Lee Ranaldo

Im 30. Bestehungsjahr von Sonic Youth steht nach der Trennung von Kim Gordon und Thurston Moore auf einmal die Frage im Raum, ob es auch das letzte sein könnte. Wie auch immer die Zukunft der Band aussieht, nach Moores letztjährigem „Demolished Thoughts“ stellt nun spätestens das erste Soloalbum von Mitgitarrist Lee Ranaldo klar, dass ihre kreativen Kräfte weiterhin Ausdrucksformen finden werden.

Wobei der Bezeichner „Soloalbum“ ein paar Parameter entbehrt, schließlich kann Ranaldo durchaus auf eine stattliche Diskographie zurückblicken. Doch zwischen seiner Poesie, Instrumental-Improvisationen, Soundcollagen und Kollaborationen klaffte immer eine schmerzliche Lücke: Songs. Songs wie „Hey Joni“, „Eric’s Trip“ oder „Skip Tracer“, mit denen Ranaldo schon bei Sonic Youth nur allzu selten sein herausragendes Talent unter Beweis stellte. Auf „Between The Times And The Tides“ füllte er erstmalig ein ganzes Album mit neuen Eigenkompositionen im Songformat.

Die sich am Anfang ausgerechnet wie ein typisches Sonic-Youth-Spätwerk anhören. Sicher vor allem deswegen, weil mit Steve Shelley und John Agnello Schlagzeuger und Produzent ihrer letzten Studioalben das Geschehen in vertraute Bahnen lenken. Doch klingt im Folgenden deutlicher heraus, wie sich Ranaldo hier seine eigene Gruppenchemie zusammengestellt hat, wenn John Medeski irgendwo hinter Ranaldos Co-Gitarristen Alan Licht und Nels Cline schmalflächig orgelt und sogar mal eine Handtrommel verhalten durchschallt. Im Raum der jangelnden, dronigen, gepickten und berutschten Saiten dominiert Akustisches über Elektrisches, wirkt sogar mal wie voluminösere R.E.M., wenn Ranaldos Stimme ins Stipe-ig Nasale wandert.

Jene Stimme ist es auch, die den Ton angibt. Warm, eingängig, nahbar ergänzt sie die sichere Hand, mit der Stücke wie „Off The Wall“ das Album erstaunlich reibungsarm eröffnen, bis sich die Atmosphäre in „Xtina As I Knew Her“ wundervoll zuzieht, die in Ranaldos Texten umrissene Unsicherheit einer Gegenwart im politischen Wanken noch intensivierend. Ab der Mitte läuft das Album zur Hochform auf: Das mehrteilige „Fire Island (Phases)“ ist eine regelrechte Mini-Suite, „Shouts“ umrahmt einen Radiobericht vom Chaos der letztjährigen Vancouver-Unruhen mit der kontrastierenden Warmherzigkeit des dort fotografierten Paares.

„Stranded“ betört mit Simplizität, wenn Ranaldo über emotionale Slides gleichermaßen sehnsüchtig „I long for your lips“ singt. Wie oft sind einige Textzeilen hier banal zu einem Grad, den nicht alle charmant finden dürften, doch der Gesang schmiegt sie in Aussprache und Intonation einfach so nah an die Musik an, dass beide einander wie selbstverständlich komplementieren. „Between The Times And The Tides“ mag nicht die höchsten Erwartungen erfüllen, die an ein Ranaldo-Soloalbum hätten gestellt werden können, aber es ist ja auch keine Schande, wenn man den letzten Kilometer des Mount Everest nicht bestiegen kriegt. Das lange Warten war nicht umsonst.

75

Label: Matador

Referenzen: R.E.M., The Byrds, Neil Young, Sonic Youth, Glenn Branca

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VÖ: 16.03.2012

10 Kommentare zu “Lee Ranaldo – Between The Times And The Tides”

  1. Oh man, ich bin noch nicht alt genug. Warum find ich das einfach furchtbar langweilig?

  2. Pascal Weiß sagt:

    Weil es nicht dubstept?;)

  3. Zu subtil vielleicht? Bin ja selbst überrascht, normalerweise ist sowas auch nicht ganz meine Kragenweite. Aber irgendwo zwischen der Gegenwartsstimmung, dem eingängigen Songwriting und den verschiedenen Gitarrentexturen und -interaktionen wirkt das sehr mitreißend.

  4. Bummer, Pascal! Weiß auch nicht. Hab das Album hier seit Wochen auf meinem Schreibtisch und es lockt mich gar nicht. An dieser Stelle noch ein weiteres Bekenntnis: Sonic Youth fand ich auch immer höllisch überbewertet (zumindest die letzten Alben); das Thurston-Moore-Soloding auch. Mürbe Musik.

  5. Lennart sagt:

    Mhm. Vielleicht wirkt es bei alten Menschen einfach nicht so cool, wenn sie retrospektiv daherkommen.

  6. Ich bin zwar selten mit Markus einer Meinung, aber das hier reißt mich, wie ein Großteil der letzten SY-Alben, auch nicht gerade vom Hocker. Die „Demolised Thoughts“ vom Thurston fand ich aber stellenweise ganz wunderbar.

  7. @Lennart: Wie meinst du das ‚retrospektiv‘? Gerade textlich erscheint mir das eins der gegenwartsgewandtesten Alben, die so in letzter Zeit rausgekommen sind. Zumindest von dem her, was ich ausmachen konnte, hab kein Booklet vorliegen da meine LP noch nicht angekommen ist.

  8. Lennart sagt:

    @Uli: Ich meinte damit nur die Musik und hätte noch ergänzen können, dass eine ähnliche Spielart bei jungen Menschen recht cool wirken täte, was sie ja auch ist. Bei einem älteren Menschen wirkt sie aber altbacken, obwohl sie nicht eniger cool ist. Ist aber auch keine fundierte These, war nur so ein halb polemischer Gedanke, schlicht und nicht sonderlich durchdacht.

  9. Könnte aber was dran sein.

  10. HV sagt:

    de lee ranaldo isch gut weil mei pitchie die sonic youth auch magsch 8)
    bnm :O

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