CasperXOXO

Es war eine ungewöhnliche Situation, in der sich Casper befand. Bevor er sein Album fertiggestellt, ja begonnen hatte, war sein Durchbruch schon fast beschlossene Sache. Er sollte „The next big thing“ werden. Ein in den Ansätzen tolles Debütalbum, eine riesige Fanbase inklusive 30.000 Facebookfreunde aus allen Lagern und seine eigenen Vorsätze deuteten schon im Voraus auf den jetzigen Hype hin, doch wer Casper und die heutige Jugend ein bisschen kennt, der wusste auch so, dass Casper höchstwahrscheinlich mit seinem neuen Album genau den Nerv der Zeit treffen würde.

Auf dem Album, welches nach monatelanger Verzögerungen schließlich als „XOXO“ sogar schon im Vorverkauf vergriffen sein sollte, haben die Erwartungen deutlich ihre Spuren hinterlassen. Casper versucht, das abzuliefern, was man von ihm verlangt: Er will einen Zeitgeist einfangen, Sprachrohr für die Jugend sein, zudem will er die scheinbar gespaltenen Lager Hip Hop und Indie vereinend zusammenführen. Folglich arbeitet Casper thematisch die gesamte Coming-of-Age-Palette ab: Alltagstrott, jugendliches Slackertum, One-Night-Stands, Außenseitertum, Rebellion – kaum ein klischeehaftes Thema wird ausgelassen. Um Gitarrenmusik ins Spiel zu bringen, werden ein paar Namen in die Texte gestreut (Springsteen, Kobain, Morrison) und musikalisch Elemente von Rock, Pop und Hip Hop vermengt, was zumindest für den deutschen Hip Hop eine halbe Innovation darstellt, international aber ein alter Hut ist. Die Essenz bleibt jedoch immer Hip Hop, kein verwachsener Crossover.

Und damit lassen sich nicht nur die Massen (das Album entert auf Platz 1 die Charts), sondern auch die Feuilletons großer Zeitungen begeistern? Nach Bedeutung heischende, klischeehafte Texte, pseudoinnovative Musik, und das ganze auch noch so pathetisch wie ein Tomte-Song? Oberflächlich kann man dies so sehen. Aber viel wichtiger als die Themen ist die Stimmung, viel relevanter als die Texte sind Sprache und Vortrag des Künstlers und viel bedeutender als Innovation ist der Sound der Platte, dessen Samples breit gestreut den Untergrund einfangen. Nicht nur das Pathos hat Casper mit Thees Uhlmann gemein, sondern auch die Eigenschaft, anstatt ein genialistisches Talent zu besitzen, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. 2011 ist Casper an der Reihe, Zenit zu buchstabieren.

Was in diesem Album beschrieben wird, ist, wie es sich anfühlt, gemeinsam Billigwein an Bushaltestellen zu trinken, das Pläne schmieden in der Jugend, die Träume verblassen sehen wenn man älter wird, das gemeinsame Herumziehen durch die Heimatstadt. „Fuck for school!, steht an der Bushaltestelle geschmiert / in falschem Englisch mit Plus-Markt-Edding verschmiert / Vom Regen daneben seit ewig schon wir / hängen ab Tag und Nacht, die letzte Gang der Stadt.“ Aber Texte zu zitieren, ist an dieser Stelle eigentlich gar nicht sinnbringend.

Denn aus dem Albenzusammenhang gerissen würden die Texte unter Wert verkauft. „XOXO“ hat seine eigene Sprache und eine ganz eigene Klangfärbung, die sich durch das ganze Werk zieht, meist subtil schleichend bedrohlich wirkt. Durch eine präzise Produktion und eine eigene Band im Hintergrund gewinnt „XOXO“ allerdings eine einzigartige Klangwelt, in der viel Mühe und akribische Arbeit steckt. Diese zeigt sich mal in stampfenden Beats („Blut Sehen“), mal in melodischeren Songs wie dem Titeltrack, in dem passend zu Tomte-Gitarren Thees Uhlmann den Refrain singt. Seine Perfektion erreicht das Ganze im Song „Alaska“. Ein Thema ist in diesem Song nur schwer fassbar und entsprechend können Textpassagen von unglaublicher Kraft entstehen, die sich auch ohne Bedenken zitieren lassen: „Aus dem Bergeversetzen wurd‘ ein Meer von Komplexen / Im Verbergen ansetzen, ein Wettbewerb im Verletzen / Vorm gekehrten der letzten Scherben im Haus / Willst du zuhören, doch Schmetterlinge sterben so laut.“

Ebenso stark ist das finale „Kontrolle/Schlaf“, in dem Casper einem ähnlich assoziativen Ansatz beim Texten folgt und dabei viele Motive wieder aufgreift. So entsteht ein Song, in dem man die „bittersüße Melancholie“ des Albums am besten spüren kann. Das zurückhaltende und gefühlvolle Arrangement tut sein Übriges, zugleich einen perfekten Abschluss zu schaffen und Vorfreude auf das nächste Werk zu bereiten, welches sich hoffentlich an Stücken wie diesem orientieren wird. Hervorgehoben sei auch Caspers Stimme, die er sich in seiner Zeit als Hardcore-Punk-Sänger „kaputt“ machte und die ihn als Künstler am stärksten charakterisiert. Rau und kraftvoll bringt sie die Portion Rebellion ein, die den Pathos des Sprechgesangs ungeschehen, nein, sogar zu einer Stärke seiner Musik werden lässt.

Was die Wertung angeht, werden in diesem Jahr sicher noch viele bessere Platten erscheinen. Viele werden auch klügere Weisheiten bieten, als Casper zum Beispiel in „Das Grizzly-Lied“ verkündet: „Es wäre heute nicht wie es ist, wäre es damals nicht gewesen wie es war / Der Sinn des Lebens ist leben.“ Aber vermutlich wird es kein Album schaffen, das Lebensgefühl einer Generation so punktgenau zu treffen. Casper ist weniger für den Hip Hop, als vielmehr für eine Jugend wichtig, die sich nach einem gemeinsamen Idol sehnt.

74

Label: Four Music

Referenzen: Materia, Maeckes, Eyedea & Abilities, Tomte

Links: Homepage | Facebook

VÖ: 08.07.2011

6 Kommentare zu “Casper – XOXO”

  1. ben sagt:

    was ich bei keiner einzigen rezension des casper-albums verstehe, diese kopf- und haltlose these kommt auch in echt vielen vor, ist, wie sich da „das Lebensgefühl einer Generation“ herbeigesponnen wird. was soll das bitte genau sein, klischees von emo-kids und koma-saufen, klar klar…die junge generation steht kurz vorm selbstmord. schöne erfindung der medien, die auch nicht wahrer wird, je öffter man es wiederholt.
    ich mag die songs nicht besonders, schätze aber nach wie vor caspers skillz beim rappen, deshalb würde ich persönlich 60% geben.

    und als netten, erfrischenden anti-artikel diesen hier empfehlen…
    http://www.welt.de/print/die_welt/kultur/article13496874/So-ein-netter-Junge.html

    stimme da natürlich auch nicht in allen sachen überein, aber es ist eine nette abwechslung zu der welle an superlativen, die dieses album in meinen augen nicht verdient hat…

  2. Bastian sagt:

    Der Welt-Artikel ist leider noch viel blöder und gewollt provokativer als Caspers unendlicher Pathos, bzw. die Art und Weise wie er als Rebell und Retter deutschen Hip Hops vermarktet wird. Der einzig treffende Artikel, den ich bisher dazu lesen konnte, ist der hier:
    http://www.freitag.de/kultur/1127-anti-alles.-fuer-immer.-ganz-schmerzfrei

  3. Jan sagt:

    Ja, guter Artikel vom Freitag, wobei ich dieses „Tut niemandem Weh“-Floskel schwach finde. Seit den 60ern tut Popmusik niewmandem mehr weh, das ist nur eins dieser Totschlagargumente um etwas als harmlos (bedeutungslos) darzustellen. Aber nichtsdestotrotz trifft es die Sache ganz gut.

  4. […] weit, so plänkelnd. Und dann kommt der Rapper Casper auf einmal daher und zitiert Jay-Z auf komische Art und Weise. Das verstehe, wer sich über Zeilen […]

  5. […] weniger Einigkeit herrschte jedoch in den Kommentaren zu Thees Uhlmann, auch zu Casper waren die Meinungen gespalten. Dass sich KünstlerInnen vielleicht am besten abseits solcher […]

  6. Niko sagt:

    dagegen muss ich sprechen. ich würde casper nicht als „retter“ des hip-hops bezeichnen aber ich finde, dass er texte bringt, die zum nachdenken anregen und er nicht wie viele andere deutsche rapper „meine mutter f***** will“ oder die ganze zeit „alta“ sagt und das ist schon etwas besonderes.

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