AUFTOUREN: 2010 - Geheime Beute (Teil 1)

„Schöne Liste. Doch was ist mit X? Und Y? Und Z müsst ihr doch wohl auch gehört haben.“ Klar, allen können wir es nie recht machen mit unseren Jahrescharts, dafür gibt es einfach zu viele gute Alben über die wir uns einig werden müssen. Besonders jene Werke, die zwar zweifellos herausragend, aber zu unbekannt sind haben es bei solchen Abstimmungen naturgemäß schwer. Doch damit auch Tropical-Gefrickel, Noise, schwedischer Electro-Pop und neuseeländische Garage-Schrammelei ihre verdiente Erwähnung finden, bieten wir euch heute und morgen unsere geheime Beute.


YELLOW SWANS – Going Places [Type]

Bereits mit dem ersten Ton schwillt die Geräuschkulisse bedrohlich an. Besser man nimmt die Kopfhörer noch einmal kurz ab, bevor die Lautstärke endgültig nach unten reguliert wird. Nach vier Minuten die erste Pause – durchatmen. Der Rest dieses beeindruckenden Albums ist mitunter etwas verträglicher, meist aber zermartern, überrollen die Songs schier alles im Weg stehende oder ziehen es zwischen ihre rastlos arbeitenden Zahnräder hinab. Vor zwei Jahren hatten die Yellow Swans offiziell ihr Ende bekannt gegeben. Auch wenn ein Teil der Band, Pete Swanson, inzwischen allerlei neues Material veröffentlicht hat und den Weg der brachialen Sounddekonstruktion solo konsequent fortführt, „Going Places“ ist ein unsentimentales musikalisches Vermächtnis und kann einem als Zugang zur Welt des Noise oder Drone dienen. (Constantin Rücker)


C.W. STONEKING – Jungle Blues [99999]

Schummriges Licht. Eine Bluesbar angefüllt mit traurigen Trinkern und drallen Dirnen. Whiskey und anderes Teufelsgebräu. Der Lichtkegel auf der kleinen Bühne fällt auf den gut behüteten Musiker, der mit Gitarre oder Banjo bewaffnet Lieder über den Kampf oder die Liebe singt und auch nicht mit Gesellschaftskritik spart. Applaus ertönt, die Vorhänge fallen und ein Gemurmel aus 1000 von Stimmen erhebt sich. Plötzlich verwandelt sich die sepiafarbene Szenerie, die flackernden Lichter verschwinden und doch bleibt C.W. Stoneking auf der Bühne. Sein schmuckes Repertoire aus 30er Jahre Blues-, Folk- und Rootsmusik bester amerikanischer Tradition birgt zeitlose Unterhaltung, nicht zuletzt durch die krachig-knarzige Produktion. (Carl Ackfeld)


ROLL THE DICE – Roll The Dice [Forcex]

Ein bisschen ist das so wie experimentelle Archäologie, wenn sich Großstädter in Hasenfelle kleiden und mit dem Bogen auf Jagd gehen: Roll The Dice aus dem Fever-Ray-Umfeld bedienen sich nur analogen Röhren-Synthies und verzichten auf neumodische Drumcomputer. Zwischen fahriger Abstraktion („After“) und hemmungsloser Hinwendung zu demolierten Melodien („Axee“) entsteht eine Welt, in der noch nicht alles ausformuliert scheint und gerade deswegen Lust auf mehr macht. Diese instrumentalen Welten sind herrlich eigen und störrisch zugleich. Und auch wenn es manchmal etwas bissiger wird: Eine Grundwärme lässt sich nicht verleugnen. Irgendwo in der Tiefe der Synthies. (Markus Wiludda)


FREDRIK – Trilogi [Kora]

Was hat sich denn da im Schnee versteckt? Es sind Fredrik, die in regelmäßigen Abständen ausgesuchte Exponate der schwedischen Winteridylle per Heimatlabel Biograf versenden. Man sagt, sie würden Vinyl von Hand gravieren, mit angespitzten Eiszapfen, Rille für Rille, immer im Kreis. Und im Hintergrund pfeift beständig der Wind durch die mit Holz beschlagenen Fenster. Doch da ist eine vertraute Gemütlichkeit, unten in diesem bescheidenen Keller, wo man ausharrt bis es Frühling wird und bemerkt, wie schön auch das sein kann: „Locked in the Basement“ – für noch weniger als drei Stunden Sonne am Tag. Und für Kerzen, die nicht ausgehen wollen. (Sven Riehle)


SHINING – Blackjazz [The End]

Aggression, Saxophon und King Crimson: Mit „Blackjazz“ schaffen die Norweger aus dem Jaga-Jazzist-Umfeld ihre souveräne Vision einer proggig-mathigen Fusion von Jazz und Metal, eingebettet in einen spannungsgeladenen, voluminösen Industrial-Sound, der die Gitarren nur so aus dem Lautsprecher hinausfetzen lässt. Goblinesk schräger Horror wirkt in diesem Rahmen ebenso selbstverständlich wie ein Cover von “21st Century Schizoid Man“, geradlinig biestige Passagen wechseln sich ab mit einem Scheinchaos aus kreischender Saxophon-Dissonanz und ultravertrackter Rifferei im synthetischen Dunkelmantel, was das Album zu einem eingangs anstrengenden, aber mehr als abwechslungsreichen Vergnügen macht. (Uli Eulenbruch)


GRIMES – Halfaxa [Arbutus]

2010 war ein überraschend trendloses Jahr. „Surfpop“ versandete im Frühjahr, „Chillwave“ blieb zwar omnipräsent, wuchs sich aber auch nicht zur Dominanz aus. Ebenso erging es dem kryptischen „Witch House“, der nicht nur unter einem diffusen Begriff zu leiden hatte, sondern vielmehr unter der bloßen Nischentauglichkeit seiner Produkte. Dabei gab es neben Salem und How To Dress Well noch so einiges zu entdecken! Grimes aus Montreal beispielsweise, die zwar brüchig und sperrig musizieren, aber mit einer spannenden und vor allem geheimnisvollen Unschärfe. Die Instrumente leiden und leiern und der Singsang ist standesgemäß aus dem Nachbarzimmer aufgenommen – für den extra spooky Effekt. Dazu trollen sich verschwommene Beats, gruselige Atmosphären und ab und zu sogar hochgradig eingängige Melodien, die selbst Hui Buh mitpfeifen würde. (Markus Wiludda)


BEACH FOSSILS – Beach Fossils [Captured Tracks]

Sicherlich zu den erfreulichsten Nachwuchslabeln im Gitarrenbereich gehören die New Yorker von Captured Tracks, die pünktlich zum Sommeranfang auf einen Schlag die Debütalben gleich zweier hervorragender Indie-Pop-Bands herausbrachten: Wild Nothing und Beach Fossils. Das selbstbetitelte Debüt letzterer ist eine Lektion in Sachen Ökonomie: Simple, süße Jangle-Melodien, lockeres Tempo, spartanische Instrumentierung in der Schellen das Extravaganteste sind, ein wenig Hall und ein Tünch sonnengebleichter Verzerrung auf Saiteninstrumenten und dem gedoppelten Gesang. Et voilà, 11 sanfte, entspannte Songs voller Sehnsucht nach sorglosem Glück. Wenn es doch immer so einfach wäre. (Uli Eulenbruch)


ALCOHOLIC FAITH MISSION – Let This Be the Last Night We Care [Pony]

Einfach mal das Falsche tun. Das was man will, das was man sich erträumt, was die Welt aber nicht verstehen würde. Und dann können sie doch nicht dichthalten und ersparen einem nichts. Da heißt es „But I’m turning on to the idea of having you on your back/ laughing at my face, while my shrimp is getting bigger/ And I’m waiting just to poke you“ und klingt letztendlich doch irgendwie ganz und gar traurig und aufopfernd. Alcoholic Faith Mission, das sind auch die kleinen, dänischen, verpönten Geschwister von Arcade Fire. Die mit den ungerichteten Wutausbrüchen, ohne das es jemals richtig laut wird. Die mit dem Weihnachtsglocken im Sommer. Die Indie-Rock-Patienten, die ihren Seelenklempner ganz beiläufig zu Tränen rühren. (Sven Riehle)


CEO – White Magic [Sincerely Yours]

CEO ist Eric Berglund ist die eine Hälfte von The Tough Alliance und was aus denen nun wird, darüber darf nach diesem Album, wie so oft beim geheimnisvollen Schweden-Label Sincerely Yours, gerätselt werden. Sorgen machen muss man sich indes nicht, denn „White Magic„ fackelt über  extrem kurzweilige acht Songs ein dermaßen bunt flackerndes und überladenes Elektropop-Feuerwerk ab, dass einem schon mal Hören und Sehen vergehen kann. Das ist klebrig und kitschig, das ist überzuckert, das ist schlichtweg der beste ganz ungeniert an die 80er und 90er gemahnende Pop, den man sich derzeit überhaupt vorstellen kann. (Bastian Heider)

 


KYÜ – Kyü [Popfrenzy]

Die beiden Mädels von Kyü haben enormes Glück, dass sie in diesem Jahrhundert leben: Mit ihren zotteligen Haaren, und ihrem Waldgeister-Klang hätte der Scheiterhaufen mit Sicherheit schnell flammend gelodert. Hexengleich brauen sie ihre schamanischen Klänge mit allerlei Gerümpel, Pauken und Geklirre auf und schrecken auch vor lieblichen Melodien nicht zurück. Dass ihr Album dabei dennoch intim wirkt, ist gar nicht einmal so selbstverständlich, denn die Stimmen leiern mitunter weltdurchdringend. Wer Hanne Hukkelberg oder Wildbirds & Peacedrums mag, dürfte dieses ätherische und knorrige Werk lieben. (Markus Wiludda)


HARLEM – Hippies [Sub Pop]

Ja, auch in diesem Jahr war einmal Sommer. Und als die Sonne über den schier endlosen gewundenen Straßen Frankreichs brannte und wir Richtung Süden tuckerten, schrieen wir diese rührend rotzigen Songs zusammen mit Harlem durch die heruntergekurbelten Scheiben in die Welt hinaus. Wie ihr euch vorstellen könnt, inzwischen eine äußerst emotionale Angelegenheit und daher selbstverständlich ohne die nötige Objektivität. Und dennoch steht fest, dass in diesem Jahr niemand mitunter derartig sinnlose Texte sympathischer schief gesungen hat, als diese vier Jungs aus Amerika! (Constantin Rücker)


BILAL – Airtight’s Revenge [Plug Research]

Soul ist die Musik Amerikas. Aus dem R’n’B und Gospel geboren, eroberte der Klang Mitte des 20. Jahrhunderts die amerikanische Popkultur, immer auch verknüpft mit der kämpferischen Geschichte der farbigen Bevölkerung für Anerkennung und Gleichberechtigung. Bilal ist Soul 2.0 – er hat es geschafft, ist studiert und akzeptiert und möbelt mit „Airtight’s Revenge“ ein in die Jahre gekommenes Genre auf, ohne es in den Grundfesten zu erschüttern. Mal kratzig, mal sanft schlängelt er sich durch die Tracks und vermeidet dabei jegliche Anbiederung oder unpassende Vokalgestik. Während Prince sein neues Album via englische Klatschpresse unter das Volk bringt und so tut, als wäre er noch in irgendeiner Weise relevant, schafft Bilal spielend mit seinem dritten Werk den Spagat zwischen Substanz und Eingängigkeit. Und unterstreicht nebenher mit so bedrohlich dissonanten Tracks wie „Levels“ auch seinen progressiven Ansatz. (Markus Wiludda)


STREET CHANT – Means [Arch Hill]

Dass der neuseeländische Lo-Fi-Pop auch Jahrzehnte nach „Tally Ho“ immer noch massiv Einfluss auf amerikanische Indie-Rocker hat, ließ sich dieses Jahr mal wieder an Frischlingen wie Beach Fossils beobachten. Doch auch Down Under floriert der Nachwuchs, zum Beispiel in Form von Street Chant, deren lustvolles Debüt allerdings weniger sanft jangelnd, sondern einhergehend mit der Konfrontationslust ihrer Frontfrau Emily Littler rotzig-garagig daherkommt. „Means“ weist stellenweise postpunkige Kanten auf, bringt aber vor allem triumphal-druckvoll nach vorne rollende Faustrecker wie sie die Thermals irgendwann auch mal auf Abruf parat hatten. (Uli Eulenbruch)


ARANDEL – Arandel [In Fine]

Wie macht er das bloß? Da kullern mikroskopische Beats aus dem Laptop und singt die ein oder andere schockgefrostete Säge – und schon ist man innerlich aufgewühlt wie, sagen wir, nach einem Doppelmord. Nervöse Zuckungen, eiskalte Schauer und aufgestellte Nackenhaare sind die Folge, wenn Arandel seinen Kammer-Techno in die Ohren spült. Und obwohl es der bewusste Umgang mit konzeptioneller Strenge, Reduktion und Leerstellen es nicht gerade erwarten lässt, geraten die durchnummerierten Titel dieses Debüts intensiv und entdeckenswert. Exquisite wie experimentelle Geräuschtracks (bei den besten dröhnt eine besoffene Tuba!) wechseln sich hier mit linearen Klicktronic-Titeln ab, während die Umgebungstemperatur unter den Gefrierpunkt rauscht und den Kopf mit absurden Gedanken füllt. (Markus Wiludda)


CANDY CLAWS – Hidden Lands [Twosyllable]

Nur Arcade Fire haben in diesem Jahr das Prinzip Konzeptalbum weiter auf die Spitze getrieben. Aber auch „Hidden Lands“ arbeitet sich an einem speziellen Thema ab: es ist als Ergänzung zu dem Buch The Secret Life of the Forest Richard M. Ketchum konzipiert. Selbst die Texte entstammen diesem. In seiner Verspieltheit erinnert die Musik der Candy Claws dabei am ehesten an Sufjan Stevens, wobei die Elemente allerdings nicht für sich stehen bleiben, sondern zu einem großen Soundteppich verwoben werden. Die Lieder umspülen einen wie ein warmer Sommerregen, der Gesang ist mehr ein Hauchen denn richtiges Singen. Somit funktioniert „Hidden Lands“ letztlich wie eine auditive Schnitzeljagd: Kaum hat man eine Melodie aufgenommen, verflüchtigt sich diese bereits wieder und man verliert sich fürs erste im undurchdringlichen Dickicht der Geräusche. Obwohl es daher umso länger dauern mag, bis die Stücke sich in den Gehörgängen festsetzen, umso sicher ist es auch dass sie diese so bald nicht wieder verlassen werden. (Constantin Rücker)

Hier geht’s zu Teil 2 der „Geheimen Beute“

4 Kommentare zu “AUFTOUREN: 2010 – Geheime Beute (Teil 1)”

  1. Michi sagt:

    7 Alben davon kannte ich schon.
    4 Von denen mag ich
    1 ist sogar auf Platz 6 meiner Jahrescharts

    Einer meiner Tipps: An alle die How to Dress Well abfeiern,
    „Autre Ne Veut“

    Heute ist auch mal das Review bei Pitchfork erschienen.
    Gutes Ding!

  2. Markus sagt:

    Autre Ne Veut ist ja tatsächlich ganz großartig! Die hatte einer unserer Redakteure schon für das „Orakel 2011“ vorgemerkt – unser Vorschau auf das nächste Musikjahr. Danke für den Tipp, hab ich gerade mal direkt bestellt.

    Ansonsten ist die „Beute“ natürlich stilistisch total breit gefächert. Ist klar, dass man da nicht zu jedem Thema einen Zugang finden wird. Ceo ist bestimmt auf der 6 bei dir, oder?

  3. […] und neuseeländische Garage-Schrammelei ihre verdiente Erwähnung finden, bieten wir euch nach Teil 1 nun die zweite Hälfte unserer geheimen […]

  4. […] life-changing experience of my life“. Entsprechend zerrissen klang noch 2010 ihr Debüt „Halfaxa“: Verschwommene Beats, gruselige Atmosphären – und ab und zu sogar hochgradig eingängige […]

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