BuchempfehlungMorrissey - Autobiography

Wer Morrissey bisher nicht mochte, wird seine Autobiographie sicher gar nicht erst lesen oder seine Vorurteile bestätigt sehen. Neue Fans gewinnt er durch sie bestimmt nicht.
Dass sich das „Vor-“ auch streichen lässt und es ebenso gut „Urteile“ sein könnten, wissen aber wahrscheinlich sogar sie. Immerhin hat Morrissey nicht nur Eigenheiten, sondern auch Fehler, man nehme nur seine hin und wieder arg, nun ja, „ungeschickten Äußerungen“. An Tieren begangenes Unrecht anprangern ist das Eine, dazu den Holocaust heranziehen etwas Anderes – zumindest, solange man nicht den Standpunkt des Sängers teilt, alles Leben sei unabhängig von der Spezies gleichwertig und geplanter Massenmord an Hühnern dasselbe wie der an Menschen. Das ist bei Morrissey der Fall und immerhin verhält er sich dementsprechend, indem er sich zum Beispiel weigert, Konzerte an Orten zu spielen, die Fleisch zum Verzehr anbieten. Mit dem Holocaust hat omnivore Ernährung dennoch nichts zu tun.
Was aber soll es besagen, dass einem Künstler hin und wieder widersprochen werden muss? Selbst unsicher darüber, ob ich das Werk eines Menschens aufgrund seiner Äußerungen ablehne oder nicht, entscheide ich im Zweifelsfall anhand des Werkes. Und Morrisseys Werk ist vor allem, aber nicht allein aufgrund der Smiths schlichtweg kaum zu überschätzen, nicht in der kleinen Welt eines Popfans, wie ich es bin. Zwar bringe ich es durchaus fertig, eine Band aufgrund eines einzelnen Liedtextes abzulehnen, sehe hier aber gerne über Manches hinweg. Das mag nicht sehr integer und konsequent sein, manchmal ist man aber Fan geworden, bevor man zu denken begann, und dann ist’s zu spät. Oder aber man hält ein paar Widersprüche auch dann aus, wenn man sich in sie verwickelt sieht. So kann ich dem pastoralen Klischee der „Village Green Preservation society“ der Kinks wirklich nichts abgewinnen, ja halte es für latent reaktionär, mag das Album aber dennoch aufgrund seiner Erzählungen aus der Welt genau dieses unwirklichen Idylls. Überhaupt ist britischer Pop oft durch Ideen von „British-“ oder „Englishness“ geprägt, die mir als nationale Identität nicht ganz geheuer sind. Egal ob bei den Kinks, The Who, Morrissey oder irgendeiner Britpop-Band, ein Union Jack ist eine ebenso unschöne Sache wie eine schwarz-rot-goldene Flagge. Menschen, die mit so etwas posieren, bewundere ich trotz solcher Dummheiten, nicht wegen ihnen. Vielleicht mache ich das deshalb, weil auch ich meine Verfehlungen gern hin oder wieder vergessen und verziehen haben möchte … Wobei die genannten Bands im Gegensatz zu mir noch ihre Werke haben und durch diese der bloßen Menschlichkeit, zu der Dummheit und Fehler gehören, enthoben scheinen – meint zumindest der Fan, der ich bin. Man wird Lennon und McCartney nicht für ihre jeweilige Unterstützung des irischen Nationalismus in Erinnerung behalten.
Laut seiner Autobiographie stand Morrissey eh schon Schlimmeres durch. Die chronologisch abgefasste Erzählung seines Lebens bis in die Gegenwart beginnt mit der Darstellung einer Kindheit, die – von einer recht großen und scheinbar eng verbundenen Familie einmal abgesehen – nicht sonderlich angenehm verlief. Die teils Dickens’schen frühen Lebensumstände der Vorschulzeit scheinen noch ein wenig romantisch, weiß man ja, dass der Held all das hinter sich lassen wird. Erzählt er hingegen von seiner Schulzeit, wird es weniger pittoresk, da waren nämlich nicht nur die Straßenzüge grau und verfallen, sondern offensichtlich auch der Verstand und die Herzen all seiner Lehrer. Laut Morrissey wurden die von ihm besuchten Schulen nicht nur freudlos, sondern mit physischer Gewalt geführt, der Schüler ohne jegliche Unterstützung ausgeliefert waren, Interesse, Unterstützung oder gar Zuneigung vonseiten der Lehrer erfuhr in ihnen keiner der Schüler. Das klingt geschrieben sehr hart, könnte aber einfach genau das gewesen sein. Gewalt an Kinder ist absurd und unwirklich, nichtsdestotrotz aber existent. Falls jemand einen offensichtlichen Grund für die Seltsamkeit Morrisseys, sein narzisstisches Durcheinander aus Selbstzweifel und Überhöhung in Texten und Äußerungen sucht, kann er oder sie sich hiermit zufrieden geben, mehr bräuchte es nicht.
Doch egal wo seine Texte ihren (auch in „Autobiography“ nicht offenbarten) Ursprung haben, für die meisten dürfte das von ihm Besungene zu einer Lebensphase gehören, die sie beizeiten hinter sich lassen, woraufhin es ihnen arg weltfremd und pathetisch erscheint. Distinguierte Herren im Ledersessel hören ebensowenig Smiths wie der vorstädtische Kleinbürger Morrissey. Seine Musik ist etwas für Menschen, die länger brauchen, um Ruhe und Selbstsicherheit zu finden, verquere Personen. Manche Menschen können und wollen nur in der Pubertät nicht daran glauben, dass irgendwann alles gut und man selbst geliebt wird, bei anderen wird es nie anders sein. Menschen haben nur ein Leben, und das kann, entgegen aller Tröstungen und Versprechungen, bis an sein Ende unglücklich verlaufen, so pathetisch das auch scheinen mag. Morrissey erinnert anders als die meisten Poptexter an die Relativität des für viele niemals eingelösten Heilsversprechens der Liebe und eines glücklichen Lebens. Und dafür kann man ihn durchaus schätzen.
Seine Jugend scheint relativ klassisch für einen Künstler aus der Arbeiterklasse verlaufen zu sein; der Lebensweg war vermeintlich unumgänglich vorgezeichnet, Musik, Bücher, aber auch Fernsehen und Film jedoch zeigten die eigene Beschränktheit ebenso wie ihre Gegenteile auf. Hier konnte ich zuweilen schwer folgen, denn ich kenne so gut wie keine der erwähnten Serien und Filme, auch die gerne zitierten Dichter sind mir unbekannt. Mit der Musik verhält es sich zum Glück anders, The New York Dolls und David Bowie haben für Morrissey eine große Rolle gespielt, ohne dass es deswegen zu einem Zusammentreffen mit Gleichgesinnten oder gar einer Gangbildung gekommen wäre. Ein Aufbrechen des seit Schulzeit von Morrissey beschriebenen Gefühls der Isolation und Ablehnung gelang auch dadurch nicht, man muss ihn sich nach der Lektüre als einen einsamen Menschen vorstellen, der es von jeher war und blieb.
Genau wie in seinen Liedern geht es in „Autobiography“ deshalb und wahrscheinlich in Ermangelung wirklicher Beziehungen zu den Menschen um ihn herum vor allem um ihn, selbst die Smiths nehmen wenig Platz ein. Für sie findet er nur wenige warme, jedoch anerkennende Worte. Trotzdem bedeuten The Smiths Morrissey, und das ist angesichts der relativ kurzen Existent der Band verständlich, offenbar weniger als ihren Fans. Sie müssen sich damit abfinden, die Geschichte der Smiths gefühlt kürzer als die Rechtsstreitigkeiten um die Band behandelt zu sehen, die Morrissey Gelegenheit zu harschen Urteilen über die anderen Bandmitglieder geben.
Deren Herabsetzung ist durchaus selbstgefällig, gleichzeitig fehlt aber die Lobhudelei des eigenen kreativen Anteils am Werk der Gruppe, sie wird in anderer und etwas platter Form betrieben. Morrissey berichtet kaum von der Entstehung seiner Songs, es gibt keine Erklärungen, Darlegungen, Offenbarungen, nichts. Stattdessen erfahren wir bei jedem Album und den Singles, auf welchen Platz der Charts sie gelangten, dass sie nicht im Radio gespielt wurden und Morrissey in der Musikindustrie und den Medien vereinfacht gesagt nie so geschätzt wurde, wie er es verdient zu haben glaubt, sie alle ihn im Gegenteil vorsätzlich und boshaft schnitten. Angesichts all der fanatischen Fans erscheinen seine Verwunderung und sein Gejammer nicht allzu absurd.
Sehr viel interessanter als dieses dürften viele von jeher Morrisseys Liebesleben finden. Tatsächlich erfahren wir durch die Lektüre von zwei echten Beziehungen. Was aber sollen wir damit anfangen? Der von Trostlosigkeit und einer fatalistisch aufgenommenen Einsamkeit geprägte Unterton bleibt, doch lässt sich aus den erwähnten Liebschaften die Hoffnung schöpfen, man könne sich noch so seltsam, unliebenswert und unattraktiv fühlen, Liebe sei trotzdem (und auch ein wenig im Gegensatz zu einem Großteil der Texte des Sängers) zumindest möglich, wenn auch nicht gewiss. Wer das pathetisch finden kann, ist zu beglückwünschen, wer sich hier verstanden fühlt, weiß eh schon um seine Angst vor Zurückweisung, die Schwierigkeit, Vertrauen aufzubringen, die Hilflosigkeit angesichts von Zuspruch oder Interesse, die Furcht vor der selbsterfüllender Prophezeiung der Enttäuschung, die man anderen bereiten wird … Wie gesagt, wer das als pubertär oder überzogen zu belächeln vermag, ist fein raus. Ein egozentrisches Verhalten wie das seine ist nicht immer das Resultat von Selbstverliebtheit oder eine Entscheidung, sondern auch eine Last. Das mag nicht nur kitschig scheinen, sondern kitschig und selbstgerecht sein, nur ist es, da die Unfähigkeit zu Beziehungen ein wirkliches Problem ist, nicht angebracht, sie abzutun. Das aber lernt man von Songs wie „That Joke Isn’t Funny Anymore“ besser als aus dem gesamten Buch.
Morrissey – Autobiography
Penguin Classics
480 Seiten
1. Auflage 17. Oktober 2013
ISBN 9780141394817