NeoklassikHörbare Weite

Neoklassik: Hörbare Weite

In Sachen zeitgemäße Klänge erregt neoklassische Musik schon seit einiger Zeit Aufmerksamkeit. Mit dem Erfolg von Nils Frahms Soundtrack zum Film „Victoria“ ist die Musik, die je nach Perspektive Neoklassik, Crossover-Klassik, kontemporäre oder experimentelle Klassik genannt wird, auch im Mainstream bekannter geworden. Besonders aus dem Haus Erased Tapes kommt von Künstlern wie Ólafur Arnalds, Nils Frahm oder Douglas Dare eine oft hypnotische Mischung aus elegischen Melodien aus Konzertflügel, Piano und Fender Rhodes sowie verzerrten Synthesizerklängen. Auch Martin Kohlstedt oder Federico Albanese reihen sich mit ihrer Musik hier ein – Letzterer veröffentlichte Mitte Januar sein zweites Album „The Blue Hour“ auf dem neugegründeten Label Neue Klassik von Berlin Classics.

Albanese vertont die Zeit zwischen Nacht und Tag – ein Thema, dem sich die Klassik gerne widmet. Die alles einnehmende Stimmung der Morgendämmerung und Albaneses Stücke wie „Migrants“, „And We Follow The Night“ und „The Blue Hour“ sind wie füreinander geschaffen und verschmelzen insbesondere beim Hören des Albums in den frühen Morgenstunden zu einer audiovisuellen Einheit. Wie so oft geht auch bei Albanese ab dem ersten Klang das Kopfkino an und bis zum unweigerlichen Ende der Platte nicht wieder aus. „Shadow Land, Pt. 1“ klingt wie der Soundtrack einer französischen Dramas, „And We Follow The Night“ nach einem Bach, der sich durch die Landschaft schlängelt. „Time Has Changed“ progressiert durch repetitive Pianolinien, die mal nebeneinander her-, dann wieder übereinander hinweglaufen und mit zunehmend in den Vordergrund drängenden, elektronischen Sounds durch den Klangraum schweben. Dann setzt der Bass ein, Albanese die zweite Hand auf die Klaviatur und was vorher noch ein zarter Springbrunnen war, verwandelt sich in eine sprudelnde Fontäne. Die Stücke auf „The Blue Hour“ fließen nahtlos ineinander und machen das Album so zu einer holistischen Klangreise, die eine alles einnehmende Erhabenheit ausstrahlt und vor allem deshalb so nachhaltig beeindruckt, weil sich mit jedem Hören neue Details und Dimensionen der Musik offenbaren.

Besonders der Einsatz von Elektronik in der Neoklassik ist markant, schien klassische Musik im eigentlichen Sinne doch lange immanent analog zu sein. Der stets offene Horizont scheint für die KomponistInnen besonders wichtig zu sein. So macht Arnalds mit Janus Rasmussen als Kiasmos ebenso elegischen, aber überwiegend elektronischen Ambient-Deep-House, oder kooperiert mit Labelkollegen für Cover von Popsongs wie „Say My Name“ von Destiny’s Child. Martin Kohlstedt wiederum überließ bereits die Stücke seines Debütalbums „Tag“ befreundeten Musikschaffenden und veröffentlichte die Ergebnisse auf einem Remixalbum. Auch sein zweites Werk „Nacht“ erblickte als „Nacht Reworks“ in Gänze neu interpretiert das Licht der Welt. FM Belfast zum Beispiel verpassten darauf „GOL“ nicht nur einen Songtext, sondern auch einen kontemplativ und fast melancholisch klingenden Grundtonus, der für die isländische Band mehr als ungewöhnlich ist, zu Kohlstedts Musik aber bestens passt. An anderer Stelle haken sich weitere illustre Gäste ein: Douglas Dare reinterpretiert das wunderschöne „EXA“, Christian Löffler nimmt sich „ELL“ vor und „GOL“ erhält in der Fassung von Hundreds abermals einen völlig neuen Charakter. Grenzen zwischen Genres verschwimmen, die kreative Energie ist in jedem Takt spürbar.

Nils Frahm und Ólafur Arnalds bündeln ihre Kreativität immer wieder für gemeinsame Projekte und Veröffentlichungen. Das neueste Doppelalbum der Musiker aus Reykjavik und Berlin heißt folgerichtig „Collaborative Works“ und birgt neben einer aus den Kleinveröffentlichungen „Loon“, „Life Story Love And Glory“ und „Stare“ bestehenden Werkschau neue Stücke in Form des Albums „Trance Frendz“. Sie entstanden wie schon die vorigen Werke in einer der vielen ertragreicheren Nachtschichten im Studio und sind jeweils mit der Uhrzeit ihrer Genese betitelt. „23:17“ lässt das Rauschen des Studios mit in den Klangkosmos und fokussiert sich auf langgezogene Klänge wie aus einem Harmonium, umspielt von immer wiederkehrenden, getupften Linien aus dem Klavier. Mehr Raum für die Elektronik bietet „23:52“, bei dem Frahm und Arnalds Synthieschicht über Synthieschicht legen, bis der Raum mit verzerrten Klänge ganz gefüllt ist und auch „00:26“ klammert analoge Pianomelodien vollständig aus. Am Ende der Album gewordenen Improvisations-Session nehmen die Studiogeräusche immer mehr Platz ein, „01:41“ beginnt leicht verzögert mit einem Glockenspiel-Motiv, das nach erneutem Umstecken und Anschalten der Synthesizer durch Effekte verstärkt wird.

An der Veröffentlichung von „Collaborative Works“ zeigt sich eine weitere Komponente des Genres besonders deutlich: der Connaisseurscharakter. Denn die limitierten Editionen, Sonder- und Wiederveröffentlichung passen bestens in eine Zeit, in der die Schallplatte eine allerseits unerwartete Renaissance erlebt und neben dem Inhalt insbesondere die hochwertige Form eine wichtige Rolle spielt. Existenz und Wertschätzung von Labels wie Erased Tapes Records oder Neue Klassik zeugen davon, dass liebevoll behandelte Nischenmusik durchaus Erfolg und eine Zukunft haben kann. In der Ambientmusik sind ähnliche Entwicklungen zu beobachten, die Standards für weitere Zweige setzen.

Vor allem aber verändern sich Hörgewohnheiten. Denn das Genießen dieser Musik übt – in Ruhe und Geduld, in Aufmerksamkeit, in Aufgeschlossenheit, in Detailverliebtheit. Oft geht es nur um Nuancen einer Tonart, minimale Klangveränderungen, fortwährende Repetitionen. Und um Stille und Weite. Der Klangraum ist in der Regel unüberschaubar und unüberhörbar im doppelten Wortsinn, denn die Ruhe wird selbst zum stilistischen Mittel, ist aber keinesfalls in ihrer Gänze zu erfassen. Daraus speist sich ein Klangerlebnis, das viel Raum für eigene Interpretationen und schweifende Gedanken lässt und mit jedem Hören eine neue Welt erschafft. Klingt pathetisch – und ist es auch. Vor allem ist die Neoklassik aber eine holistische Erfahrung, in die es gilt, einzutauchen und sich zu verlieren.

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