New Order in München: „Why don´t you piss off?“

50 Jahre „Abbey Road“. 25 Jahre „Definitely Maybe“. Und natürlich 40 Jahre „Unknown Pleasures“, das Debütalbum von Joy Division. Was britische Gitarrenmusik angeht, ist 2019 das Jahr der Jubiläen. New Order, der Nachfolgeband von Joy Division, passt das gut ins Konzept: Vor kurzem erschien ein semi-spektakuläres Live-Album, aktuell touren Bernard Sumner und Co. mit Support aus China quer durch Europa. Am 5. Oktober spielte die Gruppe aus Manchester in der Philharmonie des Münchener Gasteig. Nostalgisch-triste Geburtstagsparty? Oder vielmehr rare Chance, die unverminderte Relevanz der Postpunk- und New-Wave-Ikonen live zu erleben? Ein Rückblick auf die Show.

Kein Klassiker als erster Titel: Den Auftakt machte ein düster-verzerrtes „Singularity“. Schnell zeigte sich, wie schon auf dem trotzdem empfehlenswerten Benefiz-Album „Live At Bestival 2012“, dass Bernard Sumner live nicht immer ein ausgesprochen versierter Sänger ist. Kein großes Geheimnis, er lieferte lediglich solide ab. Aber auch wenn seine Stimme diesen Abend mehr als einmal etwas zu dünn klingen sollte, alles war entschuldigt. Dieser Typ hat uns mit Peter Hook und Co. schließlich Alben wie das Postpunk-Zeremoniell „Movement“ beschert und auf „Power, Corruption, Lies“ Gitarrenmusik mit Electronica verlobt. Diesen Abend gab er sich eher wortkarg, meidete große Ansagen oder zuviel Pathos. Trotzdem wirkten New Order nie routiniert oder lustlos. Von wegen: Später schmiss Sumner sogar ein Plektrum ins Publikum. Man sah es auch vom Oberrang aus: Die Band hatte an diesem Abend Bock, selbst wenn sie mit „Restless“ ein Stück über akute Bock- und Rastlosigkeit spielte. Überhaupt stand das letzte reguläre Studioalbum von 2015 klar im Fokus, das 2016 nochmal als Sammlung clubbiger Extended Versions erschien. Nostalgie klang so noch einmal anders: Insgesamt standan fünf Stücke aus „Music Complete“ in München auf der Setlist, nach der später noch die Pilgerschaft brüllen würde. Ein Ritual, das die MitarbeiterInnen der Philharmonie noch nicht kannten.

Blick von oben

Dann drückte die Band aber doch zum ersten Mal auf den Nostalgieknopf. „Disorder“ erklang, das Eröffnungsstück von „Unknown Pleasures“ – bis zum Sommer 2017 hatten es New Order knappe 30 Jahre lang nicht gespielt. Dementsprechend krass fiel die Euphorie im pompös-schicken Zuschauerraum raus, in den man leider kein Bier reinnehmen darf. Egal. Auf der Leinwand: Unter anderem Ausschnitte aus dem Doku-Film „B-Movie“, der die Achtziger in Berlin zu Mauerzeiten nach subkultureller Szenerie scannt. Logo, dass bei dem auch New Order als Techno-Vordenker mitmischten. Das hört man heute wieder raus, vor allem, als das elektronisch-fiebrige „Subculture“ von „Low-Life“ gezockt wird ­­– jener Platte, die New Order groß in den USA machen sollte. Auf dem Cover: Nicht Sumner, sondern Drummer Stephen Morris (auf dem Cover von „Get Ready“ sieht man Nicolette Krebitz abgelichtet). Nur eines von vielen Beispielen, wie New Order gängige Rockband-Logiken ausspiel(t)en.

Auch sympathisch: Sumner muss sich live nicht in den Vordergrund drängen. Ebenso muss man bei New Order keine Angst vor unsäglichen, makabren politischen Statements (siehe Morrissey) oder verbalen Entgleisungen gegenüber alten Bandmitgliedern haben (leider keine Selbstverständlichkeit bei in die Jahre gekommenen, britischen Acts). Bei New Order waren hingegen alle gleich wichtig: Keyboarderin Gillian Gilbert, besagter Morris sowie Gitarrist Phil Cunningham und Bassist Tom Chapman. Alles „Tutti Frutti“ – auch das funktionierte mit seinen geglätteten House-Vibes und Liebesgrüßen aus der Italo-Disco. Will sagen: Bei New Order klappt es auch ohne zuviel Retrospektive. Beim zeitlos guten „Bizarre Love Triangle“ wünschte ich mir dann jedoch, früher geboren zu sein. Sumner tänzelte im Lichtkegel, verneigte sich später sogar in seinem schwarzen „Unknown Pleasures“-Shirt (Mini-Aufdruck). Ob Bass-Mastermind und Gründungsmitglied Peter Hook dem Klangbild heute spürbar fehlt? Enthaltung, diese Band habe ich mir rückwärts erarbeitet. Aber ich bin mir sicher, dass diverse Alben von M83, MGMT, 65daysofstatic und vielen mehr ohne den Einfluss von New Order anders geklungen hätten.

Vergessen sei nicht die junge, sechsköpfige Vorband Stolen: Elektronisch infizierter Postpunk aus Chengdu, der den Geist von New Order ebenfalls inhaliert hat und bereits von dem Trance-Experten und B-Movie-Protagonisten Mark Reeder gemanagt und geremixt wird. Mit ordentlich Ärger im Bauch und Synthesizer-Modulen im Kopf nutzte die Band ihren großen Platz im Zeitplan aus, auch deshalb verkam der Abend nicht zum reinen Nostalgie-Event.

Blick von der Seite

Zurück zu New Order: Das Keyboard bei „True Faith“ klang leider nach Handyklötzen mit polyphonem Klingelton. Da wäre mehr Eleganz drin gewesen, dem Vitamin String Quartet gelang schließlich mal eine Streicher-Interpretation des besagten Stücks. Egal, ausgerechnet bei „Blue Monday“ dann aber ein Schnitzer: Bernard Sumner verließ aus unerfindlichen Gründen die Bühne und erschien erst zur zweiten Strophe wieder. Irgendwie ja Punk, auch wenn das vermutlich nicht als Verweigerungsgeste gemeint war. Amüsant auf jeden Fall: Gerade bei diesem überlangen Club-Track, bei dem die DJs dieser Welt endlich mal ohne Blick auf die Uhr Pinkelpause machen können, verpasste Sumner also seinen Einsatz. Wie hieß es noch im 1983 veröffentlichten „Your Silent Face“: „You´ve caught me at a bad time, so why don´t you piss off?“ Britische Höflichkeit halt. Kann ja wirklich mal passieren. Jenes romantische Stück wurde übrigens wunderschön dargeboten, es erinnerte an Kraftwerk und könnte live auch locker als New-Wave-Kurzfibel durchgehen.

Am Ende dann doch nochmal der Nostalgie-Knopf: New Order spielten zuletzt „Atmosphere“ und das Anti-Liebe-Liebeslied „Love Will Tear Us Apart“ (in Berlin gab es kaum Abweichungen von der München-Setlist, nur in Prag wurde deutlich mehr gezockt). Aber Stadion-Rock? Wollen und können New Order nicht. Beruhigend. Jetzt hätte ich gerne noch eine Setlist gehabt, war aber viel zu weit weg und andere schneller. Dafür tippte mich ein Mann an und schenkte mir das Plektrum von Sumner. Falls Sie gerade mitlesen sollten: An dieser Stelle nochmal herzlichen Dank dafür! Und natürlich auch noch Glückwünsche an New Order!

New Order spielen am 17. Oktober im AFAS Live, Amsterdam das letzte Konzert ihrer Europatour

Einen Kommentar hinterlassen

Platten kaufen Links Impressum