Der Liedschatten (92): Wirrwarr um Babylon

Desmond Dekker and The Aces: “Israelites”, Juni – Juli 1969
Menschen mit Kindern im schulpflichtigen Alter, bitte beantwortet mir eine Frage, und wenn nicht, dann bleibt sie halt rhetorisch: Wen verehren jungen Menschen gegenwärtig, wenn sie die Angebote des „Mainstream“ partout ablehnen wollen? Und sind sie ebenso neophobe, unkritische Stoffel wie der Autor seinerzeit?
Nun, das stimmt natürlich nicht ganz, ein Stoffel, das wäre dann doch zu hart, aber ziemlich beschränkt bin ich schon gewesen. Das ist, findet ein nach wie vor relativ junger Mensch, das Vorrecht der Jugend, und letztendlich war’s ja nur lieb gemeint und hat sich geändert. Ah, lieb gemeint natürlich in einem „alternativen“ Sinne, lieb für die Welt, gut für die Welt, Love und Peace und bitte trotzdem gleich Revolution machen.
Ich befreundete mich mit Menschen in wenig hübschen Che Guevara-Shirts und fand ihn selbst ziemlich gut. Dass der Kult um eine Person nicht unbedingt von autonomen Denken zeugt, zumindest dann nicht, wenn man autonom nicht als Sammelbegriff für alles vom wurfwilligen Besucher des Schanzenfests über den beinahe schon folkloristischen „schwarzen Block“ auf Demos und sehr Unschönes wie die „autonomen Nationalisten“ versteht, gab ihnen nicht zu denken.
Ebenso unreflektiert war ihre Begeisterung für Furchtbares wie irischen Folkpunk oder gar „Mittelalterrock“, beides an sich Rollenspiele, aber eben auch furchtbar tumbe, nur scheinbar authentische Genres einer konstruierten Ursprünglichkeit. Da geht’s um das vermeintlich einfache Leben, eine ideale, entweder homogene oder gar ständische Gemeinschaft. Alberne Zivilisationskritik, seltsame Frisuren, einfache Akkorde und urige Instrumente gegen eine viel zu komplizierte Welt.
Ähnliches schien ihnen und auch mir, wir waren ja Freunde, Reggae zu bedeuten. Hieß es nicht in Marleys „Redemption Song“ „these songs of freedom“? Mehr wollte und brauchte man ja nicht zu verstehen, die Musik war entspannt, die Botschaft scheinbar überdeutlich. Sicher, „I And I“ hatte etwas mit Rastafaris zu tun, die wir wie folgt zu kennen glaubten: sie kiffen, tragen für damals recht viele Menschen ärgerliche Frisuren und sind voll entspannt. Einige waren etwas besser informiert und erzählten in etwa, dass die Rastas sich als Nachkommen des Volkes Israels im Exil begreifen und in Haile Selassie die Wiederkunft Christi sehen, alle anderen fanden nur, dass sich „Zion“ auf „Lion“ eben hervorragend reimt, nur klug waren wir allesamt nicht. Für’s Kiffen und dabei Träumerln hat es allemal gereicht.
Nun lässt sich Musik und jede andere Kunst auch dann mit Gewinn konsumieren, wenn man ihre Inhalte nicht nachvollziehen kann. Man muss weder ein Katholik sein, um sich für gotische Plastiken zu begeistern, noch Hindu, um Raga zu mögen.
Etwas anderes ist es aber, einem Klischee anzuhängen und es durch Ignoranz zu erhalten, und genau das taten wir. Im Reggae ist nämlich nicht alles easy, da geht es um das harte, eben tough Leben im Ghetto, das Verbrechen der Verschleppungen und Sklaverei, um Ausbeutung und religiöse Sehnsüchte nach Erlösung.
Natürlich braucht man nicht gleich betroffen, bedröppelt oder grimmig in die Welt zu blicken, wenn es wie in unserem heutigen Hit, „Israelites“ von Desmond Decker, um soziales Elend geht. Stattdessen ist respektvolles wie kritisches Interesse angebracht, zu dem wir nicht in der Lage waren.
Ob man den Kehrreim in der BRD wohl mitgesungen hat?
„Israelites“ war noch vor Bob Marley der erste große Hit aus Jamaika und dürfte die BRD über England erreicht haben. Dort hatte Ska aufgrund der zahlreichen aus dem karibischen Raum zugezogenen Menschen und vor allem der Begeisterung der Mods für ihre Musik Verbreitung gefunden.
Dekkers Hit selbst ist langsamer als der eigentliche Ska und ähnelt damit dem Rocksteady, einer Zwischenform zum Reggae. Alle drei Stile betonen den Offbeat und basieren auf Rhythm’n’Blues, Jazz, karibischer – in etwa Calypso oder Mento – und afrikanischer Musik, wobei das natürlich sehr, sehr allgemein gesprochen ist, jedoch als Notbehelf durchgehen muss, denn gut kenne ich mich mit Reggae nicht aus.
Er entstand jedenfalls gegen Ende der 1960er und ist damit keine urwüchsige Form von Musik, sondern besitzt, man denke nur einmal an die späteren Platten Marleys, ein geradezu internationales Flair. Dabei blieben grundsätzliche Merkmale erhalten, stets wird der Offbeat betont, die Gitarre mit „Skanks“ – abgedämpften Schlägen – gespielt. Der Bass ist sehr dominant und seine tiefen Frequenzen sind zusätzlich hervorgehoben, um mit dem Schlagzeug „riddim“, das Grundgerüst des Songs zu bilden.
Sämtliche genannten Genres entstanden in Jamaika, wo die Bevölkerung größtenteils aus den Nachkommen der von Afrika dorthin verschleppten Menschen besteht. Sie waren keine Israeliten und sind es auch nicht geworden, sondern hängen aufgrund von gut 300 Jahren britischer Kolonialherrschaft größtenteils dem protestantischen Glauben an und kennen deshalb die von beiden Religionen geteilten Mythen und Erzählungen, so auch die vom Volk Israel in Babylon. Dorthin wurde es verschleppt und musste Fronarbeit leisten, war fernab des zerstörten Tempels und von allerlei als Götzendienst angesehenen Religionen umgeben. Dekker bezeichnet sich in seinem Song als Teil der Israeliten, weil der Protagonist und sicher auch seine Vorfahren Ähnliches erlebt haben. Sie wurden verschleppt und er muss nun für das bloße Brot wie ein Sklave arbeiten und wird dennoch von Frau und Kindern verlassen. Angesichts dessen befürchtet er, wie „Bonnie and Clyde“ zu enden, erst kriminell und dann tot.
Gleichzeitig lässt sich die Benennung „Israelites“ aber auch im Sinne der Rastafaris, die weiter oben bereits erwähnt wurden, wortwörtlich nehmen. Sie betrachten sich als Nachkommen König Salomons und damit Teil des Volkes Israel, wobei ihr gelobtes Land nicht Israel, sondern Äthopien oder gar eine Art spiritueller Ort ist, allerdings ist ihr Messias bereits erschienen. Ihr Babylon ist die gesamte sogenannte westliche Welt, zu deren Sünden jedoch auch, und da wird’s alles andere als peacig, diverse Spielarten der Liebe zwischen Menschen zählen, die sich mit Homophobie nicht vereinbaren lassen.
Es geht hier um entzogene Freiheit und religiöse Themen, Armut und Verbrechen, aber kein bisschen Sonnenschein. Hätte mir das jemand ein paar Jahre vorher gesagt, ich besäße einen Grund zur Scham weniger und vermutlich ein paar Platten mehr, und sei es aus generellem Interesse an Popmusik. Denn nachdem ich merkte, wie wenig Reggae mit dem Klischee zu tun hat, wollte ich ihn nicht mehr hören, eine sinnlose und wenig souverän Fluchtreaktion, ganz nach der Art: Wenn ich die Sache schon vollkommen falsch eingeschätzt habe, leugne ich die nähere Bekanntschaft, also die Musik an sich, habe nie etwas falsch gemacht und erhebe mich damit gleich noch über andere, die es nicht besser wissen. Nach dieser wirren Logik hätte ich auch mit dem Hören von Rockmusik aufhören, als mir deutlich wurde, wie sexistisch und reaktionär sie zuweilen ist. Warum dort nicht und bei einem anderen Genre schon? Das gibt mir zum Glück zu denken.
Mir war gar nicht bewusst, dass Israelites so alt ist und in Deutschland so erfolgreich war. Schön, hab den Titel immer schon gemocht. Ich für meinen Teil habe Reggae und die verwandten Stile nur sehr dosiert und frei von jedweden Kiffereien wahrgenommen, vielleicht bin ich deshalb – obwohl kein ausgesprochener Fan jamaikanischer Klänger – ziemlich unvoreingenommen. Ich hatte zu Schulzeiten eigentlich nur einen ein wenig durchgeknallten, Gras beschnüffelnden Schulkollegen, der die biedere Klasse meines Gymnasiums ein bisschen aufmischte. Dieser jedoch war dem Jazz verfallen und vielleicht habe ich deshalb gegenüber Jazz immer das Gefühl ihn lange falsch – oder vielleicht sogar völlig richtig – eingeschätzt zu haben. Doch zurück zu diesem Titel. Ich glaube, dass die Ausnahmestellung des Genres Pop uns bis heute davon abhält, Musik mit Botschaften in den Charts zu akzeptieren. Natürlich hat Rock diesbezüglich einiges bewegt, aber im Grunde tun wir uns doch immer noch schwer einem Mainstream-Hit Tiefgang zuzuordnen. Und deshalb wird man auch bei Israelites damals wie heute nicht das hören, was du treffend beschrieben hast.
[…] und sich von anderen Bands abzugrenzen, indem eben nicht nur von Liebe gesungen wurde. „The Israelites“ thematisiert das an Sklaven erinnernde Dasein der Nachkommen ebensolcher, „The Ballad Of John […]