Der Liedschatten (117): Mama!

Pop Tops: „Mamy Blue“, November 1971 – Januar 1972

„Der Liedschatten“ pausierte in diesem Sommer wirklich oft genug. Wenn es so weitergegangen wäre, würden wir ja nie in der Gegenwart angelangen. Wobei es damit eh noch Jahre dauern wird, selbst, wenn wir uns heute bereits dem letzten Hit des Jahres 1971 widmen und es also trotz allem recht flott vorangeht.   

Das aber bezieht sich nur auf das chronologische Voranschreiten in unserer Reihe, mit der Musik hat es wenig zu tun, zumindest lässt sich so etwas wie ein „Fortschritt“ in den Charts eigentlich nicht feststellen. Variation und Adaption, das schon, aber nur selten mehr, es handelt sich bei fast jedem neuen Hit nur um eine Erweiterung der Produktpalette „Popsingle“. Gut, nun sollte Fortschritt an dieser Stelle gar nicht erst erwartet werden, naiv wünschen kann man ihn sich aber hin und wieder schon. Und ich wünsche ihn mir heute aus vor allem zwei Gründen: Erstens hörte ich in den letzten Wochen mit Freude die gelungene Compilation „Creative Outlaws – UK Underground 1965-1971“, erschienen bei Trikont. Begleitend las ich die an dieser Stelle sicherlich bereits einmal erwähnte „Illuminatus!“-Trilogie von R.A. Wilson und Robert Shea. Beides zusammen hat mich nicht unbedingt auf einen Trip geschickt, aber allein schon das Wort „Trip“ zeigt an, dass ich mich von der Romantik der Counterculture habe beeinflussen lassen. Diese brachte in Großbritannien unter anderem die seltsame Musik von The White Noise, Julie Driscoll, der Bonzo Dog Band, von Lol Coxhill und The Deviants hervor, die nach mehrmaligen Hören irgendetwas in mir ansprach und mich in eine Stimmung versetzt, in der ich das Wort „groovy“ fast ohne Ironie verwende.

Sicher ist das recht nett, aber auch ein Zeichen dafür, wie schnell etwas Gefälliges angenommen wird, weshalb man sich gut aussuchen sollte, womit man sich umgibt. Was wiederum so ein „Mindset-Setting“-Gedanke ist. Und nein, ich nahm kein LSD, nicht in den letzten Wochen, und ich werde es in den nächsten auch nicht tun. Ich habe mich nur in einem irrealen Akt retrofuturistischer Nostalgie (albern, wenn man in den 1980ern geboren wurde, nicht?) vom surrealen Optimismus und ausgeflippten Pathos der mittleren bis späten 1960er erfassen lassen, einem Bewusstsein, das sich in avantgardistischer und psychedelischer Kunst ausdrückte und sagt: „Hey, es geht mit der alten Zeit zu Ende, seid gespannt auf das Neue oder bleibt zurück.“ Oder liegt das nur am Sommer?

An den Chart-Hits des Jahres 1971 liegt es jedenfalls nicht, sind sie doch bei aller teils vorhandenen Güte meist bieder.


Schick und schicklich: Sie alle haben eine Mutter.

toppops_mamyJunge Menschen in modischer Kleidung singen ein einfach gehaltenes Lied über als mütterlich verstandene Liebe. Das ist kitschig, doch wollen wir uns nicht einzig auf diese Feststellung beschränken. Der offensichtlich nachdenkliche Grundton des einzigen Hits „Mamy Blue“ von Los Pop-Tops beziehungsweise Pop Tops aus Spanien passt gut in die frühen 1970er, in denen die chartrelevante Popmusik mit großen Gesten große Themen, in etwa den Glauben, nicht unbedingt behandelte, jedoch immerhin anschnitt. Wer würde aber auch die Klärung von als grundlegend verstandenen Fragen durch Popsongs erwarten wollen? Nur Teenager, sollte man meinen, und ob Teenager mit diesem Lied etwas anfangen konnten, könnte uns fraglich erscheinen.

Gegen ein Loblied auf eine Mutter ist nichts einzuwenden, dass es von Jugendlichen gesungen wird, dürfte zumindest seltener sein. Sagen wir einfach, sie würden in ihrer öffentlichen Zustimmung zu einem solchen ein paar Jahre pausieren, insgeheim aber nur zu gerne einstimmen wollen. Schließlich möchte jeder von seiner Mutter liebgehabt werden und sie selber liebhaben können, selbst dann, wenn die Umstände und menschliches Verhalten dem im Wege stehen. Von seinen Eltern ist man im Guten und Schlechten abhängig. Wird die Beziehung zu ihnen thematisiert, ruft das, und darin liegt keine große Erkenntnis, in jedem eine emotionale Reaktion hervor.

Bei „Mamy Blue“ verhält es sich nicht anders. Da spielt es auch keine Rolle, wie simpel die Umsetzung der Geschichte eines verlorenen Sohns, der heimkehrt und seine Mutter nicht mehr antrifft, auch sein mag. Ablehnung ist auch eine Reaktion, das Zurückweisen dieser Idylle in Trauertönen wäre es ebenfalls, sogar, wenn man keinesfalls die Single kaufen würde. Wenn Menschen das taten, lag es vielleicht am mantra- und gospelartigen Anrufen der „Mamy Blue“ durch einen recht dichten, arg wattig wirkenden Chor, der dieses Wort auf eine je nach Geschmack aufdringliche oder catchy Art singt. Dass der Leadsänger dazu ein wenig übertreibt, wäre nicht weiter schlimm, wenn er die entsprechende Stimme gehabt hätte, so ist es nicht mehr als ein Triumph von Form über Inhalt, eher die Vorstellung eines Gefühls als sein Ausdruck. Soul klingt anders, in etwa so:


Einfache, aber zeitlose Fragen, auf zeitlose Art gestellt.

Dem direkten Vergleich mit Marvin Gaye hält allerdings kaum jemand stand und so ist das relative Scheitern von Pop Tops nichts, was besonders betont werden müsste. Ihre weitere Karriere verlief wie bereits erwähnt recht erfolglos, da gibt es nichts weiter zu berichten. Und wer würde schon recherchieren wollen, wenn er stattdessen Marvin Gaye oder John Lennon hören könnte, der die eindeutig besseren Lieder über eine Mutter schrieb?


Singen mit Kaugummi: Der Mann lebte gefährlich!

Noch ein kleiner Hinweis in eigener Sache: Am 24. 08. 2013 spiele ich das erste Konzert mit meiner neuen Band namens TWISK in der Hamburger Astrastube.

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