Es ist wie im Kindergarten in der „Grünen Gruppe“. Da kommt Marcel mit seinen mächtigen 26 Kilogramm und räumt noch vor dem gemeinsamen Frühstück die bunten Klötzchen, die halb abgelutschten, halb abgebrochenen Wachsmaler und demolierten Spielsachen mit ausladendem Schwung von den Tischen. Auf dem Filzstepp-Teppich findet sich in Sekundenschnelle ein wohlfeiles Tohuwabohu wieder. Jacqueline heult.

So ungefähr muss man es sich vorstellen, wenn das Gehirn von Merrill Garbus zu gemeinsamen Proben mit Bassist Nate Brenner erscheint und erst einmal ein kulleraugiges Kinderkarussell neben ihr Drumkit stellt, um an die gemeinsame Marschrichtung zu erinnern, die darin besteht, dem Ernst mit Alpträumen zu begegnen. Die Losung heißt größtmögliche Verwirrung, diese beherrscht die Amerikanerin seit drei Alben mit allergrößter Souveränität und lacht sich noch jedes Mal ins Fäustchen. „Nikki Nack“ macht da keine Ausnahme und streckt bei „Left Behind“ erstmalig die vorlaute Zunge entgegen. Zumindest in diesem Punkt bricht Garbus‘ Projekt tUnE-yArDs nicht mit den Erwartungen, die der bescheuerte Albumtitel aufwirft: Der gewohnt expressiv aufgeladene Symbolismus des Kinderfreundlichen und Albernen gibt die Richtung vor und unterstreicht ganz nonchalant die Ambitionen ihre im Popwunderland. Inzwischen lacht auch Alice.

„Rocking Chair“ schleift sich in die Südstaaten und versucht sich als Worksong, holt die irische Geige raus und spätestens dann summieren sich die Fragezeichen zu einem einzigen Grinsen, die das komplette Album so leichtfüßig durchziehen, als wäre es das Entgrenzte das Normalste der Welt. Vielleicht ist gerade das der größte Verdienst von tUnE-yArDs: die Grenzenpfeiler klammheimlich zu versetzen und über Setzungen reflektieren zu lassen, Normalität zu hinterfragen. Musik wird hier als großer Spielplatz begriffen, auf dem Garbus mehr Spaß hat als alle anderen. Seit diesem Album, einen Forrest-Gump-Moment später, klingt er auch besser als je zuvor und erweist sich schon als erwachsener, einfallsreicher und nachhaltiger.

Wer je auf der Kirmes Dosenwerfen gespielt hat, sollte im Handumdrehen verstehen, wie das Prinzip funktioniert: Treffer unten Mitte, und die Pyramide fällt in sich zusammen. tUnE-yArDs spielen Dosenwerfen mit jedem Song und so kollabiert vielleicht noch nicht der recht gradlinige Eröffnungssong, aber spätestens „Real Thing“, wenn der A-Capella-Blues mit sich selbst um die Wette singt und mit unwiderstehlicher Catchiness und runtergekurbelter Fensterscheibe den Macker raushängen lässt. „Nikki Nack“ ist mehr denn je keine schwer zugänglicher Kunst, sondern Pop, der alle packen will und Extrarunden um den Block fährt, um jeden skeptisch dreinblickenden Mucker auf seine Seite zu ziehen. Notfalls auch mit schmachtenden Balladen à la „Look Around“, die ihre Schlüpfer schneller zu fallen lassen scheinen als die Mädchen auf der Herbertstraße. Aber tUnE-yArDs wären nicht tUnE-yArDs, wenn sie nicht die weiße Fahne direkt mit entblößtem Stinkefinger wieder einpacken und den Song neben die Spur fahren würden.

Gerade diese irrwitzigen Windungen und spinnerten Ideen heben dieses Album aus dem Indie-Mainstream hervor – man kann sich nie sicher sein, dass der Song nicht doch noch die falsche Abfahrt nimmt, in den Wackelpudding kippt und plötzlich in krummem Drumchaos endet, dem die wichtigen Toms sukzessive geklaut werden. Es ist ein wunderbar regelloses Trauerspiel, mit dem man die nötige Zeit bis zur nächsten Aufnahme gregorianischer Mönchsgesänge überbrücken kann. „There’s no water in the water fountain“, konstatiert Garbus, während man besser noch einmal mit sechs Litern „Dirty Harry“ nachpumpt, um diesem Konzept von Popmusik adäquat folgen zu können. Folgerichtig skandiert sie dann in der Mitte des Songs auch „Please, stop that man“ und endet vollends den Wirrungen und Irrungen des Knalligen und Subtil-Chargierenden, das der völlige Gegenentwurf zu einer körperbetonten Elektrizität ist, der Offensichtlichkeit, der krachenden Disco-Stampfer, die man natürlich niemals hier hören wird. Wobei … 30 Sekunden später ist man sich auch dieser Sache nicht mehr vollends sicher.

tUnE-yArDs liefern mit „Nikki Nack“ ein gewohnt unbekümmertes Werk ab, auf dem jeder zweite Titel der Malen-nach-Tönen-Vorlage so herzallerliebst die Zunge rausstreckt, wie es man sich von ihnen jedes Mal wünschen würde. Der Rest unterhält auf unberechenbare Weise zwischen Global-Drumming, psychotischem Indie und verschrotteter Popmusik, die gerne auch genüsslich selbstironisch an der Zuckerwatte knabbert: „The illness is my mind“. Irgendwer muss bloß noch die Klötzchen vom Boden wieder aufheben.

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