Die neue Seltsamkeit. Ein Abschied

Einige Alben verbinden sich so stark mit unserem Leben, dass sie als Metapher für Erlebnisse, Stimmungen, ja vielleicht sogar Lebensphasen herhalten können. Es folgt eine assoziativ mit dem Album „K.O.O.K.“ der Band Tocotronic verbundene Kurzgeschichte.

Sicher gibt es ein Morgen, immer wieder gibt es das, und Morgen wird wie heute sein, gewiss. Das Schlimme aber: es wird dennoch ein Morgen sein, nur eben wie Heute, nicht gleich dem Heute, sondern wie und somit wesensloser als eine bloße Wiederholung. Da kann sich noch so viel ereignet haben und getan worden sein, am Ende des Tages wird das Morgen sein wie Heute, als man etwas tat und tun wollte.
Vor gut einem Jahr setzte angesichts dessen meine große Ratlosigkeit ein, vielleicht auch schon eher, die Verzweiflung aber kam später, und sie brachte mir einen Geist.
Von da an konnte ich nicht mehr in Deiner Angst leben, obwohl Du es sehr gut verstanden hattest, sie zur Zierde unserer Räume zu machen. Dort herrschte nicht die sich mehrende Dürftigkeit der Stammkneipen und unbeholfen lärmender Vergnügungen, sondern eine belauerte Fülle. Die Gemütlichkeit musste vor jedem Riss geschützt, mit einem jedem Bissen folgenden sprachlosen, zufriedenen Kauen bestätigt werden. Danach galt es, fröhlich und entspannt Erklärungen über den gemütlichen Geruch und Geschmack unseres Lebens abgegeben.
Wer wie Du glaubt, dass Böse ließe sich von irgendeinem Ort ausschließen, ist überzeugt,  es würde nur  wissentlich von Menschen in die Häuser getragen werden. Vermeide man aber die Bekanntschaft mit ihm, so könne man es unmöglich verbreiten, guter Wille war Dein Schutz und Deine Wehr, Wörter wurden zu Schanzen aufgeworden. Im Manöver friedlicher Gespräche sollte Wohlwollen das Kommando über Sehnsüchte führen, zu deren Erfüllung uns aber nur das zurückgelassene Böse verhelfen kann. Wer sich aber in Genügsamkeit bescheidet, braucht nicht viel, um glücklich zu sein, muss nur akzeptieren und den Frieden wahren, es an andere Stelle gewähren lassen, auch, wenn das Schlechte in der Welt so über uns, durch uns hereinbricht. Immer wieder zeigen wir ihm durch unsere Flucht neue Wege

Das konnte ich nicht wollen. Jeden Morgen saß der Geist, mein Geist, auf dem Schuhregal, was ziemlich frech war, da ja eigentlich kein Körper dort sein kann, wo bereits ein anderer ist, das hat man mich in der Schule gelehrt, und doch standen dort nicht nur Schuhe, in und auf und um sie herum befand sich der Geist, beinahe spaßhaft die Schnürsenkel nachahmend.  Mit dem ersten Lidschlag fiel mir täglich wieder ein: das Wissen um das Ende der Nacht war nicht der Morgen, es war ein zu erhoffendes Geschenk und wollte in Abwesenheit ersehnt werden, nicht hier. Doch abkömmlich war ich nicht, durfte ich doch nicht weg aus der Gemeinschaft zweier Menschen, verpflichtet zur Aufrechterhaltung des Friedens konnte ich mich unmöglich entfernen. Wenn ich aus dem Haus trat graute es mir immer wieder vor der längst beschlossenen Heimkehr.
Der Geist war, ohne mich zu verfolgen, immer bei mir. Ich kam einfach nicht von der Stelle, das war alles. Ich verließ das Haus,  kein Schritt brachte mich voran, es war nur ein Ausweichen. Treppenhaus, Mülltonne, Hecke, Straße Treppe Bahn Treppe Bus Treppe Gang Bahn, immer, wenn ich einen Fuß auf den Boden setzte, war das ein Komma, notwendig, aber eben ohne Sinn, nur Form. Überhaupt floss mein Handeln ja nur als Satzzeichen in die Reden der anderen ein, ich schwieg und begann oft ihr Schweigen,  immer dann, wenn ich meine Stille brach. Wie hätte ich da meinen Geist meiden sollen?  Er unterrichtete mich still und leicht schadenfroh, reicherte mich so an mit der Schwere dunkler Gedanken, in deren trockener Schwärze ich meine Wurzeln trieb.
Wie man mit meiner Seltsamkeit aber umgehen sollte, wusstest Du nicht, wolltest Du nicht wissen, Du konntest es nicht hinnehmen, jeden Abend warst Du zu müde für Gedanken, fürsorglich Geld sparen könne man, und Du wusstest, dass es nicht schön sei, allein zu sein, man auf jeden Fall zusammen bleiben müsse.

Ach, wie sollte das gehen? Zwischen uns stand ein Nebel, selbst im Licht sonniger Tage, und nur mein Geist hatte  Konturen, er flog gemeinsam mit Straßen Bäumen Wegen Kies Asphalt Kioskbude Ampel Straßen Bahn Haus an mir vorbei durch sein dunkles Königreich, ich wich nur aus.

Warum dann noch das Haus verlassen. Die Grenzen sind fließend, und ich war mir nicht mehr sicher, würden wir verweilen, wir beide, oder nur ich und der Geist. Vielleicht gab es aber auch nie ein anderes wir als das jetzige, nur den Geist und mich.

„K.O.O.K.“ von Tocotronic erschien 1999 via L’age d’or / Bildrechte: Andy Denzler (Portfolio hier)

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