Puh, erst mal durchatmen! „I’mperfect“, das fünfte Studioalbum des japanischen Post-Hardcore-Trios Ling Tosite Sigure, ähnelt einer Verfolgungsjagd, bei der man als Hörer die hakenschlagenden Songs keinen Augenblick aus den Augen lassen darf, um den Anschluss nicht zu verlieren. Inszeniert werden sollte diese 38-minütige Hatz von Michael Bay – mit schnellen Schnitten, vielen Explosionen und einer gehörigen Portion Pathos.

Allerdings kann man es sich nicht mit Popcorn und Bier im Kinosessel gemütlich machen, denn man ist ja selbst Teil dieses nervenaufreibenden Szenarios. Die rhythmisch vertrackten und komplexen Songs von Ling Tosite Sigure (Aussprache: Rin Tosh-teh Shi-goo-reh) verlangen dem Hörer Einiges ab, auch für die drei Bandmitglieder dürften sie eine ziemliche Herausforderung an ihrem jeweiligen Instrument gewesen sein. Der Opener „Beautiful Circus“ wechselt bereits in den ersten sechs Sekunden mehrere Male die Richtung und kommt auch in den folgenden drei Minuten nie wirklich zur Ruhe.

Die neun Songs auf „I’mperfect“ klingen, als hätte sich die Band beim Songwriting nie auf eine gemeinsame Idee einigen können, sodass sie stattdessen immer drei Ideen auf einmal verarbeitet. Jeder Song besteht aus unzähligen musikalischen Versatzstücken, die gleichzeitig ablaufen oder sich in rascher Folge aneinanderreihen. Diese Ereignisdichte erinnert an Touché Amoré und deren Album „Parting The Sea Between Brightness And Me“, nur dass dort lediglich ein einziger Song die Zwei-Minuten-Marke überschreitet und das gesamte Album nur knapp 20 Minuten lang ist. Trotz ähnlicher Komprimiertheit muten Ling Tosite Sigure ihren Hörern fast die doppelte Laufzeit zu.

Hinzu kommt, dass sich Gitarrist Tōru Kitajima und Bassistin Miyoko Nakamura beim Gesang abwechseln und sich in einigen Songs gegenseitig ins Wort fallen, sodass der Gesang die hektische Stimmung der Songs noch verstärkt und diese sogar an mehreren Stellen in Hysterie umkippen lässt. Unangenehmer als die Hysterie sind die musicalartige Affektiertheit, der die beiden bei Songs wie „Filmsick Mystery“ oder „Abnormalize“ verfallen und die Überdosis Pathos, mit der sie die ein oder andere einfallslose Gesangslinie im Refrain überdecken wollen.

Kurz vor Schluss gönnen Ling Tosite Sigure dem Hörer dann doch eine kurze Verschnaufpause: „Kimitooku“ könnte im Vergleich zu den restlichen Songs beinahe als Ballade durchgehen und beweist, dass die Band bei allem technischem Virtuosentum auch etwas von Dramaturgie und Atmosphäre versteht. Die bedrückende Anspannung, die sich während der Strophen aufstaut, entlädt sich im Refrain mit verzweifelten Schreien. So richtig kommen Ling Tosite Sigure danach nicht mehr in Fahrt, das abschließende „Missing Ling“ rockt etwas verhalten und mit angezogener Handbremse vor sich hin. Aber vielleicht wollen sie dem Hörer auch nur die Chance geben, am Ende dieser Hetzjagd wieder etwas Boden gut zu machen.

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