Der Liedschatten (95): Tasty!

Elvis Presley: “In the Ghetto”, August – September 1969
Manchmal bleibt einem nichts anderes übrig, als persönlich zu werden. Und das nicht nur im Streit, sondern auch im Guten beziehungsweise beim Sprechen über Gute und Gutes. Die einzige #1 Elvis Presleys in der BRD bietet einen solchen Anlass.
Über Elvis zu reden bedeutet meist nichts anderes, als die eigene Vorstellung von ihm darzulegen. Zwar dürfte er mit Sicherheit nicht jedem Menschen auf der Welt, aber sehr, sehr vielen bekannt sein und muss deshalb nicht mehr vorgestellt werden. Das ist ähnlich wie bei anderen geläufigen Dingen, in etwa Weihnachten. Jeder vermag ein Urteil darüber zu treffen, ohne jedes Detail seiner Geschichte zu kennen, würde im Gespräch darüber aber auch gar nicht zwangsläufig auf die Idee kommen, nach ihnen zu fragen. Weihnachten ist eben Weihnachten, da geht es darum, ob man es mag oder nicht; alles andere, in etwa Jesu Geburt, der Weihnachtsmann und Geschenke, wird als bekannt vorausgesetzt.
Ähnlich ist es bei Elvis, zu dessen Werk und Person die meisten Menschen eine, wenn auch oft recht knappe, Meinung haben dürften. Immerhin repräsentiert er zahlreiche Stereotypen des im 20. Jahrhundert aufgekommenen Produktes „Popstar“. Er ist der schlichte Junge, den unerwarteter Ruhm ereilt, Sexsymbol und Schwiegersohn, pflichtbewusster Patriot und Rebell, Botschafter und gleichzeitig Räuber der Musik afroamerikanischer Künstler, tragische Gestalt und schillernder Entertainer, Drogenopfer, Konservativer und Erschütterer alter Werte sowie Karikatur seines früheren Selbst. Und selbstverständlich der King of Rock’n’Roll.
Natürlich ist die Vergabe eines solchen Titels, die Verwendung dieses Slogans nicht zwingend notwendig. Wird er aber schon benutzt, so verdient ihn niemand sonst. Im Vergleich mit Elvis sind einflussreiche Künstler wie die Beatles, The Beach Boys, Velvet Underground, Kraftwerk, David Bowie und The Smiths nur Fußnoten einer Geschichte, die es ohne ihn obendrein niemals gegeben hätte. Das mag übertrieben klingen, aber wer sonst könnte eine solche Übertreibung rechtfertigen? Selbstverständlich müssen seine Platten deshalb noch lange nicht gemocht werden, doch geht es nicht um die Qualität seiner Musik, sondern die bloße Wirkung seiner Person. Und zumindest zu dieser werden sich fast alle an Pop interessierten Menschen äußern können.
Nicht selten ist sie vor allem aufgrund seiner Karriere und Erscheinung in den 1970ern Anlass für Spott und Häme. Der Jumpsuit, die Tolle und das Engagement in Las Vegas, die gesundheitlichen Probleme und sein Wunsch, als Agent des „Bureau of Narcotics and Dangerous Drugs“ gegen Drogenmissbrauch vorgehen zu dürfen, obwohl er selbst abhängig von verschiedensten Medikamenten war, überhaupt seine recht paranoiden politischen Ansichten (siehe sein Brief an Nixon: „I have done an in-depth study of drug abuse and Communist brainwashing techniques“) sind Teile einer bereits zu Lebzeiten vollzogenen Demontage des eigenen Ruhmes. Gleichfalls reizt der Kult der Fans um seine Person mit seinen Elvisdarstellern und Verschwörungstheorien über einen nur vorgetäuschten Tod sehr zu Gelächter, das oftmals weniger liebenswürdig als das durch die Muppets ausgelöste sein dürfte.
„Mhmmmm…. tasty!“: welche größere Ehre gibt es, als einen eigenen Charakter bei den Muppets zu erhalten?
Mir gefallen seine, und da wird es wie bereits oben erwähnt persönlich, oft schwülstigen Interpretationen von Liebesliedern tatsächlich am meisten. „Don’t“, „She’s Not You“, „Young And Beautiful“ und selbstverständlich „Are You Lonesome Tonight?“ sowie „You Are Always On My Mind“ sind nicht nur pathetisch, sie sind auch lustig und voller Leben. Das soll nun nicht heißen, sie wären „so schlecht“, also triefend, dass sie „schon wieder gut wären“, sie rühren an und machen lächeln. Zu Recht: Verliebte Menschen gehen ihrer Souveränität auf anrührende Weise verlustig, darüber darf gerne und bestenfalls wohlwollend gelächelt werden.
Auf gänzlich andere Weise sentimental ist unser heutiger Hit, „In the Ghetto“, wobei sentimental keinesfalls abwertend gemeint ist und nicht mehr als „gefühlvoll“ besagt.
Presleys Gesang ist hier zurückgenommen und lässt dem Text genügend Raum. Sein Inhalt ist eher resignativ als anklagend, ein Tonfall, der einem den im Song angesprochenen Misständen enthobenem Entertainer besser zu Gesicht steht als der Versuch, mitzuempfinden. „In the Ghetto“ ist keine Moritat, sondern trauriger statt schauriger Blue Eyed Soul. Es geht um einen ununterbrochenen Kreislaufs von Armut, Verzweiflung und Gewalt, deren Ursache auch in der eigenen Ignoranz vermutet wird. Und so ist die Musik dann auch bei den Zeilen
„Take a look at you and me,
Are we too blind to see?
Do we simply turn our heads and look the other way?“
am dramatischsten. Die Frage wird an ein „we“ gerichtet, an „you and me“ und nicht „they“. Ob es womöglich taktlos ist, einen Hit mit dem Leid anderer Menschen zu machen, ist demnach hier keine wirkliche Frage, auch nicht, ob ein solcher Song nun Gutes bewirkt oder nicht. Dafür sind nicht Lieder, sondern Menschen zuständig und womöglich wurde deren Aufmerksamkeit durch „In the Ghetto“ auf die simple Tatsache gelenkt, dass Verbrechen keine persönliche Marotte oder Ausdruck eines per se bösen Charakters sind, sondern mit Lebensumständen zusammenhängen. Und das ist wirklich allerhand.
Wenn manche durch die Umstände ihrer Geburt zu einem sich und andere zerstörenden Lebenswandel gezwungen werden, lässt sich daraus nicht das beruhigende Bewusstsein entwickeln, ein besserer Mensch, jemand, der hilfreich und nachsichtig ist, zu sein. Dadurch wird das vom Songwriter Mac Davis verfasste Stück realistischer und erträglicher als so mancher selbstgerechte Charitysong.
Überhaupt scheint Davis ein Freund einfacher Songs mit Botschaft zu sein. Seine eigene Karriere wurde durch Presleys ersten Top-Ten-Hit seit vier Jahren befeuert und verschaffte ihm eine Late-Night-Show namens „I Believe In Music“, deren Titelsong von ihrer immensen, seiner Meinung nach positiven Kraft handelt. Mit dieser geht er offenbar sehr verantwortungsvoll um, zumindest legt dies sein größter Hit als Interpret, „Baby Don’t Get Hooked On Me“ von 1972 nahe.
Meerschweinchen, haha. Entschuldigung.
Noch ein kleiner Hinweis in eigener Sache: die heutige Folge des Liedschattens ist die letzte für 2012. Ich wünsche Euch ein paar angenehme Weihnachtstage und einen guten Rutsch.