AUFTOUREN 2023 – Das Jahr in Tönen

So ganz in Gang gekommen ist das neue Jahr noch nicht. Das Schneechaos ist erst mal überwunden, doch der Winter könnte noch einmal einbrechen, ein andauerndes Echo aus 2023.

Zeit für uns, allmählich auch einmal mit den letzten 12 Monaten musikalisch abzuschließen in Form unseres musikalischen Jahresrückblicks. Hier sind 25 Alben, deren Klang wir sicher nicht zum letzten Mal gehört haben.


25

Olivia Rodrigo

GUTS

[Interscope]

Gibt es zu Olivia Rodrigo noch viel zu sagen? Ihr Karriere über Disney, ihr Debütalbum „SOUR“ nach Glastonbury 2022 erscheint nur zu folgerichtig, irgendwie geplant im Hinterzimmer der Unterhaltungsindustrie. Eine Künstlerin aus der Retorte, aber das ist natürlich Quatsch. Rodrigo schreibt einfach tolle und mitreißende Songs, die eben nicht nur Teenies abholen, und von diesen finden sich auch auf „GUTS“ wieder einige. Apropos Glastonbury: Rodrigo spielte ihr Set mit einer reinen „Frauenband“ – auch dies ist im internationalen Festivalzirkus immer noch ein Statement und wenn sie dann zur Einleitung eines Duetts mit Lily Allen (!) folgendes äußert, ist Disney weit weg: “I’m devastated and terrified. So many women and so many girls are going to die because of this. I wanted to dedicate this next song to the five members of the supreme court who have shown us that at the end of the day, they truly don’t give a shit about freedom. The song is for the justices: Samuel Alito, Clarence Thomas, Neil Gorsuch, Amy Coney Barrett, Brett Kavanaugh. We hate you! We hate you.” Der anschließende Song ist Allens “Fuck You” und die BBC sieht sich einmal mehr gezwungen den Beeper zu benutzen. (Mark-Oliver Schröder)

24

The Tubs

Dead Meat

[Trouble In Mind]

Ein Ende kann auch ein neuer Anfang sein. Oder zwei. Oder drei. Im Fall von Joanna Gruesome gingen die ehemaligen Bandmitglieder nach der Auflösung keineswegs getrennte Wege, sondern wuchsen nur vielfältiger neu zusammen. The Tubs sind eine von mehreren Bands des Musikkollektivs Gob Nation, welches personalmäßig so verwoben ist, dass man selbst mithilfe eines Flowcharts kaum den Überblick behält. Ihr Debüt „Dead Meat“ mutet in goldigem Jangle als die harmonischste all dieser Facetten an, doch so wie sich im Noise von Ex-Vöid eingängige Melodien bilden, hört man hier bald die melancholischen Tiefen nicht nur in den Texten heraus. „Sniveller“ changiert zu verkrachter Intensität und gibt der zweiten Albumhälfte einen raueren Anstrich, aus dem wiederum in „Wretched Lie“ zarte, verwundete Stimmen emportönen. All das in einem Tempo, bei dem die meisten Songs keine drei Minuten erreichen. (Uli Eulenbruch)


23

Kali Uchis

Red Moon In Venus

[Interscope]

Wie ein Dickicht aus Orchideen und Schlingpflanzen nimmt „Red Moon In Venus“ ab der ersten Minute gefangen. Überwiegend auf Englisch verwebt diese Platte femininen Eskapismus, Astrologie und Kali Uchis‘ Liebesleben zu sinnlichen, trippy Klangwelten. Transzendentale Momente wechseln sich mit ganz manifesten Realisationen ab: „What’s the point of all the pretty things in the world, if I don’t have you?“ Für Uchis war „Red Moon In Venus“ ein weiterer Schritt auf der globale Popbühne, die sie sich mit ihrem charakteristischen, souligen R’n’B-Sound schon seit einiger Zeit von der Latinpop-Ecke aus erspielt hat. Und ihre Kreativität scheint weiter zu sprudeln: Mit „Orquídeas“ hat sie zu Anfang des Jahres bereits ihr Nachfolgealbum veröffentlicht. (Benedict Weskott)

22

JPEGMAFIA & Danny Brown

Scaring The Hoes

[Many Hats Endeavor]

Den größten Witz hat JPEGMAFIA im Begleittext zu „Scaring The Hoes“ versteckt: Weil er alle Instrumentals mit einem alten Roland SP-404-Sampler gebaut hat, behauptet er: „So hätten wir in den 90ern geklungen.“ Vor 30 Jahren hätte der hyperaktive Glitch-Hop der 14 Songs einen Zukunftsschock ausgelöst, von dem sich nicht mal Simon Reynolds erholt hätte. „Scaring The Hoes“ ist ganz und gar Gegenwart – die Gegenwart von zwei US-Typen, die zu viel Zeit im Internet verbringen. In einem Browser-Tab läuft ein obskurer Anime, aus einem anderen schreit ein Crypto-Bro und eine Fitness-Influencerin um die Wette, auf TikTok loopt eine Sped-Up-Version von Kelis‘ „Milkshake“, auf YouTube betritt ein Wrestler zur Billig-Fanfare den Ring – aber wo kommt auf einmal das Freejazz-Saxofon her? Solche Beats geben keinen Raum für Introspektion – dafür hat Danny Brown im November „Quaranta“ veröffentlicht. Stattdessen gehen JPEGMAFIA und Brown mit den Instrumentals in den Nahkampf und rappen dort den Unsinn, den sie nicht mehr auf Twitter posten können. (Daniel Welsch)


21

Jessie Ware

That! Feels Good!

[EMI]

Disco? That! Feels Good! Retrosound der besten Sorte bringt die Britin in schöner Regelmäßigkeit zu Gehör, doch allein mit den Singles zum Album adelt sie sich zur Königin von Rhythmus, Stilbewusstsein und Lässigkeit. Und die Selbstsicherheit, mit der hier Hüften geschwungen und Knie gedippt werden, ist elektrisierend, pulsierend, faszinierend. (Carl Ackfeld)


20

Svalbard

The Weight Of The Mask

[Nuclear Mask]

Die Briten befinden sich in „The Weight Of The Mask“ weiter auf emotionaler Achterbahnfahrt und das teilweise sogar etwas ausführlicher als bei den kompakt gehaltenen Vorgängern. Der Albumtitel spielt sicherlich auch auf die Bürde an, ein Stück näher Richtung Rampenlicht gerückt zu sein. Zuallererst sind es aber die eindringlichen Ausführungen um seelische Gesundheit, Trauer und Unsicherheit, die dem Album die Wucht verleihen. Dazu haben Svalbard ihre Mixtur aus Black Metal und Post-Hardcore noch einmal verfeinert. Man bekommt nie den Eindruck, dass das etwas mit dem Wechsel zu einem Major-Label zu tun haben könnte. Eher fühlt es sich wie der logische Weg zum vielleicht besten Werk der Band an. (Felix Lammert-Siepmann)


19

Wayfarer

American Gothic

[Century Media]

Wayfarer sind inzwischen alte Bekannte im Metal-Ring und sie werden besser und besser. Die Band aus Denver, Colorado verfeinert auf „American Gothic“ den mit „A Romance with Violence“ eingeschlagenen Weg und verfeinert erneut ihre ureigene Herangehensweise an Black Metal. Dazu amalgamieren sie selbigen auf „American Gothic“ mit Americana, Anleihen an Sludge und setzen auch vermehrt auf Klargesang. Textlich bleiben sich Wayfarer treu und arbeiten sich weiterhin an den ureigenen amerikanischen Gründungsmythen ab und erzählen Geschichten jenseits der allgemeinen Glorifizierung. (Mark-Oliver Schröder)


18

Yves Tumor

Praise A Lord Who Chews But Which Does Not Consume; (Or Simply, Hot Between Worlds)

[Warp]

Die Nase immer direkt im Wind und das diesmal mit einem der längsten Albumtitel des Jahres: „Hot Between Worlds“ ist ein unglaublich kurzweiliges, verspieltes und gleichzeitig aufrüttelndes Album. Es nähert sich einerseits dem Mainstream an und zerrt andererseits – sogar auf Songebene – kräftig in eine komplett entgegengesetzte, verschlurfte Richtung. Dieses traumwandlerische Arrangieren zwischen Prince und My Bloody Valentine, zwischen David Bowie und Mazzy Star wirkt fast wie aus einem Theaterstück entliehen. Doch Musik bleibt hier glücklicherweise Musik und Yves Tumor wird auch nicht müde, daran immer wieder zu erinnern, so etwa im implodierenden „Heaven Surrounds Us Like A Hood“. (Felix Lammert-Siepmann)


17

Slowdive

everything is alive

[Dead Oceans]

„Maybe there’s a car there/ Driving away from here“, flüstern Rachel Goswell und Neil Halstead in „Kisses“, dem Hit des fünften Albums ihrer Band. Vor 30 Jahren hätte sie das Auto in ein neues Leben, ein neues Abenteuer gefahren, zu einer neuen Liebe. Heute hoffen sie, dass es die Geister der Vergangenheit weit wegbringt. So ändern sich die Themen, wenn man wie Slowdive nach 22 Jahren ohne Album noch mal die Shoegaze-Band der Jugend reaktiviert. Nach „Slowdive“ 2017 ist „Everything Is Alive“ nun das zweite Album der zweiten Phase des britischen Quintetts. Doch „Everything Is Alive“ ist kein düsteres Alterswerk, auch wenn es Goswells Mutter und Drummer Simon Scotts Vater gewidmet ist, die beide 2020 starben. Stattdessen strahlen die acht Songs vor Wärme, glitzern voller Hoffnung. Shoegaze ist die Kunst des Dröhnens, doch „Everything Is Alive“ setzt diese Elemente nur sparsam ein. Statt Hall- und Zerr-Sounds aufzutürmen, schäumt die Musik in feinen Bläschen über. (Daniel Welsch)


16

Yaeji

With A Hammer

[XL]

Wer algorithmisch von einem älteren Track Yaejis zu einem ihres Debütalbums weitergeleitet wird, mag sich anfangs wundern, was aus den eleganten, scheinbar simplen Dance-Tracks geworden ist. Doch auch „Raingurl“ etwa zeigte bereits die Eigenheiten ihrer Produktion, in etwas abseitigen Randgeräuschen oder der Abmischung ihrer Stimme. „With A Hammer“ lässt nun aber endgültig das Ideenfüllhorn von Struktur und Klangpalette überlaufen, mal mit Flöte, Telefon oder Trompete, mal jazzig, in gebrochenen Beats oder nahezu ambient. Aber auch eingängige Songs wie „Done (Let’s Get It)“ tragen die Handschrift Yaejis in einem Maße, das es schwer vorstellbar macht, irgendwer anders hätte sie sich so erdenken können. (Uli Eulenbruch)


15

billy woods & Kenny Segal

Maps

[Backwoodz Studioz]

Wenn Musiker*innen Alben über das Tourleben veröffentlichen, ist Vorsicht geboten. Denn die immergleichen Backstage- und Hotelzimmer sind nicht nur auf Tour, sondern auch auf Albumlänge schnell ermüdend. Anders bei Billy Woods, der die ereignislosen Stunden zwischen den Auftritten für das nutzt, was er am besten kann: assoziative Grübeleien und prägnante Beobachtungen. Die 17 kurzen, wild zwischen Genres und Stimmungen wechselnden Instrumentals von Kenny Segal spiegeln das auf „Maps“ beschriebene Leben: Vom Flugzeug in eine unbekannte Stadt gespuckt, verbringt der New Yorker Rapper seine Tage im Jetlag- und Grasnebel, geplagt von brodelnder Anspannung und Paranoia oder von Heimweh. Vier Jahre nach dem gemeinsamen Album „Hiding Places“ harmonieren Woods und der Produzent aus Los Angeles erneut perfekt, auch die vielen Gäste wie Quelle Chris, Danny Brown, Aesop Rock, Sam Herring von Future Islands oder Shabaka Hutchings bringen die besondere Beziehung der beiden nicht aus dem Gleichgewicht. (Daniel Welsch)


14

Water From Your Eyes

Everyone’s Crushed

[Matador]

Es ist zu spät für Reparaturen. Die Saiten sind gerostet, die Schlagzeughäute zersetzt und die Synths loopen auch nicht mehr vernünftig. So sehr die Klangpalette aber auch Chaos suggerieren mag, das Duo aus Brooklyn zeigt auf seinem neuen Werk überaus strukturierte Herangehensweise – auch wenn diese anfangs auf „Structure“ vor lauter Hibbeln besonders gut verhüllt ist. Das Titelstück oder „Barley“ sind dann aber lässige Synkope, „Remember Not My Name“ zeigt sich gesanglich unbeeindruckt vom punktuell ein- und aussetzendem Saitenschremmeln und „Out There“ lässt eine der denkwürdigsten Melodien des Jahres nur scheinbar wahllos über gestraffter Rhythmik schweben. Pop in kunstvoller Zerworfenheit oder merkwürdig eingängiger Lärm? Wie man’s nimmt, es ist famos. (Uli Eulenbruch)


13

Parannoul

After The Magic

[Topshelf Records]

Mag sein, dass vor Parannoul andere bereits Sounds wie diese entworfen haben: Der Noise-Pop von Xinlisupreme und World’s End Girlfriend, M83 oder Oneohtrix Point Never in ihren maximal verzerrten Momenten und ein ganzer Haufen Musikschaffende, die K-Rock, J-Rock oder Emo mit Shoegaze vermengen. Die enorme Kraft vpn Parannouls Musik erwächst aber aus ihrer potenzierenden Klangdynamik, wie wenn in „스케치북 (Sketchbook)“ ein fast schon meditatives Pluckern graduell in einen Rocksong anwächst, aber jede Intensivierung mit mehr und mehr Schichten pristiner wie verzerrter, digital wie analog anmutender Klänge untermauert wird. Der Gipfel der Emotion wird nicht weniger als ein Griff nach den Sternen. (Uli Eulenbruch)


12

Julie Byrne

The Greater Wings

[Ghostly International]

„The Greater Wings“ ist das dritte Album von Julie Byrne und als Hörer*in hat man das Gefühl, es würde die Zeit gerinnen lassen. Während der Produktion verstarb ihr langjähriger musikalischer und Lebenspartner Eric Littmann mit 31 Jahren. So entführt „The Greater Wings“ gekleidet in minimalistische Kompositionen aus Gitarre, Harfe, Streichern und Synthesizer in einen Kosmos aus Verlust, Schmerz und Trauer. Byrne verarbeitet all dies in ihren Texten, aber eben auch Neuanfang und damit Hoffnung. Für mich persönlich tatsächlich eines der wichtigsten Alben des vergangenen Jahres. (Mark-Oliver Schröder)


11

ANOHNI And The Johnsons

My Back Was A Bridge For You To Cross

[Rough Trade]

Es war ein Comeback, das Fans lange erwartet hatten: ANOHNI wiedervereint mit den Johnsons. Die Namensgeberin der Band und Ikone der queeren Befreiungsbewegung Marsha P. Johnson beehrt das Cover und signalisiert auch die Richtung, in die sich ANOHNI inhaltlich und klanglich aufmacht. Vorbei sind die Zeiten experimenteller, glasklarer Electronica-Sounds aus Zusammenarbeit mit Hudson Mohawke und Oneohtrix Point Never auf „Hopelessness“ vor sieben Jahren. Tiefe Trauer über die Unterdrückung queerer, insbesondere trans Menschen und die fortschreitende Zerstörung der Umwelt verpackt ANOHNI mit ihrer Band auf „My Back Was A Bridge For You To Cross“ in nostalgischen Soulsound, der mal überraschend weich bettet und dann wieder wütenden Gitarrenriffs und Drumsoli ihren Lauf lässt. Alles getragen wie immer von ANOHNIs unverwechselbarer, alles einnehmender Stimme. Eine Ode an alle, die auf der Strecke blieben und bleiben. (Benedict Weskott)


10

Sofia Kourtesis

Madres

[Ninja Tune]

“Madres“ feiert nicht weniger als den Triumph des Lebens über Tod in all seinen Formen. „Vajkoczy“ ist dem deutschen Neurochirurgen gewidmet, der Kourtesis’ Mutter bei ihrem Kampf gegen Krebs erfolgreich behandelt hatte, „Estacion Esperanza“ skandiert gegen Homophobie, ein weiterer Kampf, den ihre Eltern über Jahre geführt haben. Noch weitergehend greift das Debütalbum der Peruanerin ihr kulturelles Erbe auf, sampelt Folk-Instrumente und flechtet afrodiasporische Rhythmik ein. Warm, intim, aber vor allem physisch bewegend formuliert Kourtesis ihre eigene These: „How Music Makes You Feel Better“(Uli Eulenbruch)


9

Agriculture

Agriculture

[The Flenser]

Fossile Brennstoffe gehören in Zukunft zum alten Eisen. Metal noch lange nicht. Die Energie lodert noch und es fliegen immer wieder Funken, die Herzen brennen lassen und neue ergiebige Schürfgründe eröffnen. Neben Death Metal bleibt Black Metal ein Hort vielfältiger Inspiration und ist längst aus den Fängen seiner teils fragwürdigen Anfangszeit emanzipiert. Die vierköpfige Band Agriculture aus Los Angeles hat dies 2023 erneut eindrucksvoll bewiesen: Ihr Debütalbum, das sie selbst als „ecstatic black metal“ beschreibt, brennt und strahlt wie ein Leuchtfeuer in tosender See. (Mark-Oliver Schröder)


8

bar italia

Tracey Denim

[Matador]

Nachdem in den letzten Jahren eine gewisse Akademisierung und Verkopfung bei neuen Hypes von der Insel festzustellen war, kommt bar italias drittes, von der Länge her betrachtet eigentlich erstes, Album erfreulich unprätentiös daher. Die Hits, Hits, Hits schütteln sich gleichsam wie von selbst aus dem Handgelenk, dass es eine wahre Freude ist. Das Setting – verhaltener, aber gerade im Duett unglaublicher lässiger Gesang, zurückhaltende Instrumentierung – tut sein Übriges, um aus „Tracey Denim“ zum wahren Kleinod zu machen. Zudem: Wenn es unmöglich zu bestimmen ist, ob das hier ein 80er-, 90er- oder 00-er Revival ist, hat jemand ziemlich viel richtig gemacht. (Felix Lammert-Siepmann)


7

Mandy, Indiana

i’ve seen a way

[Fire Talk]

Industrial und Französisch – la combination la plus cool? Verhallte Drums und sirrende Drones steuern „Drag (Crashed)“ auf einen Albtraum-Rave zu, während Valentine Caulfield in einem Flüsterton, aber laut verständlich wortspielt „Souris, souris, souris, souris/ C’est plus joli une fille qui sourit“ (Maus, Maus, Maus, Maus/ Ein Mädchen, das lächelt, ist hübscher). Die brodelnde Wut ist kaum kaschiert, wie auch die Instrumente mit einer Eruption drohen, die schließlich in dissonanter Entladung wahrhaftig wird. „i’ve seen a way“ ist wütend auf die Gegenwart, ihre sozialen und ökologischen Missstände, doch ist oft dadurch beunruhigender, wie es durchaus tanzbar die Form behält und sich doch nie in bequemen Formeln niederlässt. „The Driving Rain (18)“ ginge mit Regen-Samples und Live-Drums fast als eine organischere Variante von Kaminskys „Nightcall“ durch, doch wenn Caulfields vocoderhafte Stimme von Luxus und Glamour schwärmt, fluktuiert sie in unmenschlicher Tonschwankung, als würde ein futuristischer Werberoboter durchglitchen und seine wohligen Versprechen als hohlen Schein entlarven. (Uli Eulenbruch)


6

L’Rain

I Killed Your Dog

[Mexican Summer]

Taja Cheek möchte in Texten über ihre Musik nicht mehr die Worte „verkopft“ und „kompliziert“ lesen. Deshalb hat die Multiinstrumentalistin und Kuratorin aus Brooklyn für ihr drittes Album ein Thema und einen Sound gewählt, die eher als naheliegend und ausgelutscht gelten: „I Killed Your Dog“ handelt von der Liebe und imitiert den Dad- und Indierock von Wilco und The Strokes. Nun ist aber die Sache mit der Liebe, dass sie schnell kompliziert wird. Deshalb beginnt das Album mit der Softrock-Trauerrede „Our Funeral“ und mit Tara Cheek am Boden „wie ein zerknülltes Stück Papier.“ Im Titelstück changiert ihre verfremdete Stimme zwischen lustvoller Unterwerfung („I am your dog“) und blutiger Rache („I felt the blood drip from my teeth“) und in der Neosoul-Ballade „Knead Bee“ diskutiert sie mit ihrem jüngeren Ich, bis der Song sich wirbelnd um sich selbst dreht. Damit ist klar: Auch musikalisch bleibt es kompliziert, nur einmal gelingt die Imitation des Indierocks der Nullerjahre („Pet Rock“). Zu gern schweift L’Rain ab, pickt sich Rosinen aus Folk, R&B oder Ambient und verklebt sie zu vielschichtigen Collagen. (Daniel Welsch)


5

Kara Jackson

Why Does The Earth Give Us People To Love?

[September]

Wut und energetischer Zorn sind die Eckpfeiler, aus denen das Album der Songwriterin und Poetin Kara Jackson seine Kraft zieht. Lyrische, fragmentarische Skizzen auf der einen Seite, elegische Folksongs auf den anderen. Dazwischen immer wieder unbewusste Annäherungen an die größten ihrer Zunft: Mitchell, Apple, Newsom. Kein Grund, Kara Jackson und ihr fabelhaftes Debüt nicht in den Kanon aufzunehmen. (Carl Ackfeld)


4

Lankum

False Lankum

[Rough Trade]

Radikal, anders, intensiv – Drone Folk, von betörender, kathartischer Wärme, der die traditionellen Songs der Britischen Inseln aufgreift, diese mit archaischem Instrumentarium in die Jetztzeit überführt und nie die historischen Wurzeln verleugnet. Wie ein dunkel dräuendes Soundmonster lockt das Album seine Hörer in ein wunderbares, finsteres Zauberland. (Carl Ackfeld)


3

Sufjan Stevens

Javelin

[Asthmatic Kitty]

Sufjan Stevens hatte wahrlich kein einfaches Jahr, das war in Deutschland, wo er immer noch unter dem Radar fliegt, selbst auf großen Nachrichtenseiten wie Spiegel Online nachzulesen. Wie auch immer „Javelin“ schon von diesen Ereignissen oder deren Vorboten geprägt sein mag: Sein erstes Songwriter-Solo-Album seit „Carrie & Lowell“ ist nicht weniger als ein Meisterwerk zu einer Zeit, in der vielleicht am wenigsten damit zu rechnen war. Knüpft der Opener „Goodbye Evergreen“ gar noch an das bunte „The Age Of Adz“ an, entfaltet der Rest des Albums jene faszinierende Schwermütigkeit, die man von Stevens zwar gewohnt ist, die aber nie nebensächlich wird. Radikale Offenheit, Demut und Zartheit geben einmal mehr den Weg vor. (Felix Lammert-Siepmann)


2

Wednesday –

Rat Saw God

[Dead Oceans]

2023 war ein gutes Jahr für Rock und im Besonderen für Wednesday, die zu Recht weit oben stehen. Die Band aus Asheville, North Carolina, die sich aus einem Song-schreibe-Projekt von Sängerin und Songschreiberin Karly Hartzman entwickelt hat und mit dem Gitarristen Jake Lenderman (aka MJ Lenderman), Lap-Steel-Spieler Xandy Chelmis, Schlagzeuger Alan Miller, Bassist Ethan Baechtold und dem googlefreundlichen Namen inzwischen eine feste Band geworden ist, hat einfach ein gutes Gespür für die Tristesse und Dramen der Vorstadt. Musikalisch verpackt werden diese in shoegazigen Noiserock mit Country-Anleihen, der es schafft, vertraut und frisch zugleich zu klingen. „Rat Saw God“ ist ein forderndes und mitreißendes Album geworden und mit „Chosen To Deserve“ ist der Band zudem einer der Songs des Jahres gelungen. (Mark-Oliver Schröder)


1

Caroline Polachek

Desire, I Want To Turn Into You

[Perpetual Novice]

Es beginnt mit einer Serie von Schreien, wie Tarzan sie nicht besser ausstoßen könnte. Damit ist das Level an Exzentrik für alles folgende direkt gesetzt. „Desire, I Want To Turn Into You“ zeigt Caroline Polachek in der (bisher) besten Form ihres musikalischen Schaffens. Vom philosophischen Blick in den Londoner Sternenhimmel („Butterfly Net“) bis zur tropischen Insel („Welcome to My Island“) dient eine unersättliche Sehnsucht, ein Begehren, das auf die verschiedensten Dinge abzielt und in immer wieder neue Richtungen zeigt, als roter Faden durch die Platte. Während Polachek eins werden möchte mit dieser Sehnsucht, erschafft sie ein Album, das maximalistisch im besten Sinne ist – und trotz allem Aufwand an keiner Stelle bemüht oder angestrengt wirkt. Es präsentiert einen Eklektizismus, der neben Polacheks unnachahmlicher Stimme Anleihen bei so unterschiedlichen Klangwelten wie keltischem Folk, Latinpop, Madonnas ikonischem „Ray Of Light“-Album und 2000er-Radiopop à la The Corrs sucht und findet. So spannt sich ein Bogen von Flamencogitarren („Sunset“) über einen Kinderchor („Billions“) bis zu Dudelsäcken („Blood and Butter“). Und wenn das Vokabular mal fehlt, werden einfach neue Begriffe erfunden: „scorny“, „hopedrunk“, „mythocological“, „wikipediated“. In Form von „I Believe“ und der vollkommen unwahrscheinlichen Vereinigung mit Dido und Grimes im Liquid-Drum’n’Bass-Song „Fly To You“ finden sich dann in der Albummitte die endgültigen Beweise dafür, dass Polachek ein absolut unüberschätzbares Juwel der zeitgenössischen Popmusik ist. (Benedict Weskott)

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