AUFTOUREN: 2010 - Geheime Beute (Teil 2)
 

"Schöne Liste. Doch was ist mit X? Und Y? Und Z müsst ihr doch wohl auch gehört haben." Klar, allen können wir es nie recht machen mit unseren Jahrescharts, dafür gibt es einfach zu viele gute Alben über die wir uns einig werden müssen. Besonders jene Werke, die zwar zweifellos herausragend, aber zu unbekannt sind haben es bei solchen Abstimmungen naturgemäß schwer. Doch damit auch Tropical-Gefrickel, Noise, schwedischer Electro-Pop und neuseeländische Garage-Schrammelei ihre verdiente Erwähnung finden, bieten wir euch nach Teil 1 nun die zweite Hälfte unserer geheimen Beute.


ORIOL – Night And Day [Planet Mu]

Spanien ist das Lieblingsreiseziel der Deutschen, aber nur der ausgewachsene Kater nach zu viel Sangria kann ansatzweise erklären, warum vor vielen Jahren die „Café Del Mar“-Compilationserie solch enormen Erfolg hatte. Weiterfeiern ging eben am besten zu unauffälliger, leichtgängiger Housemusik mit tiefenentspanntem Retroflair. Heutzutage findet man solche Auswüchse nur noch zusammen mit Hairspray-Metal und esoterischen Delfingesängen in der Kiste mit den "Verbotenen Sounds des Monats".  Dass der spanische Engländer Oriol dort dennoch beherzt zugreift, spricht für seinen Mut – oder seine Weitsicht. Das Ergebnis geriet jedenfalls überraschend stilecht und vielseitig, was vor allem der behutsamen Aktualisierung  geschuldet ist, die fruchtig, balearisch, futuristisch und oldskoolig zugleich ist. (Markus Wiludda)


GIGI – Maintenant [Tomlab]

Ein Allstar-Projekt aus lauter Unbekannten (lediglich Zach Pennington von den Parenthetical Girls und Owen Pallett dürften dem normalsterblichen Musikhörer vielleicht geläufig sein), das in 15 Songs voller Bläser, Streicher und ständig wechselnder Sänger dem Orchesterpop der 60er ein  kleines Denkmal setzt und dabei wunderschön rührselig an der Liebe leidet. Die erste Hälfte jener Dekade gilt hier nämlich nicht nur als ästhetische, sondern auch als inhaltlicher Rahmen und Gründe zum Leiden und Schmachten hatte man als Teenager dieser Zeit sicherlich mehr als genug. Ein Fest für jeden, der sich auch heute noch einen letzten Rest Romantik in seinem Herzen aufbewahrt hat. (Bastian Heider)


JAVIERA MENA – Mena [Unión Del Sur]

„Mena“ unter "Südamerikanischer Pop" zu katalogisieren, dürfte in die Irre führen, das zweite Werk von Javiera Mena gestaltet sich nämlich überaus international. Nicht nur was seinen Sound angeht, der anstatt der xten Cumbia-Modernisierung in slicken europäischen Electro-Pop-Traditionen fußt, auch waren hieran Leute von Ladytron beteiligt, die Streicherarrangements stammen von Environ-Star Kelley Polar und Menas Duettpartner im traumhaften „Sufrir“ ist kein Geringerer als Jens Lekman. Doch der Star des Albums ist klar die Chilenin, die mit warm-aufgeweckter Stimme in glanzvoll detaillierter Kulisse ein Highlight ans andere reiht, seien es der leichtfüßige Discopop von „El Amanecer“, die Mitternachtsmelancholie von „No Te Cuesta Nada“ oder die Übernummer „Luz De Piedra De Luna“, in der dann auch ausnahmsweise mal typisch tropische Perkussionsflächen ausgepackt werden. (Uli Eulenbruch)


LONE WOLF – The Devil & I [Cooperative]

Eigentlich sind ja klassische Albumcover ein Garant für Publikumslieblinge, siehe bei den Fleet Foxes. Und  bei Paul Marshall alias Lone Wolf? Den hat sträflicherweise kaum einer wahrgenommen, obwohl es seine dunkelbunten, opulent orchestrierten Folkpop-Variationen mehr als verdient gehabt hätten. Nun ist Nachholen angesagt, schließlich weiß diese wohldosierte Mischung aus tief timbrierter Stimme, zynisch-melancholischen Texten und wohlfeilen Harmonien auf ganzer Linie zu überzeugen. Gar nicht künstlich, sondern warm und immer dunkelrot schattiert schimmert „The Devil & I“ wie ein kunstvoller Wandteppich, der viele kleine Geschichten zu einem großen Bilderbogen zusammenführt. (Carl Ackfeld)


PHONOPHANI – Kreken [Rune Grammofon]

Espen Sommer Eide ist eigentlich kein Name, der eines Alias bedurft hätte. Jedoch ist es verständlich, dass sich dieser Norweger ein wenig vom Persönlichen distanziert, denn seine Art zu musizieren behandelt die Grundsätze der Musik: Er konstruiert und dekonstruiert, lärmt, schwelgt und experimentiert. Das klingt furchtbar anstrengend, tönt auf „Kreken“ jedoch nie brachial oder unnahbar, wenn er die Folkmusik über die Fjordklippen jagt, die Elektronik aufbohrt und tief in den Jazz hineinhorcht, um später fast lässig und hochnäsig davonzustolzieren. Der Begriff des Avantgardistischen ist sein Antrieb – und dieses Album für den Hörer eine sehr lohnenswerte Herausforderung. (Markus Wiludda)


FANG ISLAND – Fang Island [Sargent House]

Am Anfang Silvesterknaller, danach die schrille Neujahrsfeier. Die Gäste, geladen und ungeladen oder zufällig rein gestolpert, liegen sich in den Armen, hüpfen und trällern was das Zeug hält. Der DJ hat die Kontrolle verloren. Als man so durch die Luft fliegt glaubt man die Platte würde fälschlicherweise auf 45rpm laufen, aber was soll’s? „Ekstase“ ruft einer, aber das geht in dem ganzen Gitarren-Getöse unter. Singt da überhaupt jemand? Egal, man singt mit. „Was ist das überhaupt?“, fragt das ausgeflippte Mädel mit der sprudelnden Flasche, „Grindcore?“ Ihre Füße scheinen sich zu überschlagen. Oder bin ich das? „Pop“ schreit ein augenscheinlich ganz Weiser gegen die Lautsprecher an. Der reinste Freudentaumel jedenfalls. Doch die Zeit geht viel zu schnell rum. 30 Minuten sollen das gewesen sein? (Pascal Weiss)


RICHARD SKELTON – Landings [Type]

Neben Candy Claws‘ „Hidden Land“ vielleicht das naturverbundenste Album des Jahres 2010. Ein 70-minütiger, fragiler Koloss, aufgenommen von Richard Skelton über einen Zeitraum von vier Jahren, um unter anderem den frühen Tod seiner Lebensgefährtin zu verarbeiten. Zu hören sind ausschließlich Skeltons Streicherarrangements für Violine und Aufnahmen aus den Wäldern und Mooren seiner nordbritischen Heimat Lancashire. Mitunter hat Skelton die Streicher gar mit Ästen, Steinen, etc. bearbeitet, um so seinem Instrument noch natürlichere Klänge zu entlocken. Das Ergebnis ist eine der fragilsten, emotionalsten Veröffentlichungen des gesamten Jahres. (Constantin Rücker)


ITAL TEK – Midnight Colour [Planet Mu]

Wer es schafft, selbst dem diffusen Grau der Nacht noch Farben entgegenzusetzen, verdient einen Eintrag in diese Liste! Alan Mysons konstruiert mit Leidenschaft akkurate Dubstep-Songs, die vom Ansatz und Klangkleid schon fast als konventionell durchgehen, aber immer ein bisschen fordernder, dringlicher und rasanter sind als die der Konkurrenz. So prallen fiese Brocken wie „Babel“ oder das staubtrockene „Moon Bow“ auf surrende Flächen oder abgefahrene Klänge aus der nächsten Galaxie. Voluminöse Bässe produziert er mit dem gebotenem Wumms und klickende Details mit der nötigen Verachtung für menschliche Wärme, die „Midnight Colour“ zu einem kühl-futuristischen Kopfhörer-Werk schleifen. Rabimmel, rabammel, rabumm! (Markus Wiludda)


BLACK MILK – Album Of The Year [Fat Beats]

Tief verwurzelt in Detroit, der amerikanischen Großstadt, die mit zweitem Namen „Urban Decay“ heißt und mittlerweile überregional für ihr freischaffendes Künstlerpotenzial bekannt ist, lebt Black Milk und verschiebt klassischen Hiphop alter Schule ein gutes Stück näher zum Rock. Mit scharfen Becken, natürlichen Beats und Einschlägen in Richtung Gospel und Funk saugt Black Milk verschiedenste Strömungen auf, ohne den Faden zu verlieren. So wenig das innovativ ist im Vergleich zu elektronischen Grenzgängern und Pionieren wie Flying Lotus, so erfrischend ist die grinsende Rückbesinnung auf 70er-Gitarren in Songs wie dem famosen „Closed Chapter“. „Album of the Year“ ist zumindest in seinem eigenen Hybridgenre nah dran, genau das zu sein. (Sven Riehle)


DJ ROC – The Crack Capone [Planet Mu]

Die Vermutung liegt nahe: DJ Rocs Lieblingsobjekt im Büro ist ganz sicher der Aktenvernichter. Nimmersatt alles in den Schlund stecken und hemmungslos drauf los schreddern. Beatmacher Roc mag das, denn  auf seinem anspruchsvoll nervenden Album verfährt er in ähnlicher Manier: Tobende Beats, rumpende Bässe, rumorende Samples, alles geloopt, geflirrt, zerstört, geschichtet, verbaut, gehäckselt, ekstatisiert und völlig in den Wahnsinn getrieben. In zwanzig kleinen Episoden lässt er die Relais seines Laptops glühen, die Songschnipsel eint eigentlich nur die permanente Hechelei und die Vielköpfigkeit ihrer Ausprägungen. Wem hier nicht spätestens nach der Hälfte sowas von der Kopf raucht, verliert auch in einer Gruppe von fünfzig getriebenen ADHS-Kindern nicht den Überblick. (Markus Wiludda)


DECLAIME & GEORGIA ANN MULDROW – SomeOthaShip [Mello Music]

Manchmal schreibt das Leben die besten Alben. Das wissen auch Perkins (Declaime) und Georgia Anne Muldrow und machen nicht bloß süße Kinder zusammen, sondern ergänzen sich auch musikalisch hervorragend – sie die Beats, er den Wortschwall, die Aufgabenteilung könnte klarer nicht sein. Nicht gerade umwerfend progressiv und wortwuchtig sind die klassischen Themenfelder, die  eben auch den Leftfield-HipHop bestimmen: Die Straße, die Politik und das Miteinander werden hier in einer George-Clinton-Hommage eingebunden. Musikalisch bleibt es ebenso offen: Oldschoolige Raptitel reihen sich an soulige Kopfnicker und störrische Dagegen-Songs, die auch aufgrund ihrer variablen Produktionen von Flying Lotus, Black Milk und Muldrow funky und spannend bleiben wie die Personen, die hinter diesem Album stecken: Declaime ist vielleicht der einzige schwarze Rapper, der strikt anti-Obama ist. (Markus Wiludda)


JACK SPARROW – Circadian [Tectonic]

Quo vadis, Dubstep? Nach sphärischem Gewimmer, nächtlichen Geisterklängen, gerade gebogenen Neuentwürfen und dickbäuchigem Bass ist das Genre mehr den je von einer einheitlichen Definition entfernt. Den englischen Produzenten Jack Sparrow  scheint das gar nicht zu stören, er entwirft einen 24-Stunden-Zirkel zwischen An- und Entspannung, driftet wie selbstverständlich zu House und Techno und landet irgendwann sogar bei Drum’n’Bass. Während der Opener noch fast soulig daherkommt, bieten spätestens die Klubtracks den kühlen Gegensatz. Was alle Titel gemeinsam haben, ist ihre Vision von moderner elektronischer Musik. (Markus Wiludda)


TRICLOPS! – Helpers On The Other Side [Alternative Tentacles]

Noiserock, Punk, Prog, Psychedelic, Metal, Post-Hardcore – man weiß gar nicht, wo man anfangen soll dieses Album zu charakterisieren, so furchtlos operieren Triclops! hier im stilistischen Freigehege. Das ist prinzipiell nichts Neues für die Band aus San Francisco, aber was an ihrem zweiten Album so beeindruckt ist, wie selbstsicher dies unter der Führung von John Geeks so charismatischer wie wandelbarer Stimme geschieht. Hysterische Gitarrenritte, trippige Schlammwälzerei, mutierende Math-Breaks oder cartoonige Vokalmodulation zu sanftem Akustikgezupfe koexistieren wie selbstverständlich – und das bloß auf einem einzigen der sechs Songs. Selten sind Genie und Wahnsinn so schwer zu unterscheiden wie hier. (Uli Eulenbruch)


DONOVAN QUINN & THE 13TH MONTH – Your Wicked Man [Shrimper]

Manchmal denkt man Leonard Cohen, nicht selten an Bob Dylan, ab und zu sogar an Jonathan Richman. Aber mit ihren San-Franciso-Psych- und Folkrock-Einflüssen erinnern Donovan Quinn & The 13th Month, zu denen u.a. Multiinstrumentalist und Produzent Jason Quever (Papercuts) zählt, hier nicht zuallerletzt an das immer noch unantastbare gleichnamige Werk von Flying Canyon, das damals sicherlich nicht ganz zufällig auch via Soft Abuse erschienen ist. Allerdings trägt „Your Wicked Man“ die Resignation nicht ganz so offen in den Händen – Wut, Melancholie und Verzweiflung, all das transportiert der Kalifornier nach und nach durch seine introvertierten Lyrics und wärmenden Arrangements. So herrlich unaufgeregt. Ein Indiefolk-Prachtstück für Leute, die Zeit finden. (Pascal Weiss)

5 Kommentare zu “AUFTOUREN: 2010 – Geheime Beute (Teil 2)”

  1. Bastian sagt:

    Endlich mal die Declaime & Georgia Anne Muldrow nachgeholt. Klassischeres Stones Throw Zeug gab’s in diesem Jahr kaum, auch wenn gar nicht Stones Throw draufsteht. Super Album jedenfalls. Black Milk bleibt aberfür mich, zumindest was Hip Hop angeht, nicht nur zwischen den Stühlen Album of the Year. Erfrischend, souverän und ähm kraftvoll, KanYe hin, KanYe her.

  2. Michi sagt:

    Ital Tek und Oriol!

  3. Carl sagt:

    Danke für Richard Skelton, Constantin. Kannte ich nicht, angetestet und verliebt!

  4. Markus sagt:

    wie immer beliebt: das fantastische Type-Label anpreisen: http://typerecords.com/releases

    Richard Skelton ist nur einer unter vielen entdeckenswürdigen Künstlern dort. Hier gibt es auch noch ein paar Sätze zusätzlich: http://www.auftouren.de/2009/11/15/label-tipp-type-der-nischenprimus/

  5. Constantin sagt:

    Das freut mich, Carl ;) Eine wahre Herzensangelegenheit der Skelton!

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