Kulturindustrie 2.0

Nach der Krise ist mal wieder vor der Krise. Genauso wie zwischen dem Gaza-Streifen und Tel-Aviv immer wieder Raketen fliegen, der Wall-Street-Broker Spekulationsblasen platzen lässt und Bilder von Eisbären auf abgefrorenen Eisschollen durch die Medien geistern, so landet die alte Dame namens „Plattenindustrie“ regelmäßig wieder auf der Intensivstation. Und das nur, weil sie die Finger nicht von den filterlosen Zigaretten lassen kann. Diesmal geht es ihr besonders schlecht, denn sie hat sich den wuchernden Virus „Digitalisierung“ eingefangen, der ihr nach und nach die Nahrungsaufnahme erschwert. Doch statt die Patientin durch künstliche Ernährung wieder in einen stabilen Zustand zu überführen, sitzen die behandelnden Ärzte grübelnd über den Röntgenbildern und philosophieren über die Symptome.

Selbst ist der User

Ade Vinyl?

Dass eine Umschichtung der Verhältnisse weitaus komplexer ist, als es die einleitende Metapher vielleicht suggeriert, zeigte erst kürzlich der Hilferuf der amerikanischen Plattenindustrie nach staatlicher Unterstützung. Von der Tatsache, dass der Sprung auf diesen Zug nur die Indikatoren nicht aber die Ursachen behandelt, möchte jedoch keiner etwas wissen. Wechselt man die Perspektive und fokussiert den Blick auf die Subkulturen, lässt sich häufig ein nostalgischer und reaktionärer Diskurs beobachten, der nicht selten um den haptischen Verlust bestimmter Trägermedien kreist. Von ähnlicher Seite wird auch gerne das Defizit einer selektierenden, filternden Instanz beklagt, als würden Plattenläden und Fachmagazine durch die Digitalisierung Ihre Funktion verlieren.

Die Auseinandersetzung mit Popkultur im Allgemeinen und Musik im Speziellen wird durch die allgemeine Verfügbarkeit ja nicht substituiert, sondert erfordert eher eine Misch-Nutzung unterschiedlichster Medien. Die Neuheiten Kiste im Plattenladen, der Web-Blog für spannende Impulse und das Fachmagazin als Ergänzung – die Gewichtung sei dabei jedem selbst überlassen.

Die Gedanken sind frei

Mixer, Drumcomputer und Co: Noch nicht zum Download verfügbar

Setzt man an dem Punkt der Marktübersättigung an, landet man automatisch wieder bei den „offenen“ Archiven. Musste man als junger Mensch vor nicht allzu langer Zeit noch gefühlte Tonnen an Zeitungen austragen, um sich dann mal einen kleinen Sampler oder Synthesizer ins Schlafzimmer zu stellen, ist man heute nur wenige Mausklicks vom digitalen, semi-professionellen Studio entfernt. So hat sich gewissermaßen ein Sozialismus der Produktionsmittel eingerichtet der zufälligerweise hervorragend mit dem Diktum des Web 2.0 korrespondiert: „Du bist ist ein Teil des Ganzen, du bist der Star“

Dass alleine wird jedoch wohl kaum die Lawine an Labels und Künstlern losgetreten haben, die nun allseits beklagt wird. Das Web 2.0 diente dabei eher als Akzelerator, der den Nutzern eine breite Öffentlichkeit versprach. Bleibt nur die Frage, wie sich das Publikum zusammen setzt, wer die Rezipienten-Schicht bildet, wenn jeder ein Grafiker, Filmer, Journalist, Produzent oder Model sein möchte. Dass die unterschiedlichen medialen Kanäle neben dem ganzen profil-neurotischen Unsinn auch unglaublich viel Kreatives und qualitativ Hochwertiges zu Tage gefördert haben, versteht sich von selbst. Ob das nun in Relation zu dem dafür gezahlten Preis liegt sei aber dahin gestellt.

Ein geläufiger "MP3-Shop"

Um den Karren nicht komplett in den Dreck zu fahren, ist also ein Umdenken erforderlich. Dazu müssten allerdings erst einmal die festgefahrenen und rückwärtsgewandten Positionen aufgebrochen werden. Auf dieser Basis ließe sich diskutieren, wie die digitalen Ressourcen kreativ und produktiv genutzt werden könnten. Individuelle, sich ergänzende Angebote sind dabei unerlässlich. Mit aufwendigen Vinyl-Packages und vermehrter Live-Präsenz ist der Schritt in diese Richtung bereits getan, wobei immer klar sein muss, dass der Künstler dabei nicht von der Hand im Mund leben darf.

Der Ausstieg aus der von Adorno und Horckheimer beschriebenen Kulturindustrie dürfte uns also nicht erwarten. Es fehlt nur noch das Update. Ansonsten ist alles wie gehabt – die Ware Kultur unterliegt weiterhin fröhlich ihrem ökonomischen Selbstzweck, während die Überführung ins rein ästhetische ferner denn je scheint. Schlechte Zeichen für Romantiker.

4 Kommentare zu “Kulturindustrie 2.0”

  1. florian sagt:

    großartig philip! den aufsatz über die kulturindustrie musste ich sogar fürs studium lesen.

  2. Pascal sagt:

    Ganz fein geschriebener Artikel, Philip;) Beim nächsten Mal schreiben wir die Diplomarbeit einfach zusammen…

  3. Philip sagt:

    naja, ob das für eine diplom arbeit reicht, sei mal dahin gestellt. wobei du es ja wissen müsstest. weisst du deine note schon? :) oder steht das kolloquium noch aus?

  4. Pascal sagt:

    Ne, ist alles durch. Habe auch schon mein Diplomzeugnis abgeholt;) Eigentlich schade, war ne schöne Zeit …

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