decemberistsJeder kennt noch „Eli The Barrow Boy“. Dieser gequälte Geist auf dem 2005er Album „Picaresque“ der Decemberists, dem wohl Stärksten bisher, starb einsam, unglücklich, aber voller Hoffnung, und ist nur ein beliebiges Beispiel der vielen tragischen Figuren im weiten Feld von Liebe, Pflicht, Glück, Pech, Magie und allem, was sonst noch wichtig ist. Denn für das Erzählen von Geschichten waren die Decemberists und ihr quasiseriöser, immer gern historisch korrekter Spaßvogel und Frontmann Colin Meloy seit jeher bekannt. Und immer wieder spannten sich die Bögen über mehrere Songs. Bei ihrem letzten Werk „The Crane Wife“ gar über ein ganzes Album, als man eine alte japanische Mär in eine Folkrock-Oper zu verwandeln versuchte. Gefunden wurde ein Werk, das nur halb so pompös wie sein Horizont daherkam, letztendlich aber doch rundum zufrieden stellte. Nach dem ganz großen Pomp musste somit gar nicht mehr gefragt werden.

Schon ein Blick auf die Tracklist des jüngsten Streichs „The Hazards Of Love“ lässt tief blicken: 17 (zusammenhängende) Songs, eine übergeordnete Struktur mit vier Haupttiteln, dazwischen und darunter Namen und Titel, die allein beim Lesen jedem Romantiker und Liebhaber des historischen Epos das Wasser im Munde zusammenlaufen lassen dürfte. Und wer sich schon bei „The Crane Wife“ an größte Gesten und dicke Schmöker erinnert fühlte, muss hier seine Maßstäbe neu definieren – wie auch die stets ambitionierten Laienspieler aus Portland sich tatsächlich neu definieren und die definitive Pergamentrolle entfalten. Spätestens jetzt. Wenn der Vorgänger die Treppenstufe auf dem Weg zu diesem wahren Riesen von einem Album war, ist „The Hazards Of Love“ die Rolltreppe hinauf zum Rockolymp. Man hat wie immer das Gefühl, dass es trotz konkreter Figuren und ihres ganz persönlichen Kosmos um nichts Geringeres als die Welt als solche geht.

Eine eiernde Breitwandorgel, mutmaßlich eine der letzten Überlebenden ihrer Art, weist den Weg in die Geschichte, deren Inhalt für eine Rezension schlicht zu umfangreich ist. Stets im Schatten der alten Rockgiganten aus der TimeLife-Werbung spielen die Decemberists vielleicht selbstbewusster denn je ihren Folk, der zwar nicht mehr ist was er mal war, aber eindeutig was er immer schon mal sein wollte. „Won’t Want for Love (Margaret in the Taiga) “ rühmt sich mit kompromisslos opulenten Gitarren, kommt aber nicht umher, dieses unfehlbare Gespür für die richtige Melodie ein weiteres Mal zu unterstreichen. Auch die übrigen Songs, alles was von eins bis siebzehn Gesang enthält, besitzt eine Gesangslinie, die die Lust weckt, am liebsten schon beim ersten Hören mitsingen zu können.

Immer wenn Pracht und Glanz voll erstrahlen, setzt es eben keinen weiteren großen Paukenschlag. Stattdessen verdunkelt sich das Bühnenbild kurzzeitig und punktuell beleuchtet wirkt ein wunderschönes Akustik-Duett wie „Isn’t It a Lovely Night“ als Ruhepol. Hoch anzurechnen ist den Decemberists außerdem, mit welcher Geduld sie dieses Riesending in gerade einmal knapp einer Stunde auf- und wieder abziehen. Manche Bausteine bestehen in der Tracklist vor allem zu jenem Zweck, den Weg für das nächste Feuerwerk zu ebnen, ohne jemanden zu verschrecken. Zwar hat der grimmige „Rake’s Song“ genug Feuer dahinter, um auch gestandenen Männern reichlich Respekt einzuflößen, aber dann doch einen zu eindringlichen Charme, um es so oder so völlig verstehen zu können. Ebenso Verwirrung stiftet „Annan Water“, das von allen tollen Melodien wohl die grandioseste in seiner Strophe bereithält und im Refrain vorn über kippt. Im folgenden „Margaret in captivity“ gibt es dann auch ernsthafte Streicher, in „The Hazards of Love 3 (Revenge!)“ gar einen Classic-Rock-Rhythmus auf dem Cembalo(!), während ein Kinderchor bitterböse und langsam das Ende einläutet. Ein Musterbeispiel an spielerischer Seriösität, die für die kompletten 60 Minuten gilt. Dies macht „The Hazards of Love“ auch für solche Anhänger der Decemberists, die sich 2005 liebend gern solidarisch und mitfühlend neben „Eli The Barrow Boy“ in die Grube geworfen hätten, zu einem nicht nur erträglichen, sondern nachvollziehbaren neuen Weg.

8.0 / 10

Label: Rough Trade / Beggars / Indigo

Spieldauer: 58:38

Referenzen: Led Zeppelin, Get Well Soon, Trail Of Dead, Okkervil River, The Devine Comedy

Links: Homepage, MySpace

VÖ: 27.03.2009

3 Kommentare zu “Review: The Decemberists – The Hazards Of Love”

  1. Pascal sagt:

    Ich kann Deine Argumentation sehr gut nachvollziehen, Sven, tolle Rezension! Leider sagt mir die Platte überhaupt nicht zu, 4/10.

    Bis einschließlich „Picaresque“ haben sie wirklich hervorragende Werke veröffentlicht, der schon von „Crane Wife“ angedeutete Weg passt mir allerdings überhaupt nicht. Bombast statt Gefühl. Wir gehen von nun an getrennte Wege…

  2. AAA sagt:

    Ja, ich werd damit auch nicht warm. Hab bisher aber auch nicht die Energie gehabt, die an einem Stück durchzuhören. Aber jeder Einzelsong bis auf irgendein Hazard-Stück und „The Rakes Song“ hat mich davon abgehalten, mich noch mehr damit zu befassen. Find den Bombast nicht schlecht, aber einfach sehr langweilig.

  3. florian sagt:

    4/10…

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