Der Liedschatten (62): Zwei Seiten Zweideutigkeiten

The Rolling Stones: “Let’s Spend The Night Together”, März 1967

„Let’s Spend The Night Together“ von den Rolling Stones wird sehr gerne herangezogen, um den vermeintlichen Gegensatz zwischen ihnen und Beatles totschlägerisch auf den Punkt zu bringen. Was aber wird dabei schmissig niedergestreckt? Jegliche Sachlichkeit. Diese nämlich darf dem direkten Vergleich zweier Lieder, zwischen denen immerhin drei Jahre liegen, nicht im Wege stehen, damit auch heute noch Menschen sagen können „Die Beatles wollten nur Händchen halten („I Want To Hold Your Hand”, 1964), die Stones aber, ähem, ja Beischlaf, also ficken („Let’s Spend The Night Together”, 1967).“

Lieder, zwischen denen drei Jahren liegen, lassen sich aber leider nicht einfach so einander gegenüberstellen. Erst recht nicht, wenn es sich um den Zeitraum 1964 bis 1967 handelt, in dem sich, die aufmerksamen Leser werden es bemerkt haben, vage ausgedrückt „eine Menge tat“.

Halten wir also einmal fest: Der Satz bezüglich Händchen und Geschlechtsverkehr ist nicht Ausdruck irgendeiner Erkenntnis oder Ergebnis aufmerksamen Beobachtens, sondern eine Binsen-… ja nicht einmal Weisheit, aber binsig immerhin. Als griffige Plattitüde ist er zentral für den Schulhofmythos der Rivalität „Stones vs. Beatles“. Denn klar, beide Bands unterscheiden sich stark voneinander, das aber nicht unbedingt in ihrer Haltung zur Sexualität.

Die Beatles waren maßgeblich an der Entfaltung dessen beteiligt, was Pop nicht nur musikalisch, sondern auch lyrisch sein kann, sie gaben ihm das Selbsbewußtsein einer Kunstform. Etwas anders liegt die Sache bei den Stones, denn sie prägten den Rock, eine Musik, mit der sich, und das sei ohne Wertung gesagt, zwar Stadien beschallen lassen, die aber letztendlich „nur“ ein Genre des Pop ist.

Einem zeitgenössischen Fan einer oder beider Bands brauchten solche Gedanken selbstverständlich nicht kommen, und wenn es in jungen Jahren um Abgrenzung geht, ist sowieso oft jeder Humbug recht. Selbst dann, wenn die Stones ihren ersten Beinahe-Top10-Hit (#12 in Großbritannien) mit „I Wanna Be Your Man“, einer Lennon/McCartney-Komposition, hatten und die vermeintlichen Rivalen hin und wieder freundschaftlich miteinander feierten, fanden Labels und Presse in den jugendlichen Hörern dankbare Abnehmer identitätsstiftender Geschichten. Dazu noch gilt: „The best of anything will always be compared.“

Aber nicht hier und nicht jetzt. Jetzt befassen wir uns nämlich erst einmal mit dem sehr guten „Let’s Spend The Night Together“.

„I’m off my head and my mouth’s getting dry / I’m high but I try try try oh my / Let’s spend the night together / now I need you more than ever / let’s spend the night together now / (…) I’ll satisfy your every need (your every need) / and now I know you will satisfy me“. Wer Sex sucht, kann ihn darin finden, gleich neben den Drogen. Und das nicht nur, weil dort explizit „high“ steht, nein, auch der trockene Mund deutet auf den Konsum von zum Beispiel Cannabis oder auch Amphetaminen hin.

Gerade letztere würde ausgezeichnet zum im Offbeat polternden Schlagzeug passen. Dazu drängt der von Keith Richards eingespielte Bass, er schiebt sich wie ein Fließband unter das Klavier, bis nach einem kurzen Break alles durch eine flirrende Orgel verwoben wird. Auch die Stones hatten also ihre Instrumentierung erweitert, und es sollte ihr Schaden nicht sein.

http://www.youtube.com/watch?v=OqQ9FCVmPaI

Der mit Hut ist der Coolste: die Rolling Stones beim Betreiben amoralischen Treibens

stones_nightAuch wenn insbesondere amerikanische Medien seinerzeit anderer Meinung waren: In diesem Song steckt viel mehr als das dringliche Bedürfnis nach Sex. Die Aufforderung „Let’s Spend The Night Together“ könnte auch andere Gründen als Geilheit haben; hippelige Verliebtheit, durch Stimulative verursachte Aufgedrehtheit, am Ende gar die Hilfsbedürftigkeit eines Menschen, der nur ein wenig Beistand beim Durchleben seines Rausches braucht. Oder aber eines Ängstlichen, der weiß: Bleibt dieser Mensch nicht bei mir, kommt so schnell niemand wieder, also bitte, bitte bleib! Alleinsein kann, ihr werdet es wissen, nämlich hin und wieder sehr unangenehm sein. Scheint es dann nach einer als lang empfundenen Phase der Einsamkeit so, als würde sich etwas Gutes anbahnen, ist es nur richtig, sein Gegenüber bei sich behalten zu wollen und ein wenig „Babadada, baba badada“ zu trällern. Verliebte Menschen tun so etwas hin und wieder.

Jedoch lagen solche Deutungen sämtlichen selbsternannten moralischen Instanzen fern, sie wollten lieber schelmisch sein und Arges denken, aber nicht liebevoll und verschmitzt, sondern biestig wie die grämlichen Stoffel, die sie am Ende gar auch noch waren.

Sei’s drum, die Stones selbst profitierten davon auf unerwartete Weise. Zwar wollten oder durften die Discjockeys in Großbritannien und den Staaten das Lied nicht auflegen, die Stones aber wurden dennoch gespielt, in diesem Fall einfach mit der B-Seite der Single namens „Ruby Tuesday“, die so zur vierten Nr. 1 der Gruppe in den USA wurde.

http://www.youtube.com/watch?v=OsvijRwJA9E

„Yesterday don’t matter“? Bei den Stones schon.

So weit wie möglich wörtlich genommen ist „Ruby Tuesday“ lustigerweise und bei entsprechender Moral nicht weniger unsittlich als die A-Seite. „Goodbye, Ruby Tuesday / Who could hang a name on you? (…) Don’t question why she needs to be so free / She’ll tell you it’s the only way to be / She just can’t be chained“, so etwas ließe sich über eine ehrbare, auf einen Mann mit ernsthaften Absichten wartende Frau nicht sagen. Eine solche wäre zum Beispiel das Groupie, von dem der Song handeln könnte, keinesfalls.

Interessant wird der Song aber nicht dadurch, dass er Gedanken anregt, deren Gegenstand anzügliche Klischees sind, sondern seine Musik, die hier stärker noch als bei „Let’s Spend The Night Together“ das Ende der einfachen Tanz- und Traumbeschallung deutlich macht. Ob die Stones sich dabei einfach nur an den Beatles orientieren oder Jones‘ und Richards‘ Fähigkeiten neue Höhen erreichten, sei dahingestellt, die Ambitionen sind hörbar und ernst zu nehmen. Betrachten wir nun noch einmal die bei der bisherigen Interpretation ausser Acht gelassenen Textstellen, bekommt der Song passend dazu den hippiehaften Einschlag, der 1967 für die meisten großen Bands obligatorisch werden sollte. „There’s no time to lose, I heard her say / Catch your dreams before they slip away / Dying all the time / Lose your dreams / And you will lose your mind.“

2 Kommentare zu “Der Liedschatten (62): Zwei Seiten Zweideutigkeiten”

  1. […] die Stones, und direkt danach die Beatles, das kommt wie bestellt. Dazu noch eignet sich die Single „Penny […]

  2. […] Eltern alles andere als einen lauteren Lebenswandel in deren Sinne unmöglich macht, was angesichts Stones, Beatles, Hippies und Studentenbewegung die Sehnsucht nach adretten Sprößlingen gestillt haben […]

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