Der Liedschatten (125): Noch kruder als Schlager

Christian Anders: “Es fährt ein Zug nach Nirgendwo”, Juni – Juli 1972

Der Zug, er fährt bereits! Also rasch, ohne Umschweife eingestiegen:

„Sag nur ein Wort“? Gerne. Und zwar: dreist.

Fährt ein Zug, der nach nirgendwo fährt, nicht nirgendwo hin, also gar nicht? Oder sollte man sich lieber an den geschriebenen Titel halten, um zu wissen: „Ah, dieses ‚N‘, das ist doch groß, es ist ein Eigenname, ganz klar!“ Ja, das sollte man. Was aber sollte man noch wissen? Dass es den Zug noch gestern nicht gab, vermutlich deshalb, weil er auch nur einen Passagier transportieren soll, nämlich den Protagonisten, und der musste gestern vielleicht noch nicht fahren.

Da liegt wohl manches im Argen. Ein Eindruck, der nicht täuscht, schließlich war da „etwas mit einer anderen“, ein unbestimmtes „was auch immer“, aufgrund dessen sie, Maria, ihn, der gerne bleiben möchte, gehen lässt. Nicht zum Gehen auffordert, gehen macht, nein, gehen lässt, obwohl er doch so gerne bleiben würde. Er möchte bleiben, doch sie lässt ihn gehen, hält ihn also nicht auf.  Warum macht er dann nicht einfach das, was der fahrende Zug, aus welchen Gründen auch immer, nicht kann, warum bleibt er nicht stehen? Wir wissen es nicht, könnten aber vermuten: Es liegt nur an ihr! Denn sie lässt ihn gehen, obwohl er Reue zeigt und damit zwar mal etwas falsch gemacht hat, das jedoch immerhin komplett richtig. Erst die wahrscheinlich nicht allzu unangenehme Sache mit der Anderen, dann Reue als ausgleichende Regung. Ist das nicht allerhand? Ja, vor allem erst einmal eine Unterstellung meinerseits, da die Ereignisse im Text der ersten Strophe und des Refrains nicht ganz so detailliert geschildert werden. Doch irgendetwas muss man sich ja denken, alleingelassen mit dem Text erschließt sich leider kein Sinn.

Vielleicht hilft ja die zweite Strophe. Die Zeit verfliegt, auf die immerhin ist Verlass. Es besteht Hoffnung! Wenn sie nur nicht so stur wäre, die Maria! „Ich hab gedacht, Du glaubst an mich und dass ich Dich für immer hab“, wird da gesungen, und nun enttäuscht sie, Maria, seinen Glauben, seine Hoffnung, überhaupt ihn! Warum nur? „Macht es Dir wirklich gar nicht aus, dass unser Glück mit einem Mal zerbricht?“. Ja, macht es ihr denn gar nichts aus? Dabei fordert er von ihr, die er betrogen hat, nicht viel, sie soll ihn nur nicht gehen lassen, damit das Glück nicht an ihrem, anders kann man es nicht sagen, Starrsinn zerbricht. Wie bemerkenswert ist diese Fürsorge doch angesichts der ihm widerfahrenen Enttäuschung! Obwohl sein Glaube, er hätte sie („das mit der anderen“ hin oder her) für immer, Lügen gestraft wurde! Obwohl sie ihn wirklich gehen lässt! Wie kann man sich nur in einem Menschen täuschen! Mahnend hebt er seine Stimme: „Bald bist auch Du genau wie ich allein“, und siehe da, eine Träne! Was will sie nur sagen?

Der Wirrnis begegnen wir hier an zwei Stellen, in den Metaphern und dem Verhältnis zwischen den beiden Personen. Trotzdem weiß man, worum es geht: um Verzweiflung, Einsamkeit, Schuld, Reue, Liebe und Emotionen in einer Größe, die in keinem Menschen, sondern nur in Schlagern Platz finden.

Anders‘ erster Hit „Geh Nicht Vorbei“ (#1 in den Charts) funktionierte nach genau dem gleichen Prinzip und erzählte dieselbe Geschichte auf kaum weniger krude Art. Ein weiterer großer Hit war ihm aber nicht beschieden, noch bis Mitte der 1970er verlief Anders‘ Karriere solide, ab dem Ende des Jahrzehnts geriet sie allerdings auf eher seltsame, nicht immer musikalische Bahnen.

Anders nahm den Namen „Lanoo“ an. Als dieser verfasste er Bücher mit recht illustren Inhalten, die sich der Esoterik zuordnen lassen. Letztere ist zumindest dann, wenn man Verschwörungstheorien etwas abgewinnen kann, höchst unterhaltsam: Hohlwelt-Theorie, Nazis in der Arktis, Atlantis, Illuminaten und Echsen, die die Welt beherrschen, anders geht es in Comics auch nicht zu. Dennoch sind solche Weltbilder mit Vorsicht zu genießen, da sie nicht selten in Wahnvorstellungen wie Antisemitismus hineinspielen. Aber wer wird sie denn gleich schon ernst nehmen wollen? Hier dräuen keine Dämonen, hier herrschen Schindluder und Schabernack. Als solche entlarvt (wobei das ein recht starkes Wort ist, was etwa sollte bei einer Theorie wie der, außerirdische Echsen würden die Welt beherrschen, noch entlarvt werden müssen?) das Portal Psiram die wunderlichen Ansichten einiger Menschen.

Auch Christian Anders erhielt aufgrund seiner Aussagen, aber auch Bücher dort einen eigenen Eintrag. Mit seinen Werken muss man sich nicht weiter beschäftigen, sind sie doch nicht nur esoterisch, sondern, wie was wie bereits erwähnt auf viele Verschwörungstheorien zutrifft, auch antisemitisch. Das geht so weit, dass er sich in seinem reichlich widerlichen Lied „Der Hai“ auf die fiktiven „Protokolle Der Weisen Von Zion“ bezieht. Obwohl er sie nicht beim vollen Titel nennt, zeigen Zeilen wie „Ihr kennt sie nicht, ‚Die Protokolle‘ (…) Auf sieben Säulen ruht die Welt, sieben Familien haben das Geld / Ob Rothschild, Cohn oder Donati, man nennt uns auch Illuminati / Mit Aids verseuchen wir die Welt, und machen mit der ‚Heilung‘ Geld“, welches Feindbild hier nach „Stürmer“-Art bedient wird. Den Song werde ich deshalb nicht verlinken, wer ihn sucht, kann ihn zum Beispiel bei Youtube finden. Unterhaltsamer, wenn auch reichlich makaber ist da „Der Tag An Dem Die Erde Stillstand“ (sic), vor allem in Verbindung mit der offensichtlich zugedachten Slideshow.


Ohne Worte

Weniger witzig wird die Sache jedoch, wenn man bedenkt, dass laut Anders die „Illuminaten“ für die Anschläge auf das World Trade Center am 11. September 2001 ebenso wie für die Staatsverschuldung verantwortlich, also das „raffende“ Kapital sind, das zum Beispiel Impfungen, die laut ihm erst Krankheiten verbreiten, aus Gewinnsucht durchführen lässt und überhaupt für alles Schlechte auf der Welt verantwortlich ist. Es wäre sehr schön, wenn mit dem Hinweis, kein vernünftiger Mensch könne ernsthaft solchen Hirngespinsten Glauben schenken, all das abgetan werden könnte. Leider wird so etwas aber nicht nur geglaubt, sondern es wurde und wird danach gehandelt.

Wäre Anders doch lieber beim Film geblieben.

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