Primavera Sound 2017I'm walking on concrete

Spanisches Indie-Mekka mit 9 Buchstaben, ugs.? Primavera; offiziell: Primavera Sound. Soeben 16 Jahre alt geworden und heftig pubertierend. Im Jahr 2001 mit süßen 19 Bands und 7700 Gästen gestartet. Headliner damals: UNKLE, Carl Craig und Armand Van Helden! Ja, das ist in vielerlei Hinsicht lange her. In diesem Jahr hießen die Höhepunkte Arcade Fire, Solange, Swans, Run The Jewels und Bon Iver.
„Frank, Frank, Frank, Frank“, hallt es durch meinen Kopf, als ich nach der ersten Festivalnacht vorsichtig die Augen öffne. Es ist viel zu früh, um ernsthaft übers Aufstehen nachzudenken. Ich sehe 10m² stillos eingerichtete spanische Airbnb-Upperclass und drehe mich nochmal um. Die Matratze federt nach und ich schließe die Augen wieder: „Frank, Frank, Frank, Frank“. Der Typ verfolgt mich, ehrlich. Zu Beginn des Festivals hatte ich ein paar Leute gefragt, auf welche Acts sie sich am meisten freuen. Der Name, der am häufigsten fiel, war der Frank Oceans, obwohl der schon vor circa einer Woche abgesagt hatte. Beinahe jeder fügte seiner Aufzählung aber noch einen Zusatz an, der variierte zwischen „It’s such a pity, that Frank …“ und „fucking Prank Ocean“. Kein Wunder, dass alle Welt gerade Nikes trägt! Wie kann man in Abwesenheit nur dermaßen präsent sein?

Die physisch realen musikalischen Highlights an der katalanischen Küste waren stattdessen ein mitreißender Auftritt von Arcade Fire auf einer 360°-Bühne, eine perfekt choreografierte, beinahe minimalistische Show Solanges, die schneidende Akkuratesse Shellacs, die ansteckende Vehemenz des Auftritts von Run The Jewels, die sehr viel kleinere, aber nicht weniger imponierende Show Joey Purps oder auch die Anmut und Diversität, die sich in der Musik Bon Ivers verbarg. Überhaupt gelang es vielen Liveacts, ihre eigentlich zurückhaltenden Musikentwürfe problemlos auf die riesigen Bühnen zu übertragen; und zahllose MusikerInnen waren sichtlich gerührt, fast überwältigt von der schieren Masse an Publikum, das sich vor ihren Bühnen tummelte. Angel Olsen etwa spielte vor einigen tausend Menschen und gab unverblümt zu: „biggest stage ever, biggest crowd ever“. Von Lampenfieber keine Spur.

Überhaupt gaben die KünstlerInnen den Veranstaltenden an diesem Wochenende Recht. Wer als Grandaddy-Ersatz mal eben Arab Strap zu einem ihrer extrem seltenen Auftritt überreden kann, hat in der Vergangenheit einiges richtig gemacht – gar keine Frage. Auch der Sound beim Primavera war größtenteils fantastisch (Seu Jorges David-Bowie-Tribute ausgenommen); die Kombination aus etablierten (Aphex Twin, Miguel, Broken Social Scene, Flying Lotus, Van Morrison, Grace Jones) und aufstrebenden Acts (Pinegrove, Avalon Emerson, Kelly Lee Owens) war ebenfalls beachtlich, wenn auch teilweise zu heterogen und beliebig an den Rändern, um eindeutig als Spartenfestival durchzugehen. Positiv hervorzuheben ist auch die organisatorische Meisterleistung der Veranstaltenden: vom vollkommen reibungslosen Ablauf (bei dieser Größenordnung keineswegs selbstverständlich) bis zur Müllentsorgung und Verteilung der sanitären Anlagen ist alles nahezu perfekt geregelt.

Man kann diese wunderbare, friedliche Zusammenkunft so vieler Menschen aus aller Welt in diesen Tagen eigentlich gar nicht genug anerkennen und feiern. Trotzdem bin ich beim Anblick der Massen bisweilen auch mit einem leichten Kopfschütteln zwischen den Bühnen hin und her gehetzt; überwältigt von der schieren Menge an Eindrücken und den schmerzenden Beinen vom Laufen durch die spanische Betonwüste. Dieses Festival, so glücklich es viele gemacht haben mag, ist auch ein Symptom der fortschreitenden Eventisierung aller erdenklichen Lebensbereiche. Ein omnipräsentes Branding, gesponsorte Bühnen, Livestreams auf Pitchfork, sogenannte „Geheimgigs“ von Mogwai, HAIM und Arcade Fire (vermutlich, um die Leute an Social-Media-Kanäle zu binden). All das wirkte beinahe obszön kapitalistisch und so ganz und gar nicht „Indie“ im ursprünglichen Wortsinn.

In irgendeinem Magazin verkündeten die Veranstaltenden stolz den Wachstum ihres Festivals anhand der gebuchten Bands und der Zuschauerzahlen. Das kapitalistische Allerwelts-Weltuntergangsmotto gilt auch hier: Stillstand ist Rückschritt! Jedes Jahr mehr Bands, mehr Zuschauer; ergo: besseres Festival! Im letzten Jahr waren es erstmals über 200.000 BesucherInnen. Nur für Leute mit Platzangst ist hier kein Platz mehr. Und so bleibt trotz aller Euphorie und beeindruckender Musik ein eigenartig fader Beigeschmack. Everybody’s Indie-Darling funktioniert letztlich nicht anders als ein herkömmlicher Themenpark oder der moderne Fussballzirkus? Ja, wieso sollte es auch. Eigentlich keine berauschende Erkenntnis, aber manchmal würde man sich seine Illusionen eben gerne aufrechterhalten. Danke, Frank, dass du mich daran erinnert hast, wie die Welt funktioniert, wer die Welt regiert. Erschöpft und frustriert entschied ich mich am letzten Abend, meine eigentlichen Festivalhighlights GAS und Huerco S. nicht anzuschauen – denn Überfluss macht bekanntlich gleichgültig – und stattdessen nach Hause zu gehen. Interessiert hat das freilich niemanden.
Bilder: Eric Pamies (Titelbild, Bon Iver), Dani Canto (Joey Purp), Garbine Irizar (Pinegrove), Sergio Albert (Solange), Constantin Rücker (T-Shirt)