Der Liedschatten (115)Kitschig, aber nicht verwerflich

The Sweet: „Co-Co“, August – Oktober 1971
Das eigene Unverständnis hat nicht zwangsläufig etwas mit der unverstandenen Sache zu tun. Ein Beispiel: Glam Rock habe ich nie wirklich verstanden.
Gesehen habe ich ihn, oder besser gesagt das Äußere seiner Interpreten, schon, die einzig oder vor allem ihm eigenen musikalischen Merkmale blieben mir bisher allerdings verborgen. Was aber sagt das über den Glam Rock aus? Nichts, nur wäre ich beinahe der Versuchung unterlegen, aus meinem fehlenden Wissen den Schluss zu ziehen, es gäbe gar nichts zu erfahren. Dabei dürfte genau das Gegenteil der Fall sein. Nur „Transformer“ von Lou Reed und Bowies „Hunky Dory“ zu besitzen, qualifiziert nicht unbedingt zum Bagatellisieren eines ganzen Genres. Ich sollte mich also noch einmal näher mit ihm befassen, und das nicht nur, sondern auch, weil wir heute zum ersten Mal auf die Bubblegum- beziehungsweise Glam-Rock-Band The Sweet treffen werden.
Der Begriff „Bubblegum Pop“ wurde für die Musik virtueller Künstler und Bands gebraucht, die gemäß den vermuteten Vorlieben einer recht jungen Zielgruppe entworfen wurden. In den 1960ern waren das unter anderem The Monkees („I’m A Believer“) oder The Archies („Sugar Sugar“). Ihre Lieder waren eingängig und beschwingt, die Texte naiv. Beides wurde meist von nicht zur Band gehörenden Autoren geschrieben und durch Studiomusiker interpretiert. Die Mitglieder der veröffentlichenden Gruppe waren dabei nicht mehr als gecastete Darsteller, im Fall der Archies sogar nur Zeichentrickfiguren. Dadurch wirkte das Genre nicht nur arg unschuldig, sondern schlimmstenfalls etwas albern.
Vom Glam Rock lässt sich das nur bedingt sagen. Albern mochte er gewirkt haben, mit kindlicher Unwissenheit hatte er aber wenig zu tun. Seine Vertreter spielten mit dem tradierten Wissen über die vermeintlich festgeschriebenen Rollen des männlichen und weiblichen Geschlechts. Ihr nach damaligen Maßstäben geradezu amoralisches Auftreten als androgyne, dem herkömmlichen Leben und Lieben enthobene Wesenheiten mit Federboa und Schminke mag sicher auch Kindern gefallen haben, wirklich reizvoll wird es aber erst für ein eher schon jugendliches Publikum gewesen sein.
Beide Genres sind also auf recht unterschiedliche Art und Weise verspielt: der Bubblegum Pop als kalkulierte, ins Unwirkliche spielende Naivität, der Glam Rock als Travestie. Wenn der Pop der Archies in etwa den unterstellten Anforderungen des Publikums einfach genügte, so setzte sich der Glam Rock über sie hinweg, zumindest so lange, bis er sie umgeformt hatte und eine Mode begründete, laut der musizierende Männer sich schminkten. Deshalb konnte ein Merkmal wie „Mann mit Make-up“ möglicherweise einst vorhandene Anliegen wie die Propagierung einer liberalen Sexualität ersetzen und eine Band wie The Sweet eine Glam-Rock-Gruppe sein, obwohl sie nichts anderes als Bubblegum Pop spielte.
Wer in „authentische Rockmusik“ mehr als eine absatzfördernde Phrase sieht, vermag sich darüber zu entsetzen. Damit fangen wir aber gar nicht erst an, obendrein befinden wir uns noch im Jahr 1971, in dem der selbstverständlich wenig authentische Glam Rock (siehe Bowie als „Ziggy Stardust“ 1972) erst begann, eine Mode zu etablieren, die eben immerhin äußerlich von The Sweet übernommen wurde. Die Band selbst aber spielte erst einmal einfachen, radiofreundlichen Pop wie ihren ersten großen Hit „Co-Co“.
The Sweet: Offenbar war keiner von ihnen Co-Co.
at midnight beneath the stars
‚cause when it comes to dancing
Co-co’s a star
he danced in a ring of fire
that circled the island shore
and as the flames got higher
they’d call for more and more
Hoo-chi-kaka-ho Co-co hoo-chi-kaka-ho Co-co
hoo-chi-kaka-ho go go Co-co
hoo-chi-kaka-ho Co-co hoo-chi-kaka-ho
Co-co
hoo-chi-kaka-ho go go Co-co
Across the silver water
the sound of the island drums
echoing Co-co’s laughter
yeah Co-co’s the one
he moves with the cool of moonlight
under a tropic sky
into the morning sunlight
he’d still hear them cry and cry (…)“,
Und dann folgt das gleichermaßen einlullende wie auch eingängige und enervierende „Hoo-chi-kaka-ho Co-co hoo-chi-kaka-ho Co-co“ bis zum Ende des Songs. Mit „Changes“ von Bowie oder Reeds „Walk On The Wild Side“ hat das wenig zu tun, es erinnert vielmehr an die fröhlichen Lieder der bereits erwähnten Archies oder Ohio Express („Yummy, Yummy, Yummy“).
Titelgebende Person des Liedes ist ein Tänzer namens Co-Co. Er tanzt die ganze Nacht und er tanzt gut, wofür ihn nicht näher benannte Personen schätzen. Dazu spielen die melodischen „island drums“ wirklich catchy und an Calypso erinnernd auf (insbesondere ihr Solo ist recht artig), auch die anderen Percussions lassen kaum Wünsche in Sachen Gefälligkeit offen. Das Szenario ist also sehr klar, Fragen, in etwa „Warum?“ oder „Und danach?“, werden keine aufgeworfen. Wobei, ob der Gesang nun unbedingt so „breezy“ sein muss, ist fraglich. Doch hat das ja nichts mit dem Text dieses Schlagers zu tun, sondern dem Vortrag dieser fragmentarischen Episode aus dem fernen Land der rhythmisch herabfallenden Kokosnüsse mit seinen Hainen voller zauberhaften Buschwerks, an denen luftige Baströckchen reifen und deren Einwohnerschaft nichts anderes begehrt, als beim Wirbeln in dieser urigen Tracht begutachtet zu werden und gerne mal Fünfe gerade sein lässt. Zugegeben, das sind nur unterstellte Assoziationen, die keiner der Käufer, durch die der Song in 15 Ländern auf Platz 1 der der Charts gelangen konnte, teilen musste. Vermutlich bin ich nur durch einige Schlager geschädigt und werde an deren Untaten erinnert, die hier aber gar nicht begangen werden. Zu tanzbarer Musik von einem im romantischen Ambiente tanzenden Menschen singen ist zwar kitschig, jedoch nicht verwerflich. Dafür bedanken werde wenigstens ich mich aber nicht.
Doch „Co-Co“ ist eines der Lieder, deren Eingängigkeit nicht auf Interesse oder Zustimmung angewiesen sind. Geschrieben wurde der Song von Nicky Chinn und Mike Chapman, die insgesamt sieben der acht Nummer-Eins-Hits von The Sweet in den Charts der BRD verfassten. Wir werden also in den kommenden Monaten noch oft Gelegenheit haben, uns näher mit der Band und ihren Songwritern zu befassen.
Noch ein kleiner Hinweis in eigener Sache: Demnächst werden der ebenfalls für auftouren.de schreibende Sebastian Schreck und ich eine Lesung in Hamburg halten. Anlass ist das Erscheinen der ersten Sonderausgabe des Fanzines „Transzendieren Exzess Pop“ am 28. 07. 2013.
