Ja, Jamie Stewart stellt erneut auf die Probe. Zunächst geht es auf musikalische Tauchfahrt – nicht in Untiefen, die ja bekanntlich nicht tief sind, sondern richtig weit hinab – bis die Geräusche immer weniger werden und dem Rauschen im Kopf Platz machen.

„Angel Guts: Red Classroom“ von Xiu Xiu beginnt mit 3:29 Minuten lang so gut wie nichts, außer ein paar gezupften Tönen auf einem Saiteninstrument. 15 Sekunden lang ist es am Ende sogar richtig still. Und dann geht es tief hinein in die Stärken der achtziger Jahre: Analoge Synthesizer verbünden sich mit schmerzerfülltem Gesang und elektronischen Klangteppichen, seltsam organisch. Ein schlagendes Herz scheint durch „Stupid In The Dark“ zu führen, wenn auch mit extrem erhöhtem Pulsschlag. Immer nahe am Aus-Knopf bewegt man sich mit Songs wie „Lawrence Liquor“, der hundegebellartige Gesang bekämpft sich mit einem Elektrogewitter, die singende Säge übernimmt ganze Passagen der Komposition, die schlagartig verebbt und erneut lähmende Stille einsetzen lässt. Mehrere Sekunden am Ende des Ausbruchs passiert erneut – nichts.

Es ist schon so, manche Momente von Xiu Xiu ähneln „Zahnarzt meets Alien“ – zum Beispiel „Black Dick“. Aber auch das aktuelle Album fängt sich fast immer und bleibt schlicht interessant, weil es nie überfordert. Fordern, das tut es aber allemal. Es setzt Hörgewohnheiten außer Kraft und kann durchaus an manchen Tagen mit angekratztem Gemüt und Dünnhäutigkeit ungenießbar sein, Titel wie „New Life Immigration“, die vergleichsweise konsumierbar daher kommen, sind selten. Xiu Xiu rund um Mastermind Jamie Stewart bleiben sich treu: Man bekommt eher Theater, Improvisation und pures Leid und Glück denn ein Album aus der Konserve. Xiu Xiu sind nie kalt und unnahbar, aber ihre Nähe, die sie auch bei „Adult Friends“ schaffen, ist ungewöhnlich und extrem. Das Kollektiv aus San José füllt das Wort „Spieltrieb“ mit einer völlig neuen Bedeutung, lässt dabei auch mal Schweine unangenehm quietschen oder einem Regenrohr freien Lauf. Immer wenn man sich an das Anorganische im Œuvre gewöhnt hat, wird es schlagartig organisch. Man kommt nicht zur Ruhe, wenn man dieses Album, das sich einfach nach dem Anfangs- und Endtitel benennt, durchschreitet.

Xiu Xiu hören bedeutet Arbeit, es bedeutet, Jamie Stewart zu vertrauen. Stücke wie „The Silver Platter“ fühlen sich an, als ließe man sich mit geschlossenen Augen nach hinten fallen, ohne zu wissen, was dort auf einen wartet. „Silver“ lässt den Hörer alleine mit seinen Eindrücken, er gibt keine Leitplanken vor, scheint durchaus selbst auch manchmal die Orientierung zu verlieren. Und billigend in Kauf zu nehmen, dass es seinem Hörer noch weit schlechter dabei ergeht. Wer Orientierung mag, wird Xiu Xiu auch dieses Mal hassen.

Nahezu jährlich gibt es seit nun über einem Jahrzehnt schon neue Veröffentlichungen aus San José, es scheinen viele Dämonen im „Schu Schu“-Gehirn von Stewart zu wohnen, die gewährleisten, dass er jährlich auf einem Album Abbitte leistet. Es ist dabei nicht ersichtlich, ob er auch Erlösung sucht. Das aktuelle Album ist bei Weitem nicht mehr so düster wie manches seiner Vorgänger, aber immer noch düster genug, um genau in die aktuelle Jahreszeit zu passen. Mit „A Knife In The Sun“ lässt es sich beschwerlich und mit hochgezogenen Schultern durch die Kälte des Winters streifen.

Stewart wirkt wie ein gehetztes Tier, das friert und nach Wärme sucht, flüsternd und schreiend alte Wunden aufreißend, um Heilung zu finden. Literarisch widmet er sich in mehreren Büchern des Haiku, einer traditionellen japanischen und streng formalistisch eingeschränkten Form des Gedichts – scheinbar das Gegenteil zu dem, was er sich in seiner Musik „erlaubt“, wenn man sich bei „Cynthia´s Unisex“ den Geräuschen nach dem Weltuntergang nahe wähnt. Stewart gehört der Respekt, seine Art von Musik konsequent weiter zu verfolgen und sich damit ein eigenes Profil zugelegt zu haben, das Vergleiche schwer macht. Er ist einzigartig – auf die beste und schlimmste Weise für unsere Ohren, aber: Dort verbleibt er, und das kann nicht unbedingt jeder von sich behaupten.

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