Tocotronic: Im Blick zurück entstehen die Dinge

Weshalb gibt es Tocotronic noch? Was ist das Erfolgsrezept? Das dreizehnte Studioalbum „Nie Wieder Krieg“ der deutschen Indie-Rock-Institution Tocotronic handelt von Verwundbarkeit, seelischer Zerrissenheit sowie Angst im Zeichen der absoluten Einsamkeit und wagt dennoch den positiven Blick nach vorne. Es ist eines ihrer schönsten Alben geworden. Anlässlich des fast 30-jährigen Bestehens der aktuell wichtigsten deutschen Band ist nun auch die Zeit gekommen, auf das Gesamtwerk der Gruppe zurückzublicken.

Wo hat uns die Gruppe Tocotronic im Laufe ihrer seit 1994 währenden Karriere schon überall hingeführt. Sie lieferten uns Slogans für die Jugendbewegung, dargeboten in gelben Trainingsjacken und Cordhosen. Mit „Digital Ist Besser“ gelang 1995 der Durchbruch, der Pop-Feuilleton sprang begeistert auf den in Deutschland bisher unbekannten Zug auf. Die Angst vor Vereinnahmung seitens der Band war groß, als die Jugendbewegung der intellektuellen Eckensteher auf Stil und Haltung der Gruppe mit großer Konformität reagierte. In einem Podcast mit dem ehemaligen Viva-Moderator Nils Bokelberg sagte Sänger und Texter Dirk von Lowtzow aus, dass die Band eh immer schon als Kunstprojekt angelegt worden sei, die Versatilität also seit frühestem Bestehen bereits in der Band-DNA eingeschrieben ist. Ende der 1990er wurde es dann inhaltlich und musikalisch abstrakter. Ein paar Kenner der ersten Stunde (die ihre Trainingsjacken bis heute nicht ablegen möchten) wandten sich ab, viele blieben auch, neue Anhänger kamen hinzu.

Der Mut zur Evolution

Die Texte von Lowtzows wurden versponnener, er führte seine Hörer nun in den Märchenwald, auf den achten Ozean, tanzte den Tanz des Lebens und beobachtete in den Adern des Holzes Gesichter. Eins zu eins war vorbei, Ankerpunkt waren nicht mehr die tagebuchartigen Berichte aus der Gefühls- und Wertewelt des ehemaligen Jurastudenten, sondern eine assoziative und interessantere Sprache, welche letztlich mitverantwortete, dass Tocotronic über den verhassten Bedeutungsraum der Hamburger Schule hinaus neue Identitäten ausprobieren konnten. Auch musikalisch öffnete sich die Band, ohne das weite Feld der Rockmusik je ganz zu verlassen: Die Referenzpunkte waren zunehmend nicht mehr Sonic Youth und die von Kapellmeister von Lowtzow obsessiv geliebten Hüsker Dü oder The Gun Club, sondern verschoben sich in Richtung Prefab Sprout oder Roxy Music.

Zu den Aufnahmen des sogenannten „Weißen Albums“ (2002) stieß der Amerikaner und vormalige Roadie Rick McPhail als viertes Gruppenmitglied hinzu, steuerte zunächst Keyboardflächen zu den zunehmend ausgefuchsten, ja kunstsinnigeren Arrangements bei und verlieh den Folgewerken ab „Pure Vernunft Darf Niemals Siegen“ (2005) über dessen Trademark der flüssigen Gitarrenlinie eine nicht gekannte Schönheit. Das Spiel mit der Sprache wurde, vom vergleichsweise konkret gehaltenen Meisterwerk „Kapitulation“ (2007) abgesehen, in der Folge exzessiv betrieben.

Der Klang der Worte stand im Vordergrund und mit jeder neuen Platte traten neue Wortwelten und Umgebungsräume in die Welt der mitunter auch überforderten Hörerschaft. Die Sprache als Interpretationsangebot, mal martialisch aufgeladen und ausufernd wie auf dem wieder rockistischeren »Schall Und Wahn« (2010), dann wieder fragil romantisch wie auf dem „Roten Album“ von 2015.

Was immer galt und bis heute gilt: Der Gruppe sind Selbstvergewisserungsgesten und Männerbündelei glücklicherweise immer noch fremd geblieben, auch die Verwaltung des Status Quo gibt es bei Tocotronic nicht. Dirk von Lowtzow ist immer noch der Maniker, der sich in stundenlangen Selbstgesprächen rauchend auf dem Balkon Konzepte und Texte für neue Alben ausdenkt, das lyrische Ich auf den Platten ist suchend und unsicher, tendenziell steht es mit dem Rücken zur Wand, keinesfalls aber in Siegespose auf dem Podest. Tocotronic sind also nicht zu Motörhead oder den Rolling Stones geworden, sondern können sich selbst noch überraschen. Nachdem die Gipfel der Abstraktion vor allem in sprachlicher Hinsicht erklommen waren, wurde der Weg der erneuten Reduktion beschritten.

Hamburger Anfänge

Redigiert werden die Texte von Lowtzows seit jeher von Bassist Jan Müller. So sind Tocotronic eben kein klassisches Songwriting-Duo, eher ein Gespann, das sich seit Hamburger Tagen zu Beginn der 90er kennt. Los ging die Erfolgsgeschichte, als der aus Offenburg stammende von Lowtzow nach Hamburg zog, um sich dort für eine Art linkes Jura, Jura 2 genannt, einzuschreiben. Innerhalb der ersten Woche erblickten sie einander, Jan Müller mit einer Plastiktüte in der Hand, und wirkten nach Eigenaussage ziemlich verloren. Müller brachte Arne Zank (Schlagzeug) da bereits mit ein, die beiden kennen sich aus frühen Hamburger Schultagen. Ist Müller also das notwendige Korrektiv, um Hauptsongwriter und Sänger von Lowtzow (nur in frühen Tagen trat auch mal Zank ans Mikro) vor dem Elfenbeinturm und der zu großen Vereinnahmung durch den Pop-Feuilleton zu bewahren?

Vielleicht taugten Tocotronic aber auch nie für offen ausgelebten Narzissmus. So werden die Bandeinnahmen seit Anbeginn immer brüderlich auf alle Mitglieder aufgeteilt – offenbar ein gutes Mittel der Problemprävention. Sicherlich förderlich ist auch, dass jedes der Mitglieder immer auch in anderen Projekten aktiv gewesen ist. Zuletzt hat Jan Müller den sehr erfolgreichen Podcast “Reflektor“ ins Leben gerufen, ein Format, das ihn in gut vorbereiteten und vor allem empathischen Gesprächen mit Musikern und Künstlern zeigt, die teilweise sehr deutlich vom tocotronischen (Sound)-Kosmos abweichen. Doch wir waren eingangs bei der Reduktion: Nachdem das Album „Die Unendlichkeit“ (2018) als eine Art Autobiographie (mit fiktionalen Elementen) verstanden werden sollte, ist es eine Erzählung von der Vergangenheit, die ins Hier und Jetzt zeigt, sprachlich klarer und nahbarer als die wortgewaltigen Platten davor. Voller popkultureller Referenzen lieferte das Album letztlich die Vorlage für die ebenso schräge wie humorvolle Enzyklopädie ihres Sängers, „Aus Dem Dachsbau“ (2019).

Liebe als Gegenangebot

Nach Abschluss einer ausgiebigen Lesetour sollte schnell die neue Platte entstehen. Es vergeht immer wenig Zeit zwischen neuen Werken von Tocotronic, maximal sind es 3 Jahre. Durch Corona kam es zu einem ungewöhnlich langen Veröffentlichungsstau, die Aufnahmen waren zum Großteil schon vor der Pandemie fertiggestellt. Die Platte erscheint nun vier Jahre nach dem letzten Album der Gruppe und zeigt eindrucksvoll, warum Tocotronic auch im Jahr 2022 genauso relevant wie spannend sind. Der ganz große konzeptionelle Überbau ist diesmal nicht im Zentrum, es ist der Blick auf das Individuum, auf menschliche Versagensängste, Schwäche und Zerrissenheit. Die adressierten Gefühlswelten lassen sich, wenn auch nicht zwangsläufig intendiert, auf die unsichere Gegenwart anwenden. Die Aussicht, dass nichts sicher ist und nichts von Dauer, die Dämonen der Vergangenheit stets anklopfen können, das sind die fragilen Narrative der Platte. Dass dennoch Platz für Hoffnung bleibt und im Abschluss-Song „Liebe“ eben diese universelle Kraft als entwaffnendes Gegenangebot gegenüber der aus Unsicherheit geborenen Selbstdemontage steht, ist eine genauso simple wie anrührende Utopie.

Tocotronic hüllen den Erzählbogen der Platte, der vom Krieg gegen sich selbst (naiver Polit-Aktionismus verbirgt sich also nicht hinter dem Albumtitel) bis zur erwähnten Klimax im letzten Stück reicht, in ein oft melancholisches, mal treibendes Sounddesign. Dabei erlauben sie sich mittlerweile einige selbstreferentielle Momente, die aber nie in Selbstgefälligkeit münden. Die Evolution spielt bei Tocotronic immer auch mit. Eine Klavierballade wie im eröffnenden Titelsong, in dem der tiefe Bariton von Lowtzows nicht frei von Pathos über zynische Gebete sinniert und ein Chor nach den Sternen greift, gab es im tocotronischen Kosmos bisher nicht. Die Exaltiertheit und die große Geste sind sicher nicht jedermanns Sache, dass die Band aber nicht um jeden Preis gefallen will, macht sie sympathisch. Übertreibungen hat von Lowtzow immer schon gerne als Stilmittel eingesetzt, genauso wie verschrobenen Humor, der sich auf der Platte vor allem im Stück „Ich Hasse Es Hier“ in einer Textzeile manifestiert, in der er das Verlassenwerden aufgrund einer endenden Liebe so darstellt: „Wie eine Pizza, die man aufzupeppen versucht, mit Kräutern der Provence habe ich keine Chance“. Polarisiert haben Tocotronic immer schon, spätestens, seit sie ihre Cordhosen ablegten und zugunsten der künstlerischen Emanzipation verwirrte Frühwerk-Nostalgiker zurückließen.

Berührende Schönheit

Ende 2021 war Dirk von Lowtzow im wohl bekanntesten deutschen Erzählpodcast „Hotel Matze“ zu Gast (Gastgeber ist Matze Hielscher, ehemaliger Bassist der Band Virginia Jetzt! und mittlerweile erfolgreicher Medienunternehmer) und gab dort Auskunft über die veränderte künstlerische Perspektive: „Man wird anspruchsvoller“, hat von Lowtzow den veränderten künstlerischen Schaffensprozess im Vergleich zu früher charakterisiert. „Das Schönste sei doch, wenn einen ein Stück zum Weinen bringt“. Die Losung, mit maximaler Geste maximale Gefühle auszulösen, gelingt der Gruppe hier auf einigen Stücken so gut wie noch nie. Wenn in „Ein Monster Kam Am Morgen“ Streicher aufziehen und nichts mehr herbeigesehnt wird als Berührbarkeit, dann muss man schon mal schlucken. Die Wassermusik von „Ich Tauche Auf“ ist ein ebenso gutes Beispiel für große Gefühle: Hier umkreisen sich zwei Seelen, die nicht zueinander finden. Schlussendlich spielt die Platte alle Stärken von Tocotronic (Eigensinn, Pathos, Offenheit) eindrucksvoll aus, insgesamt zählt das Album zu den berührendsten ihrer Karriere. Es ist toll zu sehen, wie die Band uns und sich selbst immer noch auf so hohem Niveau überraschen kann. Das ist dann wohl der Nährboden für ewige Liebe.

Über den Autor
Kai Wichelmann, Jahrgang 1987, lebt mit seiner Familie in Köln. Der studierte Wirtschaftspsychologe arbeitet in Düsseldorf und veröffentlicht freiberuflich Texte über Musik und Popkultur. In der Vergangenheit erschienen Texte für Rolling Stone, Musikexpress, INTRO und Classic Rock.

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