AUFTOUREN 2022Das Jahr in Tönen

Nicht lange drumherum geredet: Es gab 2022 wieder in vielen Ecken herausragende Musik zu finden.
Daraus eine definitiv objektivisch authoritative Rangfolge zu erstellen, überlassen wir für die A.I.-Algorithmen der Zukunft. Vielmehr an dieser Stelle eine Auflistung von Alben, die bei uns auf gemeinsam großen Widerhall stießen.
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Rolo Tomassi Where Myth Becomes Memory [MNRK Heavy] |
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Einer der schönsten Beweise dafür, wie sich eine Band mit genügend Zeit stetig zu vollem Potential entfalten kann. Lagen die Anfänge des Quintetts noch in meist recht typischem Screamo und mathig-chaotischem Hardcore der 00er-Jahre, gelang Rolo Tomassi schon 2012 auf “Astraea” die Synthese mit Synth-Elementen und einer neuen melodischen Harmonik. “Where Myth Becomes Memory” stellt so etwas wie die Krönung der daran anschließenden Albumtrilogie dar, bissig und jazzig, eingängig und atmosphärisch, zart und wuchtig – manchmal auch alles im gleichen Song. (Uli Eulenbruch) |
24 |
Daniel Avery Ultra Truth [Phantasy Sound] |
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Daniel Averys Musik wohnt in Nacht und Nebel. Auf seinem fünften Album haucht er dem Skelett britischer Dance-Traditionen lebendigen Geist ein: Die schimmernde Electronica seiner letzten Werke hüllt er in Knistern und Rauch, greift aber mit halligen Vocals für einen Großteil der Stücke noch weiter, kanalisiert Drones in Breakbeat und streut Stolpersteine aus verrauschtem Trip-Hop. Immer wieder brechen Lichtstrahlen an die Oberfläche, auch in kürzeren ambienten Segmenten, und machen “Ultra Truth” zum vereinnahmenden, überaus physischen Spiel mit atmosphärischen Extremen. (Uli Eulenbruch) |
23 |
Chat Pile God’s Country [The Flenser] |
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Das Quartett Chat Pile aus Oklahoma City kam mit seinem Debütalbum God’s Country dieses Jahr über uns wie ein Killdozer, aufgeladen mit berechtigter Wut. Immer noch und immer wieder müssen Zustände, die leider schon viel zu lange bestehen, schmerzlich thematisiert werden. Warum z.B. müssen Menschen frieren und obdachlos sein, wenn sie doch in den USA in einem der reichsten Länder der Welt leben? Tja, eine zufriedenstellende Erklärung dafür gibt es nicht. Um diese Frustration in Musik zu meißeln eignet sich auch 2022 Noise Rock trefflich, heutzutage auch gerne mal als Sludge Metal gelabelt. Musikhistoriker werden freudig Anleihen bei Scratch Acid und Big Black erkennen, alle anderen können und werden vielleicht eine ganz neue Welt für sich entdecken. (Mark-Oliver Schröder) |
22 |
Oliver Sim Hideous Bastard [Young Recordings] |
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Jeder darf mal ran. The-xx-Bassist Oliver Sim entwirft auf seinem Solodebüt funkelnde Popsongs, die sich mit dem inneren Ich, seiner eigenen HIV-Infektion und emotionalen Ausbrüchen beschäftigen. Doch alles andere als “abscheulich” duettiert er im Quasi-Titelsong mit Jimmy Somerville, lässt in „Romance With A Memory“ Roxy-Music-Momente aufploppen und verdichtet den durchschimmernden Sound seiner Hauptband auf „Hideous Bastard“ zu einem wunderbaren Popalbum. (Carl Ackfeld) |
21 |
Alex G God Save The Animals [Domino] |
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Eingebettet in eine pittoreske Umgebung, ist „God Save The Animals“ mitunter eine wohltuend chaotische Angelegenheit. Fast wie in einem Mixtape tastet sich Alex Giannascoli an unterschiedliche Orte heran und verfolgt sie mal weniger und mal mehr nachdrücklich. „Runner“ könnte so etwas wie der Popsong des Jahres sein, wenig später zelebriert das Album wieder betörenden Slowcore. Zusammengehalten wird das alles von einer warmherzigen Haltung ohne doppelten Boden, die das Gesamtgebilde gleichzeitig auch sehr zerbrechlich erscheinen lässt. Hier dient der Albumtitel nicht nur zu einem beiläufigen Slogan, vielmehr kann er auch als nachdrückliche Mahnung interpretiert werden. (Felix Lammert-Siepmann) |
20 |
The Smile A Light For Attracting Attention [XL Recordings] |
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So richtig mussten sich The Smile unfairen Vergleichen nie stellen. Schon die Vorabsongs von „A Light For Attracting Attention“ machten nämlich schnell klar, dass man sich in eine deutlich andere Richtung als Radiohead bewegen würde. Die kompakten, punkigen und krautigen Momente verdeutlichen den breiten Anspruch auch auf Albumlänge imponierend. Vor allem dank Drummer Tom Skinner bewegt es sich ein ums andere Mal aus der Komfortzone heraus, die die Kombination Yorke/Greenwood vorab vielleicht auf dem Papier hätte erwarten lassen. Übertroffen wir die Intensität noch einmal von der am Ende des Jahres veröffentlichten Live-EP. (Felix Lammert-Siepmann) |
19 |
Nilüfer Yanya PAINLESS [ATO] |
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Nach ihrem erfolgreichen Debütalbum „Miss Universe“ hätte Nilüfer Yanya sich mit breitwandigem Rocksound und auf Eingängigkeit getrimmten Songs bei großen Festivals anbiedern können, aber sie hat sich für Konsistenz und ein deutliches Bekenntnis zu ihren Eigenheiten entschieden. Aus Postpunk, Indierock, Shoegaze, Indiepop und weiteren Töpfen bedient sich Yanya, um darüber und dazwischen mit ihrer einzigartigen Stimme Geschichten über Einsamkeit, gebrochene Herzen und die Heilungskräfte der Zeit zu erzählen. Das bleibt hängen, berührt und zeigt zum zweiten Mal, dass mit ihr weiterhin zu rechnen sein wird. (Benedict Weskott) |
18 |
Carla dal Forno Come Around [Kallista] |
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Eine wehmütig nach unten gezogener Zweitonfolge, ein Sog aus molligem Basslauf und angeknackster Drum Machine, synthige Einwürfe: Carla dal Fornos drittes Album wirft seine Schatten voraus, die Stimme hinterher. Frei nach dem Motto “Erst das Ambiente, dann der Song” wächst, gerade in der Wahl ihrer Soundpalette, eingangs Unscheinbares durch Repetition und punktuelle Auflockerung auf “Come Around” immer wieder zu eigenwillig emotionalem Pop. Nicht zu unterschätzen ist dafür dal Fornos Stimme, die inmitten zerklüfteter Landschaften Wärme aufkeiomen lässt. (Uli Eulenbruch) |
17 |
Panda Bear & Sonic Boom Reset [Domino] |
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Das diesjährige Animal-Collective-Album war stark, „Reset“ in bestimmten Situationen sogar noch etwas überzeugender. Noah Lennox, der 2022 nebenbei auch durch etliche Gastauftritte glänzte, liefert hier gemeinsam mit Peter Kember ein treibendes Sommeralbum ab, bei dem die Einflüsse der portugiesischen Wahlheimat der beiden aus jeder Pore hervorquellen. „Reset“ stochert tief in der Vergangenheit, teilweise der Ära vor den Beach Boys, krallt sich Samples und übersetzt sie von dort gerechnet drei Jahrzehnte in die Zukunft. Nicht weiter wohlgemerkt – eine gute Entscheidung, denn eine zu große Annäherung an die Gegenwart hätte gewiss ein Stück der verklärenden Magie zunichte gemacht. (Felix Lammert-Siepmann) |
16 |
Warpaint Radiate Like This [Heirlooms] |
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„Radiate Like This“ hätte schnell fertig und bereit zur Veröffentlichung sein können, aber dann kam die Pandemie dazwischen und Warpaint arbeiteten getrennt voneinander in ihren Heimstudios weiter an den Songs, indem sie sich Demos hin- und herschickten. Dieser Schritt zurück und die einsame Arbeit an den Songs schlägt sich auf der Platte im besten Sinne nieder. Text und Musik wirken so ungefiltert und authentisch wie nie, die immense Liebe zum Detail zeigt sich in der Produktion überall. Und nicht zuletzt schafft der augenzwinkernde Humor in Songs wie „Send Nudes“ und „Proof“ eine Nahbarkeit und Lockerheit, die der Band perfekt steht. (Benedict Weskott) |
15 |
Craig Finn A Legacy Of Rentals [Positive Jams] |
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Mehr denn je betätigt sich Craig Finn als Geschichtenerzähler und das steht ihm wieder richtig gut. Die Herzlichkeit, mit der er den Hörer von der ersten Sekunde an in Empfang nimmt, ist in schwierigen Zeiten wie diesen wirklich wohltuend. Ausladende Bläser sucht man im Gegensatz zu seinen letzten Alben vergeblich, der abbremsende Soundteppich gerät zu Gunsten des Wortes in den Hintergrund. Finn erinnert sich an Menschen, die irgendwann mal in seinem Leben aufgetaucht und dann wieder verschwunden sind, darunter an solche, die direkt einem Film entsprungen sein könnten. Allen voran „The Amarillo-Kid“, ein eigentlich unbedeutender Kleindealer, der hier in viereinhalb Minuten so komprimiert eine Bühne bekommt, dass keine Fragen mehr offenbleiben. (Felix Lammert-Siepmann) |
14 |
Julia Jacklin PRE PLEASURE [Transgressive] |
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Langsam, aber dafür mit unnachahmlicher Art und Verve hat die Australierin die Spitze des Songwriting-Gipfels erklommen und sich mit ihrem dritten Album klar auf eben jenem bequem gemacht. Akustischer Pop mit Aussagen, die vom eigenen Herzen auf die gesamte Zuhörerschaft zielen und dabei immer wieder Fokus und Zielsetzung verschieben. Mal mit den vertrauten Streicherklängen Owen Palletts verziert, dann wieder nur von ein paar Piano-Punkten unterstützt, singt Jacklin über Befremdliches, Freundliches und allzu Menschliches. (Carl Ackfeld) |
13 |
Anadol Felicita [Pingipung] |
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Ließ sich “Uzun Havalar”, das 2019er Debüt von Anadol, noch ungefähr mit den Koordinaten Krautrock und psychedelischem Pop umreißen, vermengt “Felicita” nun die Stil- und Spielweite unüberschaubar. Mehr Tiefe, mehr Schrägen wagt Gözen Atila mit ihren jazzigen Mitspielern, wie wenn “Eciflere Gel” im Dämmerlicht über melodiöse und perkussive Einwürfe konstant mutiert, ohne die Contenance zu verlieren. Immer wieder sind dann diese Melodien da, die aufhorchen lassen, sei es im so coolen wie kurzen “Ablamın Gözleri” oder im ausladenden “Gizli Duygular”, das vertraut losplätschert und so langsam in zunehmend unsichere Gewässer mitzieht. (Uli Eulenbruch) |
12 |
Alvvays Blue Rev [Transgressive] |
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Wer einen Song “Tom Verlaine” nennt und dann eine Gitarre aufbringt, die ebenso schlank und flexibel klingt wie zu erwarten, sollte lieber auch eine Melodie parat haben, die diesem Titel gerecht wird. Doch wenn es Alvvays an einem nicht mangelt, dann sind das Melodien: Ob in der treffsicheren Stimme Molly Rankins, im Zusammenspiel mit Synth oder Saiten, auf seinem herausragenden dritten Album gelingt dem Quintett ein Ohrenschmeichler nach dem anderen. An Television wird “Blue Rev” allerdings nur stellenweise erinnern, denn mehr denn je finden Alvvays Glücksal wie Wehmut in Schall und Rauschen, wenn Rankins Gesang durch meterdicke Gitarrenwände schneidet oder selbst der allgemeinen Effektverzerrung anheim fällt. (Uli Eulenbruch) |
11 |
Leikeli47 Shape Up [Hardcover LLC] |
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„I want every single quarter, penny, nickel, and dime.“ Leikeli47 singt diese Zeile fast zärtlich, steht aber trotzdem mit dem Baseballschläger vor der Tür, um ihr Geld einzufordern. Sobald der Beat einsetzt, ist es vorbei mit der Zurückhaltung. Vor allem in den ersten fünf Songs haut die Rapperin aus Brooklyn Punchlines und viel Selbstbewusstsein über Instrumentals, wie sie die Neptunes in ihrer kreativsten Phase in den Nullerjahren für Clipse oder Kelis produziert haben. Danach streckt „Shape Up“ seine Fühler in viele musikalische Richtungen aus, auf zuckrigen Schlafzimmer-R&B („Done Right“) folgt Hip House („BITM“) oder eine beeindruckend gesungene Akustikballade („Hold My Hand“). Vier Jahre nach ihrem letzten Album „Acrylic“ fühlt sich Leikeli47 in jedem dieser Genres pudelwohl. Obwohl die Musikerin nur mit Maske auftritt und anonym bleibt, strotzt jede ihrer Zeilen vor Persönlichkeit. (Daniel Welsch) |
10 |
Richard Dawson The Ruby Cord [Domino] |
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Der Zausel beendet seine musikalische Reise durch die Zeit mit einem gigantischen Werk. Sci-Fi-Themen treffen auf mittelalterlichen Minnesang und die ohnehin oft genutzte Kopfstimme wird an den neuralgischen Punkten des Albums gewinnbringend eingesetzt. Die erste „Single“ mit ihren gut 40 Minuten Spielzeit braucht auf jeden Fall den einen oder anderen Hördurchgang, um jede noch so kleine Nuance aufzunehmen. Die nachfolgenden Songs sind da ohrenschmeichelnder, aber nicht dass es zum Beispiel dem flüsternden „Museum“ dabei an Substanz und Tiefe fehlen würde. (Carl Ackfeld) |
9 |
Beach House Once Twice Melody [Sub Pop] |
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Man kann es drehen und wenden, wie man will, Beach House zählen längst zu den etablierten Größen in ihrem Genre und darüber hinaus. Da mag es mühsam sein, sich immer wieder für neue Musik zu motivieren – vielleicht auch ein Grund dafür, dass zumindest bei der Veröffentlichung von „Once Twice Melody“ ein anderer Weg gegangen wurde: Unterteilt in vier Kapitel, die vorab jeweils einzeln veröffentlicht wurden (die ersten beiden noch 2021), als Gesamtergebnis ein überwältigendes Werk mit fast 90 Minuten Spielzeit und einigen ihrer stimmungsvollsten Songs überhaupt („Once Twice Melody“, „Superstar“). (Felix Lammert-Siepmann) |
8 |
Jenny Hval Classic Objects [4AD] |
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Wie ein warmer Sommertag auf einer Terrasse an der Amalfiküste umarmt „Classic Objects“ nicht nur die Ohren, sondern den ganzen Körper. Jenny Hval beschreibt in ihrer ganz eigenen Sprache und auf unnachahmliche Weise kleine und große Momente, in denen immer wieder Magie und Hexerei mitschwingen. Und noch nie war das so unmittelbar zu fühlen und zu erleben wie auf diesem Album. Neben Geschichten über ihre Geburt („American Coffee“), nachdrücklichen politischen Statements („Freedom“), Gedanken zu Heirat und Patriarchat („Year Of Love“) und Utopieentwürfen („The Revolution Will Not Be Owned“) bleibt von dieser Platte ein Gefühl zurück, das schwer in Worte zu fassen ist: seltsam vertraut und gewohnt undurchschaubar. (Benedict Weskott) |
7 |
Birds In Row Gris Klein [Red Creek] |
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Für Birds In Row war die Welt schon vor der Corona-Pandemie und den anderen Krisen der letzten Jahre verloren. „We Already Lost The World“ hieß das zweite Album vor vier Jahren, doch diese Erkenntnis hat das Trio aus Frankreich nicht zu Nihilisten gemacht. Zwar kann man sich Birds In Row eher schlecht mit Partyhütchen im Konfettiregen vorstellen („Confettis“), dennoch ist die Botschaft der Post-Hardcore-Band bei aller Wut und Aggression auch auf dem dritten Album eine positive der Solidarität. Wie bei Touché Amoré und anderen verwandten The-Wave-Bands werden hier die Schürfwunden und Narben nicht gezeigt, um zu beweisen, wer der oder die Härtere ist. Stattdessen ist „Gris Klein“ kollektives Wundenlecken als gemeinschaftsbildende Maßnahme. Und das ganz ohne billig-anbiedernde Tricks: auch bei Songs jenseits der Sechs-Minuten-Marke verzichtet das Trio auf Postrock-Crescendos oder hymnische Refrains, sein Hardcore bleibt vertrackt und kompliziert wie das Leben. Die Welt ist verloren, aber wir haben immer noch uns. (Daniel Welsch) |
6 |
Jockstrap I Love You Jennifer B [Warp] |
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Der wohl beste idiosynkratische Pop-Entwurf 2022 kam nur allzu passenderweise auf Warp Records heraus. Was für merkwürdige Momente sich davon nur im Gedächtnis einnisten: der, wo am Ende von “Angst” Georgia Ellerys Stimme per Autotune wie von einer Naturgewalt wild durch Zeit und Raum geworfen wird; der, wo in “Concrete Over Water” gebellartige Lichtdolche über den ratternden Beat und das flitternde Arpeggio stechen; der, wo sich “Neon” ganz intim angenähert hat und plötzlich eine Wall Of Noise aufbraust; der, wo in “Greatest Hits” über zermatschter Drum Machine und Laserfeuer ein ungemein souliges Vocal-Loop aufzieht. “I Love You Jennifer B” ist präzise komponierte Musik, die vor lauter Emotion wie außer Kontrolle wirkt. (Uli Eulenbruch) |
5 |
FKA twigs CAPRISONGS [Young Recordings] |
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Das Label „Mixtape“ nimmt Druck raus. Zweieinhalb Jahre nach dem kunstvollen „MAGDALENE“ veröffentlicht FKA twigs kein neues Album, sondern nur ein Mixtape. Die Formel hinter „CAPRISONGS“: Mit Freund*innen ins Studio, den Beat laufen lassen, Spaß haben. Diesen Eindruck will die 34-jährige Sängerin zumindest mit vielen Studiogästen wie Jorja Smith, Shygirl oder Pa Salieu und scheinbar zufällig mitgeschnittenen Gesprächen zwischen den Songs vermitteln. Wie der Vorgänger dreht sich auch „CAPRISONGS“ um Spiritualität, nimmt das Thema aber weniger ernst als das sakrale „MAGDALENE“. Passend dazu ist der Titel des Mixtapes zwar eine Anspielung an Sternzeichen, weckt aber vor allem Erinnerungen an die bunten „Capri-Sonne“-Trinktüten aus der Kindheit. Wenn FKA twigs in 48 Minuten mit Dancehall, Afrobeats, Drill und Hyperpop jongliert, wird klar, dass es beim Label „Mixtape“ gar nicht um Erwartungsmanagement geht. Vielmehr steht das Mixtape für genau die Qualitäten, die auch perfekten Pop auszeichnen: es ist freier, verspielter und schert sich nicht um das Gesamtwerk, sondern immer nur um den einen perfekten Moment. (Daniel Welsch) |
4 |
Fontaines D.C. Skinty Fia |
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Das Ungestüm ist vorbei, Fontaines D.C. leisten auf ihrem dritten Album dennoch Schwerstarbeit. Das Erzähltempo bleibt gemächlich wie auf „A Hero’s Death”, die Tiefe der Texte steigt jedoch noch einmal deutlich an. Ob aufgerissene Post-Punk-Parabeln über irische Gastarbeiter in Großbritannien, ein gälisches Mantra als Auftakt oder die enorm eingängige erste Single „Jackie Down The Line“ – die Iren behaupten sich auf „Skinty Fia“ als bestmögliche musikalische Unruhestifter. (Carl Ackfeld) |
3 |
Shygirl Nymph [Because Music] |
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Ein Debütalbum ist für einige ja heute fast schon überflüssig, wo im Musikmarkt mittlerweile vor allem Menge und Frequenz der Veröffentlichungen zählen. Shygirl hat sich lange von Single zu Single zu Kollaboration zu EP gehangelt und dabei immer wieder ihren charakteristischen Entwurf von sexy Future R’n’B mit massiver 2000er-Ästhetik ausgefeilt. Aber mit „Nymph“ beweist sie jetzt auch auf Albumlänge, welche Bandbreite in ihr steckt und feiert zwischen Heartbreak („Firefly“), lasziven Ohrwürmern („Nike“, „Coochie“) und Dancefloor-Bangern („Poison“) ihren Körper und ihre Sexualität. „Hello? Is anyone there? It’s the coochie calling!“ (Benedict Weskott) |
2 |
SOUL GLO Diaspora Problems [Epitaph] |
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Alles! Muss! Raus! Während der zwölf Songs von „Diaspora Problems“ presst Jordan Pierce mehr als 5.000 Worte aus seinem geschundenen Körper, rattert dabei eine schier endlose Liste von Reklamationen auf: Seine Psyche: kaputt! Gesundheitssystem, Polizei und Justiz der USA: kaputt! Die Musikindustrie: kaputt! Der Kapitalismus: kaputt, aber alive and kicking! Alles, was man über den Hardcore-Punk des Quartetts aus Philadelphia wissen muss, steckt im Songtitel „Jump!! (Or Get Jumped!!!)((by the future))“. Die fünf Ausrufezeichen stehen für die Energie und Kompromisslosigkeit des Sounds, bei dem sich ein Ausflug in verrauschten Noise-Rap bei „Driponomics (feat. Mother Maryrose)“ erholsam anfühlt, die eingeklammerten Ergänzungen für die endlosen Wordkaskaden und den Humor von Pierce. Natürlich endet solche eine Naturgewalt nie, der Orkan zieht nur weiter: „Diaspora Problems“ fadet nach knapp vierzig Minuten langsam aus, lässt die Hörer*innen atemlos und ziemlich durchgepustet zurück. (Daniel Welsch) |
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Black Country, New Road Ants From Up There [Rough Trade] |
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Mit “Ants From Up There” hat die Band aus London schnell einen Nachfolger für ihr erst 2021 veröffentlichtes Debüt nachgelegt – und was für eines. Es vereint im Grunde alles, was wir am Vorgänger geliebt haben: Post Rock, Klezmer, Experimaltalrock und Krach, alles zusammengehalten vom zittrigen, aber immens präsenten Gesang von Isaac Wood. Ein fokussierterer und grandioser Nachfolger, der erahnen lässt, wie viel Potential hier noch schlummert. Dennoch haftet dem Album das Etikett “Schwanengesang” an, denn Wood verkündete schon kurz vor Veröffentlichung, dass er die Band verlässt. Black Country, New Road machen das Beste aus der schweren Situation, touren ohne ihn und die Gesangsparts werden auf mehrere Schultern verteilt. Noch existiert die Band weiter, vielleicht gibt es noch weitere Alben. Sie werden sich an diesem Werk messen lassen müssen. (Mark-Oliver Schröder) |