NumenoreanHome

Angesichts der Demo-CD von Numenorean konnte man schon 2014 feststellen, dass die Vorfreude auf ihr Debüt sich in höchste Höhen geschraubt hatte und die Zukunft wohl einiges bereithielte. Dass die Band aus Calgary ein Label finden würde, stand nach diesem Ausrufezeichen sowieso fest, dass es gleich das französisch/US-amerikanische Metalurtier Season Of Mist werden würde nicht zwingend. Inzwischen steht „Home“ schon etwas länger in den Regalen und es wird dringend Zeit, dieses Meisterwerk zu würdigen.

„Home“ erschien mit einem sehr verstörenden Artwork – im Metalkosmos keine Seltenheit, aber Numenoreans Motiv ist deutlich sinistrer. Es ist das ungestellte Foto einer Kinderleiche, blutverschmiert und mit üblen Wunden. Wie das Opfer zu Tode gekommen ist, ist allein vom Bild ausgehend unklar. Der Kopf ist im Halbprofil, die Augen sind geschlossen und – was besonders irritierend wirkt – es scheint ein Lächeln auf den Lippen zu haben. Zusammen mit dem Albumtitel „Home“ bekommt das Foto eine noch bedrückendere Konnotation, legt es doch nahe, dass das Kind Opfer häuslicher Gewalt geworden sein könnte. Entgegengesetzt dazu stellen „Das Zuhause“ oder „Die Familie“ in der allgemeinen Vorstellung doch sonst den Kern der Zivilisation und des Schutzes dar – man muss diesbezüglich nur einmal so populäre Serien wie „The Walking Dead“ betrachten, die immer wieder auf die (Bluts-)Bande der Familie rekurrieren. Wenn nichts mehr bleibt vom zivilisatorischen Firnis, bleibt angeblich die Familie. Wenn diese sich aber als Bosch‘sche Hölle erweist, was bleibt dann?

Byron Lemley (Gitarre/Gesang), Brandon Lemley (Gesang), Rhys Friesen (Bass/Gesang), Roger LeBlanc (Gitarre/Gesang) und David Horrocks (Schlagzeug) sprechen dies nie explizit aus. Numenorean sind schließlich eine Black-Metal- und keine Hardcore Band, allzu offensichtliche klare Aussagen braucht man da nicht erwarten. Die Inhalte bleiben zwar meist offen, dennoch schwingt der Titel immer mit, zieht sich wie eine roter Faden durch das Album. Am deutlichsten wird dies vielleicht, wenn Lemley bei „Home“ in einer Art Refrain tatsächlich singt: „Give me my warmth. Where is my mother? Give me my comfort. Where is my mother?“

Das ganze Album durchzieht eine tiefsitzende Verunsicherung, ein Zweifel an den Grundfesten des menschlichen Zusammenlebens. „Home“ könnte so eine durch und durch finstere Angelegenheit sein, aber dafür sind die Band und ihr Songwriting einfach zu gut. Numenorean chargieren spielend und übergangslos zwischen verschiedenen Genres, vereinen Black Metal, Blackgaze, Post Metal und ein ausgeprägtes Gespür für Melodieführung und perfektes (Wirkungs-)Timing zu einem stringenten Ganzen, das staunend macht. So schaffen sie es, selbst in den dunkelsten Momenten immer wieder einen Funken Licht erstrahlen zu lassen. Daran ist sicher auch die knackige und in akustischen Passagen nahezu brillante Produktion nicht ganz unschuldig. Einige Gitarrenthemen scheinen im Verlauf des Albums als Referenzen oder Variationen wiederaufzutauchen, was „Home“ zusätzlich eine gewisse Zyklenhaftigkeit verleiht. Wenn dann nach vier Songs und einem akustischen Zwischenspiel Schluss ist, hat man mit Sicherheit eines der besten Debüt-, wenn nicht gar Metalalben des Jahres gehört.

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