Arcade FireReflektor
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Label:
Vertigo Berlin
VÖ:
25.10.2013
Referenzen:
Talking Heads, David Bowie, LCD Soundsystem, Brian Eno, U2
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Autor: |
Kevin Holtmann |
Die Zusammenkunft der beiden Songschreiber, die die 00er-Jahre so sehr geprägt haben dürften wie kaum jemand anders, wurde in den letzten Monaten leidenschaftlich diskutiert. Win Butler, Kopf der aktuell vermutlich größten Rockband des Planeten, und James Murphy, der Zeremonienmeister, unter dessen Leitung Electronica und Rock zu einem schlüssigen Amalgam verschmolzen, besiegelten mit ihrer Kooperation für die vierte Platte von Arcade Fire die wohl derzeit größtmöglich denkbare Kollaboration im Indie-Rock. Würde der vormalige LCD-Soundsystem-Chef Murphy dem kanadischen Kollektiv einen tanzbaren Clubsound verpassen? Oder bleiben Butler und Co. ihrem wehmütigen Classic Rock treu, den sie auf ihrer letzten Platte „The Suburbs“ so perfektionistisch kultivierten?
Diese Fragen können und sollen letztendlich gar nicht beantwortet werden. „Reflektor“ ist eine spannende Angelegenheit, gerade auch weil die Befürchtungen, Vorahnungen oder freudvollen Erwartungen mit spielerischer Leichtigkeit pulverisiert werden. Arcade Fire tragen hier 75 Minuten Musik zusammen, die in ihrer Einzigartigkeit so nicht zu erwarten war. Sie installieren einen Klang, der den Hörer herausfordert, kitzelt und schlussendlich die alles entscheidende Frage stellt: „Bist Du bereit für einen Trip, der Rock und Elektronik, Vergangenheit und Zukunft, Licht und Dunkel vereint?“
Im Bezug auf Arcade Fire werden gerne Superlative verwendet und manchem mag das schon immer spanisch vorgekommen sein, doch welcher Band gelang es mit solch traumwandlerischer Sicherheit, musikhistorische Referenzen so klug zu verknoten, ohne letztlich nur zu klingen wie die Kopie einer Kopie einer Kopie? Dort wo Butler, Régine Chassagne und Co. hinlangen, entsteht etwas Charakteristisches, etwas Eigenständiges; Musik, die irgendwann vielleicht von den Enkeln gehört wird, die sich dann in Gedanken ausmalen, wie es damals gewesen sein muss, im Jahr 2013, als der große James Murphy mit den nicht minder großen Arcade Fire zusammenging, um „Reflektor“ entstehen zu lassen.
„Reflektor“ ist bereits ob seiner schieren Wucht ein Mammutwerk, doch sobald man sich einmal komplett hineingearbeitet hat in dieses epochal anmutende Panoptikum aus klassischem Indie-Rock, somnambulen Discoklängen, karibischen Einflüssen, Ambientpassagen und weiteren Einfällen, sobald man also einmal den Eintritt gezahlt hat, möchte man nicht mehr hinaus. Unendlicher Spaß im Zauberberg dieser musikalischen Abschaffung aller Genres. Dass man dabei nicht immer den roten Faden sieht, den Butler textlich wohl ohnehin gar nicht spannt? Geschenkt.
Die Platte beginnt mit dem nervösen „Reflektor“, einer Nummer, die ein äußerst spaciges Verständnis von Disco mitbringt, die aber letzten Endes höchst infektiös ist und der man die stolzen siebeneinhalb Minuten auch nicht anmerkt. Auch aus dem Albumkontext heraus gelöst funktioniert eben diese Nummer als ein höchst dichtes, genial komponiertes Stück am Rande des Wahnsinns. Mit dem folgenden „We Exist“ drehen Arcade Fire weitere Runden in der Rollschuhdisco der Weitsichtigkeit. Das mit seiner karibischen Rhythmik vielleicht etwas aus dem Rahmen fallende „Flashbulb Eyes“ bereitet perfekt auf einen der definitiven Karrierehöhepunkte Arcade Fires vor: „Here Comes The Night Time“. Mit seiner dubbigen Grundstimmung ist es eines der Herzstücke von „Reflektor“ und verhandelt dabei eine Frage, die man sich wohl selbst als Musikliebhaber so noch nicht gestellt hat, die aber sicherlich berechtigt ist: „If there’s no music up in heaven/ Then what’s it for?“
Dass Arcade Fire bei all den neuen Einflüssen und vielfältigen Einfällen nicht verlernt haben, klassische Rocksongs zu schreiben, stellen sie mit „Normal Person“ unter Beweis, einer Nummer, die das Gitarrenriff wieder zum König aller musikalischen Handgriffe krönt. „You Already Know“ ist einer der typischsten Butler-Songs, der in seiner dringlichen Unbestimmtheit auch ganz wunderbar auf die letzte Platte gepasst hätte. Die erste Hälfte dieses Doppelalbums wird von „Joan Of Arc“ beschlossen, einer wahnsinnig intensiven Hymne, die allegorisch die Geschichte von Jeanne d’Arc ins Private übersetzt: „Tu dis que tu est mon juge/ Mais je ne te crois pas/ Alors tu dis que je suis une sainte/ Mais ce n’est pas moi.“
Die zweite Albumhälfte beginnt mit einer Reprise von „Here Comes The Night Time“ und leitet dann über in „Awful Sound (Oh Eurydice)“. Hier – wie auch im folgenden, korrespondierenden „It’s Never Over (Oh Orpheus)“ – wird die Geschichte von Orpheus und Eurydike nacherzählt und in die Jetztzeit transferiert. Disco-Rock, Glam und Ambient werden zu Mitteln, um Eintritt ins Elysium zu erhalten.
Erheblich weltlicher hingegen ist der softe Schleicher „Porno“, der seinem Titel auch soundästhetisch alle Ehre macht, textlich aber sicherlich das eine oder andere Fragezeichen setzt. Nichtsdestoweniger ist auch dieser Song stark arrangiert und baut im Laufe der gut sechs Minuten eine unheimliche Spannung auf, die sich nie so recht löst. Die Platte wird letztendlich mit dem Funk-infizierten „Afterlife“ und der überlebensgroßen Ambient-Space-Nummer „Supersymmetry“ beendet, die in eine fünfminütige Coda übergeht, die einen ratlos aber gelindert zurücklässt. Traum oder Wirklichkeit? Nicht ganz klar. Vorab formulierte Erwartungen? Im Kern ihrer Existenz zerstäubt und in der paralysierenden Welt von „Reflektor“ verstreut.
Toller Text, Kevin. So ziemlich genau die Platte, die ich mir von der Kombo erhofft habe. Da passiert so viel. Und viel gleichzeitig, das wird nie langweilig.
Bisherige Lieblingsstelle des Albums:
„It seems so important now / But you will get over
Seems like a big deal now / But you will get over
[…]
It’s never over, it’s never over…“
Die von Pascal genannte Stelle ist bisher auch mein Highlight der Platte.
Schöne Rezension und auch eine passende Wertung. Für den ganz hohen Bereich fallen für mich dann ein bis zwei Stücke doch ein bisschen zu sehr ab.
Beste Rezension, die ich bislang zu dem Album gelesen habe. Obwohl ich mit der Platte bisher nur so halb warm geworden bin, habe ich nach Lesen des Textes sofort Lust, sie wieder aufzulegen. Danke dafür!