Der Liedschatten (89): Heintje? Welcher Heintje?

Heintje: “Ich sing ein Lied für Dich”, Mai 1969
Ich schmolle. Denn gewissermaßen wurde ich überrumpelt, hatte es einfach nicht auf dem Schirm, verdrängt, wollte nichts davon wissen, dass Heintje noch eine #1 hatte. Damit wären es dann insgesamt vier. Erst „Mama“, dann „Du Sollst Nicht Weinen“, schließlich „Heidschi Bumbeidschi“ und nun „Ich Sing Ein Lied Für Dich“, enthalten im sogenannten „Musikfilm“ „Ein Herz geht auf Reisen“, den es seltsamerweise vollständig bei Youtube gibt.
Nach ungefähr 16 Sekunden füttert ein Junge Tauben. Dazu spielen Streicher. Betrachtet das ruhig als vollständige Exposition.
Was geschieht in diesem Film? Eine sentimentale Geschichte um ein singendes Waisenkind wird fein und hübsch durchgespielt. „Fein“ und „hübsch“, ein wenig tut es mir um beide Wörter, die ich ansonsten gerne mag, leid. „Fein“, weil es mich immer an „fein“ in Verbindung wie Verben wie „gearbeitet“, „gewirkt“, „ziseliert“ oder auch „durchdacht“, an Blässe und Vergeistigung oder auch etwas delikat Reizendes erinnert, man denke nur an feine Stoffe, die … naja, bleiben wir züchtig.
Und etwas als „hübsch“ zu bezeichnen muss nicht in der Absicht geschehen, das Benannte abzuwerten. Nein, „hübsch“, das beinhaltet eine leicht flüchtige Schalkhaftigkeit, etwas dezentes Kokettes, eine eher verspielte, sich vielleicht entwindende, aber nicht in Erhabenheit entfernte Schönheit. Finde ich eine Person hübsch, ist das ein Grund zur Freude, immerhin musste ich sie dazu erst betrachten können. Und hübsche Menschen betrachten, das mag ich.
Nun, hat „Ein Herz Geht Auf Reisen“ denn etwa keine solchen zu bieten? Warum stört es mich hier und bereitet mir woanders Freude? Dadurch gelangen wir zu einer für die Ablehnung von Schlageridyllen zentralen Frage: Was ist daran schlimm, wenn Menschen so etwas mögen?
Das produzierte Idyll produziert das Idyll.
Ist es wirklich schlimm, wenn jemand Schlager liebt? Keinesfalls, soll doch jeder nach seiner Art glücklich werden. Der Schlager unterbreitet mir sein Angebot, mich von ihm unterhalten zu lassen, nur etwas zu aggressiv.
Generell behagt mir die Vorstellung nicht, während eines Großteils der wach verbrachten Zeit meine Arbeitskraft zu verkaufen und über die verbleibenden Stunden nicht frei zu bestimmen, sondern sie wie selbstverständlich mit dem Konsum von aktuellen Produkten der Unterhaltungsindustrie zu verbringen.* Es fehlt mir die grundsätzliche Bereitschaft, „mal zu schauen, was gerade kommt“, mir ist das Fernsehen zuwider. Auch kann ich mir kaum etwas Reizloseres vorstellen, als ein Kino einfach so zu besuchen und es mit den Worten „Das mögen die Leute nun einmal, nicht ganz meins, aber ich find’s ganz okay, halt gut gemachte Unterhaltung“ zu verlassen. Solch ein Satz ist überflüssig, weil nichtssagend, er kann sich ebenso auf den obigen Film Heintjes wie einen Teil der Reihe „James Bond“ beziehen. Grob gesagt behauptet er, es sei alles in Ordnung, solange nur die Hoffnung auf Unterhaltung nicht enttäuscht wird.
Bestenfalls werden Kunden dort abgeholt, wo sie sich bereits zu befinden glauben. Wo aber befinden sich Millionen potentieller Abnehmer von Filmen, Shows, Musik und Büchern, was sollen das für gemeinsame Orte, also Gemeinsamkeiten sein? Der Gedanke, diese lägen im Zeitgeist begründet, spricht den Menschen ihre Individualität ab. Ganz so einfach kann es nicht sein, der Mensch ist mehr als Mode. Geht es also um grundsätzlichere, uns allen bekannte Probleme, Wünsche und Sehnsüchte? Nein, denn würde in bestimmten Produkten wie Schlagern Grundsätzliches („DIE“ Liebe in etwa) angesprochen, wäre ein rascher Wechsel der Themen und ihrer Handhabung wie in den letzten Jahrzehnten schwerlich möglich. Schlager und seine Nachfolger in Sachen Popularität bilden also weder den Zeitgeist noch Grundsätzliches ab, sondern, und das sei meine heutige, launige, aus der Flucht vor Heintje geborene These, helfen, sie zu erschaffen.
Das vermögen sie allein schon deshalb, weil ihre bloße Existenz suggeriert, der Mensch wolle sich am liebsten unterhalten lassen. Da gibt es seit relativ kurzer Zeit die Situation, dass sich ein Großteil der Einwohner einiger Länder nicht komplett der Arbeit widmen muss, weil sie über Freizeit verfügen, in der sie tun können, was sie am liebsten wollen. Sie verbringen also Zeit mit der Familie, gehen einkaufen und lassen sich unterhalten, schauen Filme, hören Musik, lesen Bücher. Warum sollten sie sich mit all dem befassen, wenn sie den Inhalt nicht mögen?
Sie sollen ja aber auch gemocht werden. Wer ein Buch liest oder Lied hört, hat dies meist nicht selbst verfasst, es wurde für ihn verfasst. Dabei galt es, einen Geschmack zu treffen. Verkauft sich ein Werk, scheint der Autor mit der Wahl der Themen und Stilmittel richtig gelegen zu haben, an ihnen muss also etwas dran sein. Diese Feststellung wiederum hilft dabei, neue Bücher und Lieder mit dem gleichen oder einem variierten Thema abzusetzen. So und so viele mochten es, als muss da auch etwas dran sein.
Der Konsument erwirbt also, was ihn in seiner Freizeit nicht stört, sondern unterhält, gruselt, zum Lachen bringt, anrührt. Einen Großteil der Zeit verbringt er in der Regel nichtsdestotrotz noch auf Arbeit, wo er selbstverständlich nicht nur Arbeitsabläufe koordiniert und ausführt, sondern plaudert, eben über seine Freizeit. Nun stelle man sich nur einmal vor, er könnte an solchen Gesprächen nicht teilnehmen, bei denen häufig Urteile über sowie Hinweise und Anregungen über Filme, Lektüre und Musik ausgetauscht werden. Der Verlust dieser Möglichkeit würde sich auf jeden Fall bemerkbar machen, denn durch diese Themen hat man etwas gemeinsam, teilt es und sich mit, schaut zu diesem Zweck womöglich Castingshows, die, da sind sich alle sicher, zwar wenig anspruchsvoll sind, aber man kann halt darüber, und sei es schlecht, reden. Das schafft die Grundlage für den Austausch über geteilte Erlebnisse und dadurch mit erfahrbarer Berechtigung das Gefühl, dass an dem, was man schaut, doch noch etwas dran ist. Immerhin beschäftigt man sich ja damit. Es wird relevant.
Die Behauptung „Was keine Beachtung findet, ist auch nicht wichtig“ stimmt innerhalb dieses Rahmens durchaus. Was aber findet keine Erwähnung? Themen, die nicht beiläufig zu unterhalten vermögen, zu persönlich, unverständlich, provokant, widersprüchlich, unschön, gefährlich, irritierend, beleidigend, erregend, warnend, existenziell, subversiv, anklagend, bedrohlich, irrwitzig sind, ohne sich auf kurze Schlagworte und Szenarien verkürzen oder überspitzen zu lassen.
Nur weil sie nicht zur Sprache kommen, sind diese Dinge für eine Gesellschaft noch lange nicht unwichtig. Der Schlager aber unterstellt genau das, indem er sie in Bevorzugung des Gefälligen meidet und durch das Besingen des vermeintlich Schlichten, Wahren und Schönen einen Konsens des Alltags schafft. Er tut normal.
Deshalb mag ich ihn nicht, er tut sooo normal, das ist es. Ich lehne nicht einfach sein Idyll ab, ich lehne es ab, in ihm ein Idyll zu sehen.
Und jetzt war’s das mit Heintje.
Bild: Mark Sebastian
*Die Einschränkung „aktuell“ wurde eingebaut, weil ich mich ja sehr wohl häufig mit den Produkten der Unterhaltungsindustrie beschäftige, siehe diese Serie oder auch mein etwas neueres Blog über Bücher, „Felgerson Blau liest„.
[…] Woche selbstverständlich nicht in Ordnung, keinesfalls. Deshalb (und um Heintje auszuweichen) schrieb ich einen kleinen Text über Schlager und freute mich auf den nächsten Hit, einen Song der […]