancefloor. Werke, die vor und während weltweiter Quarantänen entstanden und trotzdem nebeneinander stehend nicht fehlplatziert wirken. Vor allem aber eines geben: Hörvergnügen.
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Róisín Murphy Róisín Machine [Skint] |
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Auf dem Cover ihres letzten Albums „Take Her Up To Monto“ inszenierte sich Róisín Murphy als Bauarbeiterin mit Neonjacke und Schutzhelm und werkelte mit sägenden und klöppelnden Sounds. Vier Jahre später genügt erneut ein flüchtiger Blick auf das Cover von „Róisín Machine“, um den Sound des Nachfolgers einzuordnen. Albumtitel und -cover erhöhen die 47-jährige Irin zum mythischen Wesen: halb Hit-Maschine, halb Disco-Göttin. Zusammen mit DJ Parrot hat die ehemalige Moloko-Sängerin ein klassisches, seidig glänzendes Disco-Album aufgenommen, das mit fließenden Übergängen eher wie ein DJ-Mix funktioniert. Dass die Dancefloors, für die „Róisín Machine“ zweifellos produziert wurde, 2020 leer blieben, schadet den zehn Songs nicht. Weil man auch prima alleine dazu tanzen kann, wie Róisín Murphy im Video zu „Something More“ aus dem Ibiza-Lockdown bewies. Und weil „Shellfish Mademoiselle“ diesen Widerspruch auf den Punkt bringt: „I know I shouldn’t really be dancing at a time like this.“ (Daniel Welsch) |
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Hachiku I’ll Probably Be Asleep [Marathon Artists] |
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2020 war zweifellos ein Jahr für Dreampop: Mit jeder neuen Hiobsbotschaft wuchs der Drang, sich eine Kissenburg zu bauen und darin alles zu verschlafen. Die passenden Schlaflieder für dieses Projekt lieferte Anika Ostendorf mit „I’ll Probably Be Asleep“. Allerdings sind die acht Songs des Albums weder musikalisch noch textlich so harmlos und einlullend, wie es zunächst wirkt. Die Mittzwanzigerin, die in Michigan geboren wurde, heute in Melbourne lebt, aber einen Teil ihrer Jugend im nordrhein-westfälischen Ort Dansweiler verbracht hat, ist eine hellwache Beobachterin des Alltags und ihrer Mitmenschen und hat für jede Situation die passende und lässige Slacker-Absage parat – Nachahmung empfohlen: Die nächste Zoom-Konferenz? „Maybe I’ll be up for it/ But I’ll probably be asleep.“ Die nächste Twitter-Diskussion über die Gefahren des Impfens? „How dare you even talk to me?“ (Daniel Welsch) |
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No Joy Motherhood [Joyful Noise] |
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Bereits während des Shoegaze-Revivals waren No Joy mutiger und experimentierfreudiger als ihre Kolleg*innen. Mit der EP-Trilogie „Drool Sucker“, „Creep“ und „No Joy / Sonic Boom“ (mit Pete Kember von Spacemen 3, dafür ohne Gitarren) haben sie das einschnürende Sound-Korsett des Shoegaze immer weiter gelockert, „Motherhood“ ist nun der vorläufige Höhepunkt dieser Entwicklung. Was als Big-Beat-Hommage inklusive DJ-Scratches beginnt, kann jederzeit in eine Feedback-Orgie, eine kitschige Klavierballade mit Windspiel, Trip-Hop oder psychedelischen Dancerock à la „Screamadelica“ münden. Und „Dream Rats“ mit Alissa White-Gluz, der Sängerin der Death-Metal-Band Arch Enemy und Schwester des letzten verbliebenen No-Joy-Mitglieds Jasamine White-Gluz, beweist, dass man sogar Dreampop und Metal zusammendenken kann. Dennoch ist „Motherhood“ kein postmoderner Zitat-Pop mit ironisch-gebrochener Distanz, White-Gluz meint es vollkommen ernst. Das beweisen auch die Texte, die sich um große Themen wie Geburt, Altern, Tod und Familie drehen. (Daniel Welsch) |
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William Basinski Lamentations [Temporary Residence Ltd.] |
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William Basinski wandelt einmal mehr ganz nah Abgrund: „Lamentations“ fasst den permanenten Dämmerzustand der Welt beängstigend konzentriert zusammen. Wenn die einzelnen Loops geduldig ausholen, sich wieder verflüchtigen und dabei die Traurigkeit wie Tropfen aus dem Gewand sickert, hat das fast etwas Sakrales. „Lamentations“ bläst nachdrücklich zum Rückzug ins Private, ins Innerste. Fassung und Form verliert es dabei höchst selten. Nur kurz vor Schluss holt „Please, This Shit Has Got To Stop“ so richtig aus und benennt damit unverblümt genau das, was Basinski schon von Beginn an erklären will. Irgendwie muss es weitergehen. (Felix Lammert-Siepmann) |
21 |
Tame Impala The Slow Rush [Caroline] |
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Nach dem Überalbum „Currents“ hatte Kevin Parker erst mal ausgiebig getourt und sich Features gewidmet. In diesem Jahr aber kam Tame Impalas Klang mit „The Slow Rush“ wieder in Bewegung. Der Trademarksound zwischen Psychedelic Rock und Indiepop ist geblieben und doch ist die Platte nicht nur eine logische Fortsetzung des Vorgängeralbums, sondern öffnet auch eine ganz neue thematische Bandbreite. Kevin Parker reflektiert und resümiert, begleitet von schillernden Synthie-Klängen, über das Leben und seine Vergänglichkeit. In der Retrospektive kann „The Slow Rush“ damit ziemlich stellvertretend für das vergangene Jahr stehen. Aber auch so ist es eine Sammlung von genauso eingängigen wie verschwurbelten Songs, die mit Pop nur spielen, statt sich dem Mainstream hinzugeben. (Benedict Weskott) |
20 |
Touché Amoré Lament [Epitaph] |
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Die größte Überraschung des fünften Albums von Touché Amoré: Jeremy Bolm kann Punchlines. Im letzten Song „A Forecast“ knüpft sich der Sänger der Post-Hardcore-Band aus Los Angeles einerseits seine Bandkollegen vor, weil die ihn am Jahrestag des Todes seiner Mutter im Stich ließen, andererseits Familienmitglieder, die auch nach vier Jahren Trumpismus der Grand Old Party treu bleiben. Auch musikalisch überraschen Touché Amoré mit einer gesungenen (!) Klavierballade, einer jaulenden Pedal-Steel-Gitarre oder der für ihre Verhältnisse ausufernden Single „Limelight“ mit einer Gaststrophe von Manchester Orchestras Andy Hull. Vier Jahre nach der aufwühlenden Trauerarbeit von „Stage Four“ fiel es Touché Amoré schwer, ein übergeordnetes Thema für das Album zu finden. „Lament“ handelt von der Übergangsphase, wenn es wieder mehr gute als schlechte Tage gibt und die Trauer langsam in Heilung umschlägt. Und erinnert uns mit der Pop-Punk-Hymne „Reminders“ und dem schönsten Musikvideo des Jahres an die (tierische) Liebe in unserem Leben.(Daniel Welsch) |
19 |
Eartheater Phoenix Flames Are Dew Upon My Skin [PAN] |
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Auch Alexandra Drewchin, die Künstlerin hinter Eartheater, vorher eher bekannt für exzentrische Produktionen, hat uns dieses Jahr ein ganz besonderes Album vorgestellt. „Phoenix: Flames Are Dew Upon My Skin“ setzt neben dem bekannten versatilen Einsatz von Drewchins Stimme auf Rückbesinnung Richtung akustischer Gitarre unterfüttert mit Elektronik, Neo-Classic, Ambient und Drones. Liest sich wenig aufregend, hört sich aber so an. (Mark-Oliver Schröder) |
18 |
Dua Lipa Future Nostalgia [Urban] |
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Gerade als der 80er-Hype totgesagt worden und die Menschheit im Lockdown gefangen war, droppte Dua Lipa ihre Version von Nostalgie: Discopop mit unfassbarer Ohrwurmqualität und nach vorne gerichtetem Blick. Kein Schwelgen in Vergangenem, sondern Vollgas in die Zukunft mit Retro-Appeal. „Future Nostalgia“ ist ein Album, das mit seinen Singleauskopplungen, Musikvideos und Liveauftritten in diesem Jahr immer wieder genau zur richtigen Zeit da war. Damit kann sich die Britin mit kosovarischen Wurzeln nicht nur Hoffnungen auf mehrere Grammys machen, sondern hat dem Jahr der Quarantäne-Performances auch immer wieder einen neuen Goldstandard beschert. (Benedict Weskott) |
17 |
U.S. Girls Heavy Light [4ad] |
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Es ist bemerkenswert, wie Meghan Remy vom schrägen Lo-Fi ihrer Frühwerke über das vergangene Jahrzehnt zu glanzvollem Blues-Psych-Pop mit voller Bandbesetzung avanciert ist. Unter der diesmal besonders glamourösen Haube pumpt aber immer noch ein Treibstoff aus Wut und Trauma, ob rein verbal geäußert in “The Most Hurtful Thing” oder in Form von Dissonanz am Ende von “State House (It’s A Man’s World)”, das sich wie als Anklage gegen gesellschaftlichen Fortschrittsmangel über dem jahrzehntealten “Be My Baby”-Beat entlädt: “But it’s a man’s world, we just breed here/ We don’t have no say, we only bend”. Derartige Wendungen sind mehr den kürzeren Stücken vorbehalten, ihre großen Melodien spannt Remy dafür in umso prachtvollerer Breite auf. (Uli Eulenbruch) |
16 |
Moodymann Taken Away [Mahogani Music] |
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Cool, cooler, Moodymann: Von der souligen Funk-Eröffnung „Do Wrong“ an versprüht das neue Werk der Detroiter Dance-Größe souveräne (und zur Bewegung animierende) Lässigkeit. Doch wo Moodymann noch auf seinem selbstbetitelten 2014er-Album sich oder zumindest seine künstlerische Persona Rapper-artig groß selbstinszenierte und sich über seine Lümmellänge ausließ, hängt hier schwerer als zuvor über jeder Beziehungsgeschichte der bedrohliche Schatten von Rassismus und Polizeigewalt, die Kenny Dixon Jr. 2019 am eigenen Körper erfahren musste. Ein vermeintlich rundum wollüsterner Track wie „Let Me Show You Love“ wird so, bei allem Glanz, diffundiert melancholieverhangen. (Uli Eulenbruch) |
15 |
Actress Karma & Desire [Ninja Tune] |
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Die Musik von Darren J. Cunningham kann überaus flüchtig sein. Buchstäblich sogar, denn das skizzenhafte “88”, sein erstes Album in diesem Jahr, tauchte erst unter rätselhaften Umständen online auf und verschwand eine Weile später wieder genauso (und ist nur noch in Form inoffizieller Uploads zu finden). Eine weniger frustrierende Art von Versteckspiel betreibt Actress auf “Karma & Desire”, wo die Stimmen von u.a. Zsela und SAMPHA oft nur in eine Andeutung von melodischem Gesang zerschnitten oder als Spoken Word im Klangraum stehen, den halbwachen Bewusstseinszustand dieser Musik intensivierend. Besonders in den pianogetragenen ambientnahen Stücken, aber auch mit wattigem Techno zeigt Actress sich melodiefreudiger als zuvor, Stücke wie ”XRAY“ verströmen Wärme, ohne in eine stereotyp harmonische Klangpalette zu verfallen und bewahren sich so ihre Aura des Ungreifbaren. (Uli Eulenbruch) |
14 |
Shygirl ALIAS EP [Because] |
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Shygirls zweite EP setzt alles auf Sexiness und dekonstruierte Dancefloor-Banger. Die Londoner Multimediakünstlerin feiert betrunkenes Rummachen und die Exzentrik, bounct durch verschwitzte Clubnächte und wirft überholte Vorstellungen von Vergangenheit und Zukunft über den Haufen. Aus den gepitchten Vocals spricht eine Gegenwart, die nicht aufzuhalten ist. Shygirl hat längst das Gaspedal am Anschlag und keine Zeit für Umwege oder alle, die nicht mithalten können. Gut so, denn dadurch erst wird die Musik zum riesigen Energieschub, der nachhaltig mit seiner Stimmung ansteckt. (Benedict Weskott) |
13 |
Drive-By Truckers The New OK / The Unraveling [ATO] |
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Klar, die USA hatten auch schon in der Vergangenheit mit verschiedensten Problemen zu kämpfen und standen damit auf der Welt längst nicht allein. Doch 2020 verdichtete sich hier vieles auf fast niederschmetternde Art und Weise. So klang das im Januar veröffentlichte „The Unraveling“ trotz seiner von Anfang an vorhandenen Relevanz rund um Schusswaffen, das krankende Gesundheitssystem und soziale Unruhen von Monat zu Monat mehr nach einer dunklen Prophezeiung, deren Eintreffen man in Echtzeit miterleben durfte. Wut und Verzweiflung überschatten hier vieles, ganz so, als glaube die Band, bloßes Ansingen würde nicht mehr ausreichen. Etwas sanfter – wenn auch nur im Ton – gibt sich dann schon „The New OK“, der Nachzügler aus dem Oktober. Kaum ein anderer Titel könnte dieses Jahr so passend beschreiben. (Felix Lammert-Siepmann) (Felix Lammert-Siepmann) |
12 |
Sufjan Stevens The Ascension [Asthmatic Kitty] |
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Wer von Sufjan Stevens noch immer die Vervollständigung des Ein-Album-pro-Bundesstaat-Projekts erwartet, sollte den Gedanken mit “The Ascension” allmählich mal aufgeben. Nicht nur, weil seit seinem letzten Solowerk über fünf Jahre vergangen sind oder sich die elektronisch reduzierte Klang- und Stilpalette weit von den Frühwerken des Amerikaners fortentwickelt hat, vielmehr zieht Stevens nicht nur auf “Ursa Major” Grenzen zwischen (religiösem) Glauben und blindem, empathielosem Unwillen, die Realität zu akzeptieren (“For the most of all my life/ I feel as if I were a stranger/ And all the consequences/ From the throes of our persuasion/ Lord, I ask for patience now”). Noch klarer distanziert er sich nur noch im ausladenden Finale “America” von toxischem Dogmatismus: “Don’t do to me what you did to America!” (Uli Eulenbruch) |
11 |
Bohren & Der Club Of Gore Patchouli Blue [PIAS Germany] |
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Da waren sie wieder: Bohren & Der Club Of Gore bescherten uns mit ihrem ersten Album nach immerhin sechs Jahren tatsächlich einige Veränderungen. „Patchouli Blue“ als freundlich zu beschreiben, wäre jedoch etwas zu viel des Guten; tatsächlich kommt es aber deutlich aufgelockerter als erwartet daher. Das beschwingte „Glaub Mir Kein Wort“ beispielsweise passt eher zu den Coen-Brüdern als in einen Horrorfilm und selbst der neunminütige Titeltrack driftet nie in die Dunkelheit ab, sondern hält stets den Kopf oben. Gerade gegen Ende spielt „Patchouli Blue“ seine Stärken deutlich aus und zementiert damit nachhaltig den eingeschlagenen Weg. (Felix Lammert-Siepmann) |