Nathan (I): Bahn und Lärm, Kopfhörer und Neid

Mit der S-Bahn für ein paar Besorgungen durch die Stadt und während der Fahrt ein wenig Lektüre. Oder aber Musik hören, bis nach Altona wären das immerhin vier oder fünf Lieder. Dann im Supermarkt kurz die Musik aus, sonst kommt man ja doch nicht zurecht, und anschließend geht’s weiter. „Und überhaupt“, dachte Nathan, „wann sonst kommt man zum Musikhören?“

Und weil man ansonsten eher selten dazu kam oder sich ständig dabei ablenken ließ, nutzte er gerne jeden Vorwand, um ein wenig umher zu laufen, er lief lieber noch als Fahrrad zu fahren. Kopfhörer und Fahrrad, diese Verbindung flößte ihm Furcht ein. Besonders brisant erschien sie ihm bei Künstlern wie Andreas Dorau. Wenn man da nicht auf den Text hörte, was erklang dann schon mehr als ein paar putzige Melodien offensichtlich eher verspielter als ambitionierter Herkunft und eine Stimme, deren Reiz man den meisten Mitmenschen nie klar machen könnte? Nichts weiter, und gerade gab es dessen „Todesmelodien“.

Ein Album mit einem solchen Titel wollte gehört und nicht von einer reizlosen, aber aus Sicherheitsgründen zu beachtenden Umwelt verdrängt werden.

Allerorten stand irgendein mal mehr, mal weniger hässliches Gebäude, das mal mehr, mal weniger hässliche Funktionen erfüllte und eine Menge Menschen dazu brachte, sich auf den Radwegen und um sie herum fortzubewegen. Auch diese Leute waren mal mehr, mal weniger hässlich. Nathan betrachtete sie gern, die Menschen, und wenn er ehrlich war, schaute er ihnen manchmal sogar hinterher, zumindest einigen von ihnen. Aber man müsste aufpassen, nicht schauen, wenn man denn Rad fahren würde.

Jetzt gerade saß er in der Bahn. Da alle saßen und sich niemand eigenmächtig bewegte, wäre ein Hinterherschauen zum Stieren geworden, und Stieren kommt kurz vorm Wahnsinn. Nicht zwangsläufig dem eigenen. Angestierte Menschen halten es für nötig, fuchsig zu werden, was man ihnen nicht verdenken kann. Die Alternativen zu erbosten Reaktionen sind rar, ja geradezu mythischer Natur und stammen aus dem Plot blöder Serien und minderwertiger Erotik- oder Liebesfilme, beides beinahe identische Gifte. Bäh. Und nochmals bäh, denn es war zu laut, die Bahn war zu laut, im Tunnel lauter noch als im Freien, und da die S-Bahn in Hamburg bevorzugt durch Tunnel fährt, war es fast immer lauter.

dorau_todesmelodienWas gab der Herr Dorau denn von sich? Sicher kluge Sachen, mag sein, dass es sogar erhabene waren. Als Nathan aus der Bahn stieg und sie besser erfassen konnte, schien sich das zu bewahrheiten. Ihm wurde ans Herz gelegt, seinen Neid zu akzeptieren, sich ihm zu stellen, denn wenn er ihn verstünde, würde es ihm besser gehen.

Ach, neidisch … Nein, neidisch war er an einem solchen Tag wie heute nicht, immerhin ging er in den Supermarkt, kaufte sich Sekt, eine Flasche Zitronenlimonade („Die beste der Welt, wirklich!“) und für den morgigen Tag im Park „Robby Bubble Kindersekt“. Dazu noch sinnlos scharfe Wasabi-Knabbereien, und nein, er würde nicht neiden, niemandem nichts neiden. Bessere Kopfhörer vielleicht, doch was soll’s, der Sekt war für heute. Lecker!

Draußen dann wieder Musik, trotz der vielen Nebengeräusche. Ein wenig bessere Kopfhörer könnte er gebrauchen, ja, das wäre etwas. Da liefen die ganzen Menschen mit ihren bunten Headphones ohne Anführungsstriche herum und hörten Playlists … wie schlimm. Er kam sich ihnen gegenüber ein wenig schäbig vor, mit diesen kleinen In-Ear-Stöpseln … ach, was soll’s, bei ihm lief immerhin das bessere Album.

Wie ging’s nun weiter? „Du hast zwar eine schöne Höhle / doch Deine Seele, die ist schwarz (…) Du bist glatt und oberflächlich / man hört Dir selten länger zu (…) Du bist Single / man nennt Dich Single / und dein Leben dreht sich im Kreis“, vielen Dank auch. Nun, er sang es doch nicht für ihn, Nathan, aber mussten sich die Menschen mit dem farbigen Ohrenschmuck Ähnliches anhören? Er würde es ihnen nicht neiden.

“Todesmelodien” von Andres Dorau ist auf Staatsakt erschienen.

Ein Kommentar zu “Nathan (I): Bahn und Lärm, Kopfhörer und Neid”

  1. Sehr gut getroffen, genau so schleichend ist mir das mit genau dieser Platte beim Plattenkauf passiert wo das Album im Hintergrund lief. Da blätterte ich gemütlich durch irgendwelchen Experimentalvinylkram, als sich irgendwann aus dieser anfangs gar nicht richtig wahrgenommenen Musik der Text des „Single“ ins Ohr schlich und ein bis zwei Lächeln hervorrief. Wüsste ich’s nicht besser, würde ich glatt glauben, du hättest mir über die Schulter geguckt.

Einen Kommentar hinterlassen

Platten kaufen Links Impressum