BeirutThe Rip Tide

2005 wurde die Vereinbarkeit von Folk und Pop von einem Jungspund aus New Mexico auf eine harte Probe gestellt, die in der Musikkritik durchaus für kontroverse Diskussion sorgte: Wo verlaufen die Grenzlinien von Authentizität? Wo hört das Original auf, wo fangen Zitat und die musikalische Stil-Adaption an?

Zach Condon war gerade einmal volljährig nach europäischen Maßstäben, als er das College für beendet erklärte und seinen eigenen Wurzeln nachspürte – auf einer musikalischen Route quer durch Russland, den Balkan, Deutschland und Italien. Jeder Klang wurde aufgesogen, er verklappte Wodka, Pálinka und Zljivovica den Rachen herunter, musizierte mit jüdischen Klezmorin und alten mundfaulen Männern mit gegerbten Gesichtern, strich durch ostdeutsche Landschaften und durch Berliner Hinterhöfe, tanzte Paprika-Polka und rief den wilden, Kasatschok tanzenden Kosaken in sich wach. Zurück in den USA, mit verblichenen Skizzen im Kopf,  münzte er das Treibgut musikalischer Erinnerung mit Ukulele, Klarinette, Mandoline und Trompete zu „Gulag Orkestar“, seinem gefeierten Debütalbum. Er spielte Jahrhunderte alte Klänge aus Puszta und Balkan mit ihrem nostalgischen Flair von darbender Armut und emotionalem Sentiment, mit ihrer tiefen Spiritualität und einer Unzahl von überlieferten Volksmusikweisen.

Das warf bei einigen die Frage nach der „Rechtmäßigkeit“ dieses Klanges auf. Beirut entwurzelte ihn, riss ihn aus seinem lokalen Kontext und seinen Traditionen. Er tat es mit Leidenschaft, mit Liebe zu diesem klanglichen Muff, der schmachtend-larmoyanten Selbstbemitleidung in der südosteuropäischen Folklore. Einige verachteten seine Version als „fake“, man solle doch einfach die Originale hören, andere erfreuten sich einfach an dem Klang, der für kurze Zeit und heute noch mit diversen „Balkanbeats“ nachhallend einen neuen Akzent im Diskurspop gesetzt hatte.

„The Rip Tide“ ist nun sein drittes Album und vermag an der Grundkonzeption nicht sonderlich zu rütteln. Beirut ist weiterhin Zach Condons globales Dorf, sein musikalischer Melting Pot – mit Vorliebe für triefende Seelen, diese spezielle Rhythmik des Balkans und ungebändigtes Temperament. Eingängiger und poppiger als zuletzt beginnt es, „A Candle’s Fire“ schunkelt mit Melodika und verbeulten Trompeten über die Straße und ist ein leichtfüßiger Opener. „Santa Fe“ traut sich mit einem digitalen Beat ein wenig auffälliger auf neues Terrain, aber letztlich ist es die dunkelbrüchige Stimme Zach Condons, die hier alles zusammenhält und einen umwerfend hohen Grad an Wiederkennbarkeit generiert. Egal, ob mit Schellenkranz-Schlagwerk im Hintergrund agiert wird oder gleich eine komplette Orgel im Studio parkt. Beirut-typisch bleibt es vorwiegend akustisch und hochmelodiös. Die Single „East Harlem“ reiht sich in eine Vielzahl von Mini-Hits ein, die trotz ähnlichförmiger Machart doch ihre Besonderheiten wahren. Der Marsch von „Payne’s Bay“, die Umschwünge samt Spinett bei „Vagabond“ oder die zehrende Melancholie bei „Goshen“ beispielsweise, mit denen „The Rip Tide“ das etwas schwächere Zweitwerk vergessen macht, auch wenn die dramatischen, innerlich zerbrochen Titel von „Gulag Orkestar“ unerreicht bleiben.

Zach Condon nimmt sich weiterhin alle musikkulturellen Freiheiten. Und wer tatsächlich mit Argumenten der zu wahrenden Authentizität dagegen argumentiert, sollte sich zunächst einmal den cineastischen Bildern hingeben, die „The Rip Tide“ produziert. Die musikalische Gestaltungskraft wirkt nämlich ganz unabhängig davon.

74

Label: Pompeii

Referenzen: A Hawk & A Hacksaw, DeVotchka, Black Ox Orkestar, Calexico, Neutral Milk Hotel, Fanfarlo, Andrew Bird

Links: Homepage | Myspace | Albumstream

VÖ: 26.08.2011

2 Kommentare zu “Beirut – The Rip Tide”

  1. […] The War On Drugs, Laura Marling und The Antlers nahe, doch auch etablierte wie Wilco, Feist oder Beirut wussten durchaus zu […]

  2. […] Dessner von The National auf „Tramp“ zum ersten Mal ein Produzent seine Finger im Spiel. Auch Zach Condon und Wye Oaks Jenn Wasner haben sich auf Sharon Van Ettens Gästeliste gedrängelt. So versprüht […]

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