WilcoThe Whole Love

Nach dem verhältnismäßig mauen letzten „Wilco (The Album)“ hätte man fast vergessen können, dass eine neue Platte von Wilco eigentlich immer ein Ereignis darstellt. Befand sich da eine Band, die zweifellos zu den größten der letzten 15 Jahre zu zählen ist und die mit „Summerteeth“, „Yankee Hotel Foxtrot“ und „A Ghost Is Born“ die Konventionen eines eigentlich erzkonservativen Genres auf den Kopf stellte wie keine zweite, etwa auf dem absteigenden Ast? Sollten von nun an nur noch nette, aber immer weniger relevante Variationen von Bekanntem folgen, bevor sich die Bandmitglieder dann endgültig aufs wohlverdiente Altenteil verabschieden würden?

Mit „The Whole Love“, dem Einstand auf dem bandeigenen Label dBpm wollen es Wilco nun noch einmal wissen. Mehr Zeit zum Songschreiben soll sich Jeff Tweedy nach dem Abschied von Nonesuch gelassen haben. Zeit, in der rund 60 Songs entstanden, von denen es gerade einmal zwölf aufs endgültige Album geschafft haben. Doch war der Abgang vom Major wirklich der erhoffte Befreiungsschlag? Und wie nähert man sich eigentlich einem Album, einer Band, über die schon soviel gesagt und geschrieben wurde und deren Gesamtwerk Platz für unzählige Verweise böte? Nun an dieser Stelle vor lauter Ehrfurcht und aus Liebe zum nerdigen Buchhaltertum: „The Whole Love“ Track by Track von jemandem, der sich, soviel sei fairerweise gesagt, durchaus als Fan bezeichnen würde.

1. Art Of Almost: Gleich der Auftakt des Albums ist ein dickes Highlight. Ein demolierter Beat macht den Anfang, bedrohlich anschwellende Streicher, dann erst setzt Jeff Tweedys wohlbekannte, gebrochene Stimme ein. Gut vier Minuten schlängelt sich der Song getrieben von einem leicht dubbigen Groove durch ein Dickicht aus Echos, sägenden Gitarren, verqueren Streichern und Stromschlägen. Funken sprühen an allen Ecken und Enden. So modern klangen Wilco vielleicht noch nie. Schlussendlich entlädt sich all die hier angestaute Energie in einem wuchtigen und leicht ausuferndem Gitarrensolo. Wenn ich eine Alltime-Top-Ten der besten Wilco-Songs hätte, wäre dieser hier mit Sicherheit drin.

2. I Might: Der schon bekannte Vorabtrack, ein Powerpop-Song wie aus dem Lehrbuch aber doch typisch Wilco, hätte sicherlich auch auf „Summerteeth“ oder „Wilco (The Album)“ seinen Platz gefunden. Einfache Gitarrenakkorde treffen auf einen hübsch angezerrten Basslauf, kraftvolle Drums und beschwingte Uhuu-Chöre. So verspielt und gleichzeitig effektiv in den 60ern und frühen 70ern schwelgten zuletzt die New Pornographers in Hochform. Damit macht man nie etwas falsch, Wilco schon gar nicht.

3. Sunloathe: Zum ersten Mal wird es ruhiger, manche würden auch sagen „nachdenklicher“(was nicht stimmt, denn nachdenklich waren nicht nur zwischen den Zeilen schon die beiden vorangehenden Stücke). Hier schmeicheln Klavier, Glockenspiel und verwehte Chöre, bis der Song erst gegen Ende etwas Fahrt aufnimmt. Die Worte „I don’t want to lose this fight / I don’t want to end this fight“ hallen nach, der Rest verstreicht etwas unspektakulär aber schön.

4. Dawned On Me: Das zweite Highlight. Wahnsinn, was man so alles in einen einfachen Popsong stecken kann! John Stirratts Bass gibt sich schroff und strahlt dennoch umarmende Wärme aus. Ein Ergebnis der wieder mal unglaublich feinen Produktion, die sich angenehm rau und doch glasklar gibt. Ansonsten wird im Chor jubiliert, gepfiffen, ein wenig auf dem Glockenspiel geklimpert und zur Krönung eine Gitarre abgefackelt. Getragen wird all dies von der vielleicht schönsten Melodie des Albums, die sich in (Brian) wilsonesker Großartigkeit gen Himmel windet.

5. Black Moon: Wieder eine Ballade. Und was für eine, möchte man diesmal anmerken. Die zurückgenommene Akustikgitarre und ein gelassener und sanftmütiger Jeff Tweedy schwelgen hier in einem Bett aus Streichern und verbreiten wohlklingende Melancholie. Ein wunderschöner Ruhepol.

6. Born Alone: Hier stehen sich Form und Inhalt diametral gegenüber. Was textlich, wie der Titel schon andeutet, eine Abhandlung über die Einsamkeit darstellt und als relaxter Midtempo-Song beginnt, erweist sich schon bald als erhebender Poprock inklusive einer ganzen Wagenladung quietschiger Gitarren, die gegen Ende zum großangelegten Finale anschwellen. Tweedy deutet an, dass er zwar selbstverständlich immer noch nicht glücklich ist, diesem Umstand aber mit einem gewissen Sarkasmus begegnet: „Sadness is my luxury.“

7. Open Mind: Abermals wird es ruhiger. Aus der Ferne verbreitet eine Steel Guitar Country-Stimmung, alles fließt wehmütig und dennoch irgendwie hoffnungsfroh dahin. Der Schaukelstuhl und Veranda-Song auf „The Whole Love“, so entspannt und weitgehend ereignislos wie ein Sonntagnachmittag.

8. Capitol City: Ein Midtemposong, in dem viel mehr steckt, als man zunächst denken mag. Orgel, Steel Guitar und Harmonica verbreiten Jahrmarktsatmosphäre, während man sich zwischenzeitlich an die zumindest angedeutete Melodie von „Hummingbird“ erinnert fühlt um dann doch von einer der Tempoverschiebungen überrascht zu werden. Das Finale mit seinen Kirchenglocken und Backing-Chören ist dann wieder engelsgleich.

9. Standing O: So etwas wie der Rocksong auf „The Whole Love“. Die breitbeinigen Gitarren im Mittelteil sind dann aber vielleicht ein bisschen zuviel des Guten, sicherlich gibt es bessere Wilco-Stücke. Schön jedoch, mit welcher Lässigkeit Tweedy das „O“ am Ende der titelgebenden Zeile zerdehnt. Und die Melodie, die fetzt auch.

10. Rising Red Lung: Quasi das Zwillingsstück zu „Black Moon“, denn alles, was bereits dazu gesagt wurde, ließe sich auch hier anwenden, außer dass die Streicher durch eine Steelguitar ersetzt werden und alles noch zurückgenommener wirkt. Nur kurz vor Schluss erhebt sich das Lied noch mal zu einem winzigkleinen Anstieg.

11. Whole Love: Kurz vor Schluss noch mal Midtempo, inklusive freundlicher Melodie, mit Schmirgelpapier angerauter Gitarren und eines wunderschön dahingehauchten und langezogenen „Whole Love“. Kein Höhepunkt, aber hübsch.

12. One Sunday Morning (Song For Jane Smiley’s  Boyfriend): Was furios begann, braucht auch einen nicht minder grandiosen Abschluss. Wäre da nicht bereits Ja, Paniks Manifest „DMD KIU LIDT“, Wilco hätten das Kunststück vollbracht, zugleich den besten Opener und Schlusstrack in diesem Jahr zu schreiben. Auf der Basis eines simplen Gitarrenmotivs und perlender Pianosprenkler erzeugen Tweedy und Co. hier ein Gefühl der Zeitlosigkeit, das völlig gleichgültig werden lässt, ob das Stück nun nach 12 Minuten endet. Hier schließt sich die Klammer eines wunderbar runden Albums, welches dem Wilco-Kosmos zwar kaum wirklich Neues hinzufügt, das aber dennoch nur für sich steht. Für sich und dafür, dass Veröffentlichungen von Wilco-Alben auch weiterhin wahre Ereignisse darstellen.

84

Label: dBpm / Anti

Referenzen: My Morning Jacket, The Beatles, Big Star, Neil Young, Ryan Adams, Bright Eyes

Links: Homepage | MySpace | Albumstream

VÖ: 23.09.2011

2 Kommentare zu “Wilco – The Whole Love”

  1. Pascal Weiß sagt:

    Mein Quartalsfavorit. Damit hatte ich vorher auch nicht gerechnet.

  2. […] die Bühne und eröffnet das 150-minütige Set mit dem Schlusssong ihres formidablen neuen Werks „The Whole Love“. Dabei konzentriert sich in „One Sunday Morning (Song For Jane Smiley’s Boyfriend)“ […]

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