
Wir können gar nicht wissen, was wir an der Buchreihe „testcard“ wirklich haben, soll heißen: Wir können sie nicht genug loben. Hier schreiben keine privilegierten Fans, die etwas eher als der Rest der Konsumenten mit den Produkten der Plattenfirmen versorgt werden und zumindest teilweise in der Lage sind, sich ihren Lebensunterhalt durch die intensive Beschäftigung mit Musik zu verdienen, sondern ExpertInnen im besten Sinn.
Deren Themenwahl ist nicht immer an dem orientiert, was neu erschienen ist und deshalb bisher noch nicht verkauft werden konnte, nun aber verkauft werden soll. Sie schreiben, warum etwas als neu und schön gelten kann, könnte oder auch nicht gelten dürfte. Es geht nicht darum, auf VÖs, also Veröffentlichungen hinzuweisen oder nach Trends zu suchen, weil es von keiner Käuferschaft erwartet wird. Es sind Themen, denen sich Discographien und Biographien jenseits von Re-Releases, Szeneromantik und Aktualität zuordnen lassen und die weder auf eine wirtschaftlich relevante Zielgruppe noch Anzeigenkunden abzielen. Schwer Nachvollziehbares hat deshalb ebenso seinen Platz wie ein kleines Pamphlet oder Plädoyer, die Abhandlung in Dialogform und der historische Exkurs.
Nach der Lektüre eines Monatsmagazins lässt sich geschmäcklerisch entscheiden, ob wohl etwas für einen selbst dabei gewesen ist. Las man hingegen die „testcard“, wird klar, was man bisher alles zu hören versäumt hat, egal, aus welchem Genre. Wir erfahren nicht, was einem gehören sollte, wenn wir bereits dieses oder jenes mochten, sondern was wir hören können, wenn wir glauben, dass Musik mehr als nur ein Produkt ist. Es geht darum, was Musik alles sein kann.
Falls ihr es noch nicht bemerkt haben solltet: Ich bin von der testcard an sich und insbesondere der aktuellen Ausgabe in ihrer Gesamtheit begeistert. Die einzelnen Texte mögen mal schwer, mal besser zu verstehen sein, das Thema Transzendenz ist aber insbesondere für eine #23 sehr passend gewählt.
Johannes Ullmaiers Beitrag „Worüber man nicht reden kann, darüber. Transzendenz und ihre Rolle in Musik und Popkultur“ ist ein guter Einstieg in den Band. In ihm wird womöglich versucht, den LeserInnen das Handwerkszeug für die Lektüre von Artikeln auf ungefähr 240 Seiten (die restlichen 90 sind Rezensionen vorbehalten) zumindest vorzuzeigen. Denn Eindeutiges wird nicht gelehrt, immerhin geht es ja um die Transzendenz, die zu definieren ich mich hier auch scheue und der sich die AutorInnen auf unterschiedliche Weise nähern. Als hilfreich im Umgang mit dem Begriff erwies sich für mich der Text „Notizen zur Transzendenz im Säkularpop“ von Thomas Hübener, der anhand der Beispiele „Pictures Of You“ von The Cure und Pet Shop Boys Unterschiede hinsichtlich Transzendenz und Immanenz im Pop aufzeigt.
Bei The Cure ist
„(…) die Figur ahistorisch: Wir erfahren nichts über die Zeit, in der sie lebt, wir erfahren nichts über die soziale Situation, in der sie sich befindet, und wie stets hat Sänger und Textschreiber Robert Smith sorgfältig darauf geachtet, dass keine von Obsoleszenz bedrohte Tagesaktualität den Weg in den Song fand. (…) Denn es ist der Wille solches nichtreligiösen Transzendenzpops, dass man ihn auch in 50 Jahren hören können soll. (…)
Elemente, welche mit einem Haltbarkeitsdatum versehen sind, fügen dagegen die Pet Shop Boys in ihre Songs ein, wenn sie beispielsweise das Stück „E-Mail“ vom Album Release (…) mit dem inzwischen obsoleten Einwahlgeräusch ins Internet über die Telefonleitung via Modem beginnen lassen.“
Die Vermutungen, die Hübener über die Folgen dieser unterschiedlichen Herangehensweisen anstellt, sind zu interessant, als dass ich sie hier wiedergeben wollen würde. Ihr sollt ja am Ende selber lesen wollen.
Weitere Themen sind Spiritualität im Jazz, der Krautrock des Peter Michael Hamel, Moondog, der Künstler Michael Buthes, die quare (genau, „quare“) Leseart von „Sun Ras musikalischer und performativer Praxis im Schatten der Sklaverei-Geschichte“, LSD, „Ethogene im Dienst des kulturellen Wandels“, Vaporwave (Künstler wie in etwa Internet Club oder MediaFired), eine amüsante Séance mit wieder Sun Ra, Black Metal Theory, Vodou … unter anderem, immer unter anderem! Da ist so viel, und dazu noch allerhand Rezensionen von Büchern und Platten, die ihr größtenteils nimmer an anderen Orten oder gar im Print finden würdet.
Kernstück des Bandes aber ist „Move On Up. Die große Transzendenz-Diskografie“, die mich überlegen lässt, mich nun doch endlich bei einem Streaminganbieter anzumelden. Sie ist kein Best Of oder eine Liste mit „klassischen“ Alben, über die sich ein Magazin vor seiner Leserschaft profilieren möchte, sondern eine Sammlung, ein inspirierender Handapparat, ein ganz und gar famoser. Gegliedert nach Themengebieten (neben unter anderem Pop, Jazz, Noise, Techno und Ambient auch rituelle Musik, religiöse, Okkultistisches, Field Recordings, Sounds, Moderne, Neue Musik, Hauntology und viele mehr) werden hier Platten, von deren Existenz man zu weiten Teilen sonst nie erfahren hätte, knapp vorgestellt.
Besonders hervorgehoben sei jedoch das Gespräch von Christian Wertschulte mit dem Autor Mark Fisher, „Wir leben in einer Nicht-Zeit“ betitelt, aus dem ich an anderer Stelle (nämlich in einem Konzertbericht unserer Gruppe TWISK) bereits Folgendes zitierte:
Mark Fisher: „Ich würde die These vertreten, dass es nichts in der Musik des 21. Jahrhunderts gibt, das es nicht auch schon in der des 20. Jahrhunderts gegeben hätte. Das mag wie eine recht pauschale Behauptung wirken, aber ich denke, es wäre wirklich schwierig, ein Gegenbeispiel zu finden. Ein einfaches Gedankenexperiment kann das vielleicht verdeutlichen. Man stelle sich vor, dass irgendeine Form von Popmusik des 21. Jahrhunderts im Jahr 1997 im Radio gespielt würde. Würde man hier einen ‘Zukunftsschock’ erleben? Ich denke nicht. Aber wenn man Popmusik von 1997 im Jahr 1982 im Radio spielen würde, dann würde sie sofort einen Zukunftsschock verursachen. Die Idee eines Zukunftsschock ist mittlerweile verbraucht, weil es unsere Zeit einfach nicht mehr zulässt.“
Und weil darin solche Texte stehen, sei dieser Band ebenso wie die bisherigen Bände der Reihe aufs Wärmste empfohlen. Es gibt im deutschsprachigen Raum keine bessere Publikation (und auch kein besseres Magazin) zur Musik als die testcard.
testcard #23: Transzendenz – Ausweg, Fluchtweg, Holzweg?
Broschur mit zahlreichen Abbildungen
336 Seiten
Ventil Verlag
1. Aufl. September 2013
15,00 €(D)
ISBN 978-3-931555-22-1
Ist vermerkt. Danke für den Tipp!
Sehr schön! Wobei man sich an den teils etwas verschwurbelt-akademischen Ton womöglich gewöhnen muss…. Sagen wir’s mal so: Wenn die Klischees in Sachen Spex wahr wären und rundum positive Auswirkungen hätten, käme die testcard dabei heraus.
Danke für deine nette und euphorische Rezension. Da macht das Schreiben gleich doppelt soviel Spaß!
Gern geschehen! Ich freue mich auf die nächste Ausgabe.
„Es ist allerdings nicht unsere Absicht, besonders theorielastig oder akademisch daherzukommen. Neben eher wissenschaftlichen Texten finden sich auch Erfahrungsberichte von MusikerInnen sowie informative Szene- und Label-Porträts. Diese heterogene Ausrichtung ist durchaus gewollt.“
Selbstbeschreibung.
Konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen, nachdem ich deinen Kommentar hier las.
Hehe. Ich wollte damit auch nur darauf hinweisen, dass dort ein im Vergleich zu Magazinen wie z.B. dem „Musikexpress“ ein etwas weniger… naja, Fan- und ‚Tagespolitik“ in Sachen Musik‘-orientierter Ton herrscht.
Tatsächlich habe ich die testcard aber während meines Sudiums kennengelernt, und da unterschied sie sich schon von den üblichen Readern und Texten durchaus. Wissenschaftlich ist vieles darin nicht, nur eben eher besser durchdacht und mit einer anderen Motivation als „Oh, Arcade Fire bringen ein neues Album raus! Dazu MÜSSEN wir einfach etwas bringen!“ verfasst. Im Gegensatz dazu haben die AutorInnen einfach im Blick, dass Pop(Musik) mehr als Neuerscheinungen und ein etablierter Kanon ist… Ei, ich schwärme ja schon wieder! Um die Zeit! Bevor ich noch zum, ähem, Nachtschwärmer werde…. nun, nein.
Was mir auch wichtig ist: Wenn dort bei Texten der Jargon akademisch speziell wird, dann vor allem, wenn es auch tatsächlich der thematischen Tiefe oder gedanklichen Komplexität angemessen, geradezu dafür notwendig ist, nicht bloß als Pose. Kann mich da nur an einen völlig unnötig verfachphrasierten Text erinnern – Ausgabe 19 glaub ich – den ich vor lauter Augenrollen und Fluchen nicht zu Ende lesen konnte, das war aber auch die Ausnahme.
„Jargon“, „akademisch“ und „der thematischen Tiefe angemessen“, vertragen sich nicht. Jargon ist ein nicht standardisierter Wortschatz der meist der Abgrenzung von Fachgruppen dient. Ich hoffe zumindest, dass dies nicht der Fall ist. Ansonsten sehe ich das genauso!!!
Ähm ja, da hab ich beim Kommentarerstellen zwei verschiedene Sätze blödsinnig in einen gequetscht. Und das, wo es doch gerade um guten Ausdruck ging!
So, einigermaßen alles kreuz und quer, von oben nach unten, von rechts nach links und vice versa gelesen (ich bin nämlich ein postmorderner Leser) und bin wirklich angetan. Einziges Manko: die häufige, subtile Denunziation des Alkohols als der Transzendenzerfahrung unnützes Rauschmittel. Gemein!