sigur-herztonIch ärgere mich heute schwarz, wenn ich sehe, dass der Namensaufkleber auf der dunkelblauen Vinylhülle klebt. Damals, vorschnell von der umhüllenden Folie auf die angeraute Pappoberfläche umgeklebt. Abgesehen davon, dass die Erstauflage natürlich mit Sticker weniger wert ist, zerstört dieser Sticker heute die sinnliche Einheit: Ein Fötusengel in stillem Blau.

Kitsch und brachiale Bildrhetorik winken zwar mit ihren überdimensionierten Zaunpfählen, aber das ist in diesem Falle völlig egal. Den mit diesem Gralsmotiv ist bereits alles gesagt und nicht zuviel versprochen. Das komplette Leben und das Überirdische werden kongenial in Einklang gebracht und zudem mit aller poetischen Macht latent mit esoterischem Spirit aufgeladen. Sigur Rós‘ Meisterwerk erfüllt alle kühnsten Erwartungen an Musik: Für mich war es der Moment, indem ich ein Gefühl verspürte, als würde ich zum allerersten Mal überhaupt Musik hören. Ein Gefühl, raumgreifend und zutiefst prägend.

Geisterhafte Stimmen mit isländischen Texten (manche behaupten immer noch starrsinnig, es wäre „hopelandish“) erhellen klangliche Kathedralen. Sphärisch, ästherisch, rein, grazil und episch. Ausladende Streicher schmieren ihre Lebensenergie auf die im Hintergrund sägenden und kreisenden Gitarren. Immer ein bisschen pathetischer als es sein müsste, immer ein bisschen zu aufdringlich. Aber eben diese Schmacht ergreift hier, wie noch nie zuvor. Es ist die unendliche Tiefe, die luftige Resonanz, die dieses Album so besonders machen. Karge Klangfelder und intime Räume, das Aufbäumen und Abebben. Echos aus Gletscherspalten, das Flirren der Streicher und das bekannt frostige Klagen. Musik mit Tempolimit.

Dabei gibt es mindestens alle zehn Minuten den einen herausragenden Moment, der sich sonst nur ganz vereinzelt blicken lässt: Die große Glücksgeste von „Flugufrelsarinn“ bei Minute 3:54, das komplette „Starálfur“, die aufbrechenden Wolkenbänke von „Olsen Olsen“. Oder doch das wunderbar verspielte „Viõrar Vel Til Loftárasa“, das natürlich längst von den eindringlichen Bildern des wundervoll inszenierten Videos überlagert ist. Die Liste ist fast unendlich fortsetzbar, so atmosphärisch dicht und ausgefuchst komponieren diese Nordlichter schon zu Beginn ihrer Karriere, die bis heute anhaltend ohne ein wirklich schwaches Werk auskommt.

Aber eindeutig ist „Ágætis Byrjun“ ihr Hochlight. Ist wie ein auf schweres Papier geschriebener Liebesbrief an jemanden, der die Liebe nicht erwidert. Klagend und durchdringend melancholisch. Eine Ode an das Sinnliche, die Traurigkeit einfängt und Tränen freisetzt. Wenn am Ende dann die Sonne samt Chorälen hereinbricht und Hoffnung verbreitet, ist der schönste Moment des Albums erreicht. Musik, die der humanistischen Theorie nahe kommt: auf das Menschsein konzentriert, mit Würde und Güte eingespielt und aus dem Vollen schöpfend.

PS: Das Label Fat Cat hat sich zum 10jährigen Jubiläum im Frühsommer zu einer Neuauflage mit 180g-Vinyl entschlossen. Ich habe dann ein Exemplar zu verkaufen. Es hat zwar einen Aufkleber auf der Vorderseite, wurde aber in Liebe und Zuneigung ertränkt und ist selbstredend in tadelloser Verfassung. Angebote werden ab sofort entgegengenommen.

Links: Homepage | myspace | Ágætis Byrjun hören

–>Hintergrund und Motivation der „Herz aus Tönen“- Reihe

–>Herz aus Tönen (Vol.1)

4 Kommentare zu “Herz aus Tönen (Vol. 2): Sigur Rós – Ágætis Byrjun (1999)”

  1. Eva-Maria sagt:

    Die Diskussion, welcher Moment des Glücks auf diesem Album der schönste ist, die könnte ich stundenlang führen. Leidenschaftlich. Danke für Dein Herz aus Tönen für Sigur Rós. Denn Ágætis Byrjun als Album ist eine mit Worten nur unzureichend zu beschreibende Kostbarkeit.

    Die eindrücklichsten Glücksmomente für mich: Wenn auf „Viõrar Vel Til Loftárasa“ endlich, endlich, endlich Jónsis Stimme einsetzt. Das Schlagzeug plus Jónsis Stimme auf „Svefn-G-Englar“. „Staralfúr“ genau dann, wenn es zwischenzeitlich zum Musical wird. Um nur die Wichtigsten zu nennen.

    Unvergessen auch der Moment beim Konzert in Wiesbaden im letzten Sommer, als nur die ersten drei Töne von „Svefn-G-Englar“ genügten, um eine ganze Halle in begeisterter Beglückung aufschreien zu lassen….

  2. Pascal sagt:

    Wenn das so ist, entscheide ich mich wohl ziemlich sicher für die 180g Version;)

  3. Cowboy sagt:

    Sehr tolle Scheibe, muss ich schon sagen.
    Eigentlich war das bislang gar nicht so meine Richtung, aber ich denke, ihr habt sie für mich eröffnet. Auch schon durch die Platzierung von “Með suð í eyrum við spilum endalaust” in euren Top30 des vergangenen Jahres. Bin jedenfalls echt beeindruckt …

    Weiter so!

  4. Raventhird sagt:

    Habe extra nochmal nachgeguckt, aber auf dem Digipack der CD-Version klebt kein Namens-Sticker :). Dennoch: Geile Scheibe, die sollte ich auch endlich mal wieder ausgraben. Die Platte war meine Einführung in die grandiose Soundwelt von Sigur Rós.

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